OGH 7Ob143/23i

OGH7Ob143/23i27.9.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und die Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei D* H*, vertreten durch die Poduschka Partner Anwaltsgesellschaft mbH in Linz, gegen die beklagte Partei U* AG, *, vertreten durch die Themmer Toth & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Feststellung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgerichtvom 20. April 2023, GZ 60 R 28/23g-14, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 24. Jänner 2023, GZ 5 C 398/22y-8, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00143.23I.0927.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 751,92 EUR (darin enthalten 125,32 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Dem Rechtsschutzversicherungsvertrag zwischen der Klägerin als Versicherungsnehmerin und der Beklagten liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz-Versicherung (ARB 2005) zugrunde, die auszugsweise wie folgt lauten:

„Artikel 8

Welche Pflichten hat der Versicherungsnehmer zur Sicherung seines Deckungsanspruches zu beachten? (Obliegenheiten)

1. Verlangt der Versicherungsnehmer Versicherungsschutz, ist er verpflichtet,

1.1. den Versicherer unverzüglich, vollständig und wahrheitsgemäß über die jeweilige Sachlage aufzuklären und ihm alle erforderlichen Unterlagen auf Verlangen vorzulegen;

[...]“

[2] Die Klägerin erwarb am 7. Juli 2016 einen gebrauchten VW Tiguan um 36.440 EUR.

[3] Sie begehrte vorprozessual Deckung für die Geltendmachung eines Ersatzanspruchs gegen die Herstellerin wegen des Kaufs eines Fahrzeugs, dessen Motor mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgeliefert worden sei.

[4] Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 15. Oktober 2021 die Rechtsschutzdeckung ab, weil die beabsichtigte Anspruchsverfolgung nicht vom Versicherungsschutz umfasst sei.

[5] Nach Einbringen der Deckungsklage im August 2022 forderte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom Oktober 2022 auf, ihr Informationen und Unterlagen über den Zustand und Kilometerstand des Fahrzeugs, ob sie das Fahrzeug privat oder beruflich gebrauche und ob es noch existiere, ob sie es zurückstellen könne und in welcher Höhe eine Amortisation eingetreten sei, zu erteilen.

[6] Dieses Schreiben ließ die Klägerin unbeantwortet.

[7] DieKlägerin begehrt die Feststellung der Versicherungsdeckung. Die Beklagte habe für die Geltendmachung eines deliktischen Schadenersatzanspruchs gemäß §§ 874, 1295 ABGB gegen die Herstellerin des PKW Deckung zu gewähren.

[8] Die Beklagte beantragt Klageabweisung. Die beabsichtigte Anspruchsverfolgung sei nicht vom Versicherungsschutz umfasst. Die Rechtsverfolgung sei aussichtslos, weil das Klagebegehren unbestimmt und unschlüssig sowie weil der Klägerin kein Schaden entstanden sei. Außerdem habe dieKlägerin gegen die Aufklärungs- und Informationsobliegenheit gemäß Art 8.1.1. ARB 2005 verstoßen, da sie das Schreiben der Beklagten nicht beantwortet habe.

[9] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Anspruchsverfolgung sei vom Allgemeinen Schadenersatzrechtsschutz umfasst. Da das Vorbringen der Klägerin schlüssig sei und die von der Beklagten relevierten Umstände nicht im Deckungsprozess zu beurteilen seien, bestehe auch hinreichende Aussicht auf Erfolg. Es liege auch keine Obliegenheitsverletzung vor, weil es der Beklagten auf Basis der erteilten Informationen möglich gewesen sei, ihre Leistungspflicht zu prüfen. Mit der Deckungsablehnung habe sie sich der Möglichkeit begeben, die Richtigkeit der Angaben der Klägerin zu überprüfen, ohne dass dieser eine Verletzung ihrer Aufklärungsobliegenheit vorgeworfen werden könne.

[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge und bestätigte das Urteil aus den im Wesentlichen selben Erwägungen wie das Erstgericht.

[11] Die Revision erklärte es nachträglich für zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob der Versicherer auch nach der Deckungsablehnung während des Deckungsprozesses Informationen vom Versicherungsnehmer verlangen könne und ob deren Nichterteilung zu einer Verletzung der Obliegenheit gemäß Art 8.1.1. ARB 2005 führen könne.

[12] Gegen dieses Urteil richtet sich die RevisionderBeklagten mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahin abzuändern, dass das Klagebegehren abgewiesen werde.

[13] Die Klägerin beantragt in ihrerRevisionsbeantwortung, die Revision der Beklagten zurückzuweisen, in eventu ihrnicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[14] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

[15] 1. Die Beklagte beruft sich in der Revision ausschließlich auf die ihrer Ansicht nach auch während des Deckungsprozesses – den die Versicherungsnehmerin infolge Deckungsablehnung der Beklagten führt – weiter bestehende Auskunftsobliegenheit gemäß Art 8.1.1. ARB 2005.

[16] 2.1. Der Versicherungsnehmer hat dem Versicherer zunächst den Eintritt des Versicherungsfalls anzuzeigen (§ 33 VersVG) und dann über Aufforderung des Versicherers weitere Auskünfte und/oder Belege zur Prüfung seiner Leistungspflicht im Sinn des § 34 VersVG zu geben. Das ist die Obliegenheit des Versicherungsnehmers (RS0080203). Der Versicherer kann diejenigen Auskünfte verlangen, die er für notwendig hält, sofern sie für Grund und Umfang seiner Leistung von Bedeutung sein können (RS0080185).

[17] In diesem Sinn ist Art 8.1.1. ARB 2005 auszulegen. Nach ständiger Rechtsprechung zu vergleichbaren Rechtsschutzversicherungsbedingungen hat der Versicherungsnehmer auf seine Kosten seinen Rechtsschutzversicherer vollständig und wahrheitsgemäß über sämtliche Umstände des Versicherungsfalls zu unterrichten, weil es sich dabei um eine auf die Bedürfnisse der Rechtsschutzversicherung zugeschnittene Ausformung der allgemeinen Auskunftsobliegenheit des § 34 Abs 1 VersVG handelt (7 Ob 91/22s; RS0105784). Die Auskünfte und Belege des Versicherungsnehmers sollen den Versicherer in die Lage versetzen, sachgemäße Entscheidungen über die Abwicklung des Versicherungsfalls zu treffen und insbesondere Art und Umfang seiner Leistung möglichst genau und frühzeitig überprüfen zu können (7 Ob 210/14d; RS0080205; RS0080833; RS0080203).

[18] 2.2. Die Auskunftsobliegenheit (§ 34 Abs 1 VersVG; Art 8.1.1. ARB 2008) endet mit der Ablehnung des Entschädigungsanspruchs durch den Versicherer, weil sich das der Vereinbarung zugrundeliegende Ziel, die Leistung des Versicherers zu ermöglichen oder zu erleichtern, danach nicht mehr erreichen lässt. Mit anderen Worten bringt der Versicherer mit der Deckungsablehnung zum Ausdruck, dass er weiterer Auskünfte zur Beurteilung seiner Leistungspflicht nicht mehr bedarf. Dies gilt nach der langjährigen Rechtsprechung freilich nicht, wenn der Versicherer nach der Ablehnung zu erkennen gibt, er lege gleichwohl noch Wert auf Erfüllung der Obliegenheiten, und diese zumutbar erscheint. Das setzt aber, wie der Senat jüngst präzisiert hat, jedenfalls voraus, dass der Versicherer klar macht, inwieweit er noch ein Aufklärungsbedürfnis hat (7 Ob 190/22z mwN).

2.3. In der deutschen Lehre werden folgende Standpunkte vertreten:

[19] 2.3.1. Die Auskunftsobliegenheit besteht mangels Aufklärungsbedürfnisses des Versicherers nicht, wenn und solange der Versicherer eine Leistungspflicht generell ablehnt. Eine generelle Leistungsverweigerung des Versicherers beinhaltet nämlich die Aussage, dass er über seine Leistungspflicht abschließend entschieden hat und deshalb keine Auskünfte mehr benötigt. Mit der endgültigen Leistungsablehnung des Versicherers enden, solange der Versicherer an ihr festhält, die Verhandlungen über eine Entschädigungsleistung, während deren der Versicherer auf Angaben eines redlichen Versicherungsnehmers angewiesen ist. Die Leistungsverweigerung muss nicht ausdrücklich, sondern kann konkludent erfolgen. Dies ist etwa bei einem uneingeschränkten Klageabweisungsantrag der Fall. Der Versicherungsnehmer hat es aber nicht in der Hand, seiner Auskunftsobliegenheit dadurch zu entgehen, dass er durch (verfrühte) Klageerhebung eine (eingeschränkte) Leistungsverweigerung des Versicherers provoziert; in einem Klageabweisungsantrag liegt nämlich dann keine generelle Leistungsverweigerung, wenn der Versicherer die Klageabweisung darauf stützt, dass eine abschließende Klärung der Frage seiner Leistungspflicht mangels hinreichender Aufklärung oder noch ausstehender Auskunftserteilung durch den Versicherungsnehmer noch nicht erfolgen habe können und seine Leistung daher noch nicht fällig sei (Wandt in MünchKommVVG3 § 31 Rn 61 ff mwN; vgl auch Rixecker in Langheid/Rixecker 7 § 31 VVG Rn 20; Piontek in BeckOKVVG16 § 31 Rn 8; Muschner in Rüffer/Halbach/Schimikowski 4 § 31 VVG Rn 7; Armbrüster in Prölss/Martin 31 § 28 VVG Rn 78).

[20] 2.3.2. Die – während des Zeitraums einer definitiven Leistungsablehnung ausgesetzte – Auskunftsobliegenheit des Versicherungsnehmers lebt wieder auf, wenn und sobald der Versicherer von der zuvor erklärten generellen Leistungsverweigerung abrückt und sich hinsichtlich seiner Leistungspflicht wieder prüfbereit zeigt (Wandt in MünchKommVVG3 § 31 Rn 63; Piontek in BeckOKVVG16 § 31 Rn 8). Der Versicherer muss für ein Wiederaufleben der Obliegenheit nach Deckungsablehnung dem Versicherungsnehmer unmissverständlich klarmachen, dass er an der Leistungsablehnung nicht festhalten, sondern erneut in die Leistungsprüfung eintreten und dazu die Regulierungsverhandlungen wieder aufnehmen will. Zudem muss er klarmachen, inwieweit er noch ein Aufklärungsbedürfnis hat (Armbrüster in Prölss/Martin 31 § 28 VVG Rn 78 mwN; Rixecker in Langheid/Rixecker 7 § 31 VVG Rn 20). Die Obliegenheitsbindung kann hierbei auch während eines Rechtsstreits um den Leistungsanspruch wieder eintreten, wenn der Versicherer seine Leistungspflicht im Rechtsstreit dem Grunde nach anerkennt (Piontek in BeckOKVVG16 § 31 Rn 8). Im Übrigen gelten für das Stadium eines Prozesses nur die allgemeinen Grundsätze und nicht die versicherungsrechtlichen Sonderregeln (Knappmann, Versicherungsschutz bei arglistiger Täuschung durch unglaubwürdigen Versicherungsnehmer, NVersZ 2000, 68 [70]; vgl auch BGH IV ZR 172/98, wonach nicht einmal ein arglistig falscher Prozessvortrag des Versicherungsnehmers zur Leistungsfreiheit des Versicherers führt, solange dieser an seiner Leistungsablehnung festhält).

[21] 2.3.3. In Österreich besteht nach Ramharter (in Fenyves/Perner/Riedler [Jänner 2021] § 34 VersVG Rz 41) das Interesse des Versicherers an der Einhaltung gewisser Obliegenheiten „wohl“ auch im Prozess, weil der Umstand, dass nunmehr der Richter und nicht der Versicherer die Leistungspflicht beurteilen müsse, nicht das Informationsungleichgewicht und die besondere Gefahr unrichtiger Aussagen beseitige.

2.4. Dazu hat der Fachsenat erwogen:

[22] 2.4.1. Im vorliegenden Fall führt die Versicherungsnehmerin einen Prozess gegen ihren Rechtsschutzversicherer, weil dieser vorprozessual die Deckung für die von der Versicherungsnehmerin konkret beabsichtigte (aktive) Anspruchsverfolgung mit der Begründung abgelehnt hat, diese sei nicht vom Versicherungsschutz umfasst. Auch im Prozess hat der Versicherer die Deckung aus mehreren konkret bezeichneten Gründen endgültig abgelehnt und eine weitere Überprüfung nicht in Aussicht gestellt. Da die Auskunftsobliegenheit aber dem Zweck dient, dem Versicherer die Prüfung seiner Leistungspflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern, kann er sich auch nur dann auf sie berufen, wenn er eine solche Prüfung beabsichtigt.

[23] Die Berufung des Rechtsschutzversicherers im Deckungsprozess auf eine Auskunftsobliegenheit im Hinblick auf den bereits abgelehnten Deckungsanspruch kann damit nur dem Zweck dienen, Auskünfte über den eigenen Prozessstandpunkt stützende Tatsachen vom klagenden Versicherungsnehmer zu erlangen. Ohne die Absicht, in eine neuerliche Prüfung einzusteigen, dient das Beharren auf für diese Prüfung erforderlichen Auskünften letztlich nur dazu, eine Obliegenheitsverletzung des Versicherungsnehmers zu provozieren. Der Versicherer möchte nicht prüfen, ob er Deckung gewährt, sondern den bereits gefassten Entschluss, keine Deckung zu gewähren, weiter untermauern. Das ist gerade nicht der Zweck von Auskunftsobliegenheiten des Versicherungsnehmers in der Rechtsschutzversicherung.

[24] 2.4.2. Zusammenfassend gilt daher: Beabsichtigt die Versicherungsnehmerin die (aktive) Anspruchsverfolgung, kann der beklagte Rechtsschutzversicherer im Deckungsprozess neben der Bestreitung des Deckungsanspruchs (dem Grund nach) nicht auch Auskunftsobliegenheiten der Versicherungsnehmerin einfordern, die ihm nicht die Leistungsprüfung ermöglichen, sondern den bereits gefassten Entschluss, keine Deckung zu gewähren, weiter untermauern sollen.

[25] 3. Die Revision der Beklagten ist daher erfolglos.

[26] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.

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