OGH 4Ob145/23m

OGH4Ob145/23m26.4.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi als Vorsitzenden, die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Istjan, LL.M., Dr. Kikinger, Mag. Waldstättenund Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei *, vertreten durch Dr. Fritz Arlamovsky, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei * GmbH, *, vertreten durch die Wiedenbauer Mutz Winkler & Partner Rechtsanwälte GmbH in Klagenfurt am Wörthersee, wegen 11.200,33 EUR sA, über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 4. Mai 2023, GZ 1 R 11/23y‑23, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 27. Oktober 2022, GZ 2 C 118/21y‑19, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0040OB00145.23M.0426.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Wohnungseigentumsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, sodass die Entscheidungeinschließlich des bereits in Rechtskraft erwachsenen Zuspruchs von 4.216,79 EUR lautet:

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen 11.200,33 EUR samt 4 % Zinsen seit 7. 8. 2018 zu zahlen und die mit 3.689,54 EUR (darin 751,80 EUR Barauslagen und 488,89 EUR USt) bestimmten Verfahrenskosten erster Instanz, die mit 1.521,41 EUR (darin 609 EUR Barauslagen und 152,07 EUR USt) bestimmten Verfahrenskosten zweiter Instanz und die mit 1.389,12 EUR (darin 762 EUR Barauslagen und 104,52 EUR USt) bestimmten Verfahrenskosten dritter Instanz zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Beklagte ließ 2009 als Wohnungseigentumsorganisatorin auf einem 1931 errichteten Gebäude einen Dachbodenausbau durchführen. Sie fungierte außerdem als Verwalterin des Gebäudes.

[2] Der Kläger und seine Frau kauften 2009 insgesamt 410/7160 Liegenschaftsanteile, die mit zwei der neu errichteten Dachgeschosswohnungen verbunden waren. Sie erhielten anlässlich des Kaufs kein Gutachten gemäß § 37 Abs 4 WEG 2002 über den Bauzustand der allgemeinen Teile des Hauses, insbesondere über in absehbarer Zeit notwendig werdende Erhaltungsarbeiten.

[3] 2017 zeigten sich Feuchtigkeitsschäden in einigen (der älteren) Wohnungen, die an Balkone angrenzen. Laut einem von der Beklagten eingeholten Gutachten waren diese auf eine Überschreitung der technischen Lebensdauer von Komponenten der Fußbodenaufbauten der Balkone sowie fehlerhafte Anschlüsse des Balkonaufbaus an den Balkontüren zurückzuführen.

[4] Für die Sanierungskosten entnahm die Beklagte 130.000 EUR aus der Rücklage. Außerdem schrieb sie den Wohnungseigentümern Sonderzahlungen vor, von denen insgesamt 4.216,79 EUR auf die Eheleute entfielen. Wie viel die Eheleute für die beiden Dachgeschosswohnungen in die Rücklage eingezahlt hatten, konnte nicht festgestellt werden.

[5] Der Kläger begehrt (zuletzt) 11.200,33 EUR. Mangels Übergabe eines Gutachtens gemäß § 37 Abs 4 WEG 2002 gelte ein Zustand als vereinbart, der bis 23. 12. 2019 keine größeren Erhaltungsarbeiten erfordere. Der Klagsbetrag sei der auf seine Wohnungen entfallende Anteil für die dennoch erforderliche Balkonsanierung.

[6] Die Beklagtebeantragte Klagsabweisung. Es sei zwar richtig, dass der Klagsbetrag dem Anteil der Eheleute an den für die Sanierungskosten entnommenen bzw eingehobenen Beträgen gemäß den Nutzwerten ihrer Wohnungen entspreche. Die Beklagte bestritt jedoch die Aktivlegitimation, wendete Unschlüssigkeit und Verjährung (hinsichtlich eines Teils der Forderungen) ein, sowie dass die Arbeiten nicht der Erhaltung, sondern der Verbesserung gedient hätten. Außerdem bot sie an, den Klagsbetrag in die Rücklage einzuzahlen.

[7] Das Erstgericht gab der Klage nur in Höhe der Sondervorschreibungen von 4.216,79 EUR statt. Dem Kläger stehe vertraglicher Schadenersatz für die ihn treffende Nachschusspflicht zur Rücklage zu. Der darüber hinausgehende Betrag sei dagegen rechnerisch nicht nachvollziehbar.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge, hob das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache an das Erstgericht zurück. Es sei unstrittig, dass der Klagsbetrag der Höhe nach dem Anteil der Eheleute an den Sanierungskosten entspreche. Der Kläger könne als Schadenersatz oder Gewährleistung außer dem Ersatz der Sondervorschreibungen auch eine anteilige Rückerstattung der verbrauchten Rücklage verlangen. Für diesen Teilbetrag von 6.983,54 EUR müsse er jedoch Zahlung in die Rücklage begehren, nicht Zahlung an sich selbst. Diese Rechtsansicht des Berufungsgerichts sei bisher im Verfahren kein Thema gewesen und müsse zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung nun mit den Parteien erörtert werden. Es ließ den Rekurs an den Obersten Gerichtshof zu, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage fehle.

[9] Der Rekurs des Klägersstrebt eine vollständige Klagsstattgebung, in eventu eine Abänderung des Ersturteils an, sodass die Beklagte neben der bereits im Ersturteil enthaltenen Zahlung an den Kläger zu einer Zahlung des restlichen Klagsbetrags an den die Wohnungseigentumsgemeinschaft verpflichtet werde.

[10] Die Beklagte beantragt, dem Rekurs nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[11] Der Rekurs istzulässig und berechtigt.

[12] 1. Die Aktivlegitimation des Klägers aufgrund einer Zession, die Qualifikation der Sanierungsarbeiten als größere Erhaltungsarbeiten und die rechtzeitige Geltendmachung der Ansprüche sind in dritter Instanz unstrittig.

[13] 2. Der Kläger hat Anspruch auf Zahlung des seinem Liegenschaftsanteil entsprechenden Betrags der Sanierungskosten an ihn selbst.

[14] 2.1. Gemäß § 37 Abs 4 WEG 2002 haben die Wohnungseigentumsorganisatoren vor oder mit der Zusage der Einräumung von Wohnungseigentum an Teilen eines Hauses, dessen Baubewilligung zum Zeitpunkt der Zusage älter als 20 Jahre ist, dem Wohnungseigentumsbewerber ein Gutachten eines für den Hochbau zuständigen Ziviltechnikers oder eines allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen für das Hochbauwesen über den Bauzustand der allgemeinen Teile des Hauses, insbesondere über in absehbarer Zeit (ungefähr zehn Jahre) notwendig werdende Erhaltungsarbeiten, zu übergeben. Das Gutachten darf zum Zeitpunkt der Zusage nicht älter als ein Jahr sein und ist in den Kaufvertrag über den Liegenschaftsanteil, an dem Wohnungseigentum erworben werden soll, einzubeziehen. Mit dieser Einbeziehung gilt der im Vertrag beschriebene Bauzustand als bedungene Eigenschaft im Sinn des § 922 Abs 1 ABGB; damit haftet der Wohnungseigentumsorganisator bzw Verkäufer für den beschriebenen Bauzustand. Erfolgt keine Einbeziehung eines solchen Gutachtens in den Kaufvertrag, gilt ein Erhaltungszustand des Hauses als vereinbart, der in den nächsten zehn Jahren keine größeren Erhaltungsarbeiten erfordert.

[15] Dies gilt auch bei sukzessivem Abverkauf von Wohnungen (RS0131184; RS0130866).

[16] 2.2. Nach der Rechtsprechung sollSatz 3 des § 37 Abs 4 WEG 2002 den Wohnungseigentumsbewerber vor der nicht ausreichenden Berücksichtigung der anstehenden Kosten für Erhaltungsmaßnahmen bewahren. Es handelt sich dabei um eine gesetzlich typisierte Gewährleistungspflicht (RS0130865), wobei der Normtext aber weder Vorschriften über den spezifischen Inhalt des normierten Anspruchs noch über dessen Geltendmachung enthält. Für den genauen Inhalt des Anspruchs sind daher die Bestimmungen des ABGB über die Gewährleistung ergänzend heranzuziehen (5 Ob 99/23d Rz 23 mwH).

[17] Wurde – wie im vorliegenden Fall – kein Gutachten in den Kaufvertrag einbezogen, gilt ein Erhaltungszustand des Hauses als vereinbart, der in den nächsten zehn Jahren keine größeren Erhaltungsarbeiten erfordert. Zugesicherte Sacheigenschaft ist damit ein Zustand, der keine größeren Erhaltungsarbeiten innerhalb der Zeitspanne von zehn Jahren erforderlich macht. Insoweit ersetzt das Gesetz die vertragliche Vereinbarung über die Zusicherung eines nicht sofort feststellbaren Zustands des Gebäudes (5 Ob 99/23d Rz 25).

[18] 2.3. Den Wohnungseigentumsorganisator trifft deshalb auch gegenüber einem einzelnen Erwerber die Pflicht, für einen vertragskonformen Zustand der allgemeinen Teile der Liegenschaft in vollem Umfang einzustehen. Er könnte diese Pflicht erfüllen, indem er die allgemeinen Teile der Liegenschaft in vollem Umfang auf seine Kosten saniert. Das Schrifttum lehnt einen solchen Anspruch eines einzelnen Wohnungseigentümers jedoch ab, weil sich damit die Pflicht aller Wohnungseigentümer erübrigen würde, die Erhaltungsmaßnahmen gemäß § 32 WEG 2002 anteilig zu finanzieren – und zwar unabhängig davon, ob diese Wohnungseigentümer ebenfalls vertragliche Ansprüche gegen den Wohnungseigentumsorganisator nach § 37 Abs 4 WEG 2002 auf einen bestimmten Zustand der allgemeinen Teile haben. Der Wohnungseigentumsorganisator ist daher nur zur Tragung jener Kosten verhalten, die anteilig auf seinen vom Schutz des § 37 Abs 4 WEG 2002 erfassten Vertragspartner entfallen (vgl Vonkilch in Hausmann/Vonkilch, Österreichisches Wohnrecht – WEG5 [2017] § 37 WEG Rz 44 mwH). Die herrschende Ansicht billigt dem Käufer daher (nur) den Ersatz der von ihm der Eigentümergemeinschaft zu zahlenden Beträge zu (Kulka, Rechtsfragen bei der Anwendung des § 37 Abs 4 WEG 2002, wobl 2012, 374 [376]).

[19] 2.4. Der sechste Senat des Obersten Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits klargestellt, dass es für den Anspruch des Wohnungseigentümers unbeachtlich ist, ob die binnen zehn Jahren dennoch anfallenden größeren Erhaltungsarbeiten durch eine allenfalls vorhandene Rücklage finanziert werden können. Die „ausgeräumte“ Rücklage ist gemäß § 32 Abs 1 WEG 2002 von den Wohnungseigentümern anteilig wieder aufzufüllen, sodass auch die in weiterer Folge erforderliche (Neu‑)Dotierung der Rücklage den Erwerber genauso massiv und überraschend belasten kann wie eine Sondervorschreibung zur Finanzierung der Erhaltungsarbeiten (vgl 6 Ob 101/18y [Pkt 5.4] mwH).

[20] 2.5. Eine Zahlung des Anteils der Eheleute in die Rücklage (wie vom Berufungsgericht vertreten) wäre im vorliegenden Fall daher nicht ausreichend, um den laut Wohnungsvertrag geschuldeten Zustand herzustellen. Nach den Feststellungen hat sich die Rücklage der Wohnungseigentumsgemeinschaft durch Entnahmen für die im Kaufvertrag nicht avisierten Erhaltungsarbeiten um 130.000 EUR verringert. Dieser Betrag steht daher nicht mehr zur Verfügung, um spätere Erhaltungsarbeiten durchzuführen, die dann auch der Kläger als Mitglied der Wohnungseigentumsgemeinschaft mitzufinanzieren haben wird.

[21] Eine Zahlung der Beklagten von nur 6.983,54 EUR in die Rücklage könnte damit den aus dem Kaufvertrag geschuldeten Zustand nicht herstellen. Es verbliebe noch immer eine „Finanzierungslücke“ von 123.016,46 EUR in der Rücklage, mit denen der Kläger nach dem Inhalt des Kaufvertrags nicht rechnen musste.

[22] Dagegen versetzt die Zahlung von 6.983,54 EUR an den Kläger diesen in die Lage, in Zukunft seinen Beitrag zur „Wiederauffüllung“ der Rücklage durch alle Wohnungseigentümer um die entnommenen 130.000 EUR zu leisten.

[23] 2.6. Entgegen der Ansicht des Erstgerichts und der Beklagten kommt es nicht darauf an, ob und in welcher Höhe die Eheleute seit ihrem Kauf zur Rücklage beigetragen haben.

[24] Richtig ist zwar, dass die Rücklage ein Sondervermögen der Wohnungseigentümergemeinschaft und nicht quotenmäßiges Miteigentum der Liegenschaftseigentümer ist (RS0110524). Mit dem Erwerb der Wohnungen wurden die Eheleute aber Teil der Wohnungseigentümergemeinschaft, sodass dieses Sondervermögen in der damals vorhandenen Höhe (auch) ihnen als Mitglieder der Gemeinschaft zugeordnet wurde. Sie haben mit ihrem Kaufpreis also auch die im Kaufzeitpunkt vorhandene Rücklage der Wohnungseigentümergemeinschaft „mitbezahlt“.

[25] Die Richtigkeit dieser Ansicht ergibt sich auch daraus, dass die Diskrepanz zwischen der geschuldeten und erbrachten Leistung des Wohnungseigentumsorganisators umso größer ist, je früher nach dem Verkauf die Erforderlichkeit von unerwarteten größeren Erhaltungsarbeiten zutage tritt. Je eher dies nach Abschluss des Kaufvertrags geschieht, desto geringer ist aber der Betrag in der Rücklage, den – insbesondere bei sukzessivem Abverkauf – der Käufer schon selbst einbezahlt hat. Hielte man aber die Höhe der Beiträge des Erwerbs zur Rücklage für relevant, hätte der Wohnungseigentumsorganisator gar keine Gewähr zu leisten, wenn schon am Tag nach dem Kauf Sanierungsarbeiten durchgeführt und durch Verbrauch der gesamten Rücklage bezahlt würden.

[26] 2.7. Zusammenfassend gilt daher: Auch wenn größere Erhaltungsarbeiten im Sinn des § 37 Abs 4 WEG 2002 aus der Rücklage finanziert werden können, kann der Wohnungseigentumsbewerber, der kein Gutachten über den Bauzustand der allgemeinen Teile des Hauses, insbesondere über in absehbarer Zeit (ungefähr zehn Jahre) notwendig werdende Erhaltungsarbeiten erhalten hat, den Wohnungseigentumsorganisator auf Zahlung des seiner Wohnung zugeordneten Anteils an den Sanierungskosten in Anspruch nehmen. Er muss nicht die Zahlung in die Rücklage fordern.

[27] 3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Gemäß den Einwendungen der Beklagten war zu berücksichtigen, dass der doppelte Einheitssatz gemäß § 23 Abs 6 RATG für eine Klage nur in jenen Verfahren zusteht, in denen ein bedingter Zahlungsbefehl zu erlassen oder Beantwortung der Klage aufzutragen ist.

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