OGH 7Ob190/22z

OGH7Ob190/22z25.1.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J* S*, vertreten durch Mag. Jörg Grössbauer, Rechtsanwalt in Leibnitz, gegen die beklagte Partei U* AG, *, vertreten durch die Dr. Bernhard Hundegger Rechtsanwalt GmbH in Villach, wegen 274.946,65 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse 270.609,15 EUR sA) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgerichtvom 21. September 2022, GZ 2 R 142/22b‑82, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 28. Juli 2022, GZ 10 Cg 36/20k‑77, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00190.22Z.0125.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.830,32 EUR (darin 471,72 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Am 9. April 2019 erlitt der Kläger infolge eines Sturzes so schwere Verletzungen, dass eine dauernde Invalidität von 100 % vorliegt. Vor dem Unfall vorhandene Krankheiten haben mit höchstens 10 % an den Unfallfolgen mitgewirkt.

[2] Der Kläger wurde nach dem Unfall von zwei Ärzten der Beklagten über deren Auftrag untersucht. Ein Arzt erachtete beim Kläger eine Invalidität von 100 % für gegeben. Der andere Arzt kam zum Ergebnis, dass die Mitwirkung nicht unfallkausaler Einflüsse am Ausmaß der 100 %-igen dauernden Invalidität mindestens 50 % betragen habe. Weder die von der Beklagten beauftragten Ärzte noch die Beklagte selbst forderten vom Kläger vorprozessual die Vorlage ergänzender Unterlagen. Die Beklagte bezahlte dem Kläger 53.910 EUR auf Basis einer 50 %‑igen Funktionseinschränkung. Darüber hinausgehende Ansprüche lehnte sie ab. Erstmals während dieses Verfahrens forderte die Beklagte mit Schriftsatz vom 14. Juli 2020 vom Kläger, er möge die Krankengeschichte vollständig seit dem 1. Jänner 2007 vorlegen. Der Kläger ist dieser Forderung bislang nicht nachgekommen.

[3] Zwischen dem Kläger und der Beklagten besteht ein Unfallversicherungsvertrag, dem die „KLIPP & KLAR Bedingungen für die Unfallversicherung 2012 UB00“ (AUVB 2012) zugrunde liegen. Diese lauten auszugsweise:

Sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes - Artikel 21

[…]

3. Haben Krankheiten oder Gebrechen, bei der durch ein Unfallereignis hervorgerufenen Gesundheitsschädigung – insbesondere solche Verletzungen, die durch krankhaft abnützungsbedingte Einflüsse verursacht oder mitverursacht worden sind – oder deren Folgen mitgewirkt, ist im Fall einer Invalidität der Prozentsatz des Invaliditätsgrades, ansonsten die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens, zu vermindern, wenn dieser Anteil mindestens 25 % beträgt.

[…]

Was ist vor Eintritt eines Versicherungsfalles zu beachten?

Was ist nach Eintritt eines Versicherungsfalles zu tun? – Artikel 24

[…]

2. Obliegenheiten nach Eintritt des Versicherungsfalles

Als Obliegenheiten, deren Verletzung unsere Leistungsfreiheit gemäß den Voraussetzungen und Bestimmungen des § 6 Abs. 3 VersVG (Obliegenheitsverletzung) – siehe Anhang – bewirkt, werden bestimmt:

[…]

2.5. Die Unfallanzeige ist uns unverzüglich zuzusenden; außerdem sind uns alle verlangten sachdienlichen Auskünfte zu erteilen.

[…]“

[4] Der Kläger begehrt Zahlung von 274.946,65 EUR sA. Aufgrund der beim Unfall erlittenen Verletzungen sei bei ihm eine dauernde Invalidität mit einer Funktionseinschränkung von 100 % gegeben. Da es der gerichtliche Sachverständige mangels Relevanz nicht für notwendig erachtet habe, die gesamte Krankengeschichte ab Jänner 2007 anzufordern, könne deren Nichtvorlage keine Obliegenheitsverletzung begründen.

[5] Die Beklagte beantragt Klagsabweisung. Aufgrund von Vorerkrankungen bestehe maximal eine Invalidität im Ausmaß von 50 %. Die sich daraus ergebende Versicherungsleistung habe die Beklagte bereits bezahlt. Die Beklagte habe den Kläger während des Verfahrens aufgefordert, die Krankengeschichte vollständig ab 1. Jänner 2007 vorzulegen. Dem sei der Kläger nicht nachgekommen, sodass die Beklagte wegen Verletzung der Auskunftsobliegenheit leistungsfrei sei.

[6] Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 270.603,15 EUR sA und wies das Mehrbegehren von 4.343,50 EUR sA ab. Der Kläger sei infolge des Unfalls zu 100 % dauernd invalide, eine Anspruchsminderung aufgrund von Vorerkrankungen sei mangels Erreichens der 25 %‑Grenze in Art 21.3. AUVB 2012 nicht vorzunehmen. Dass der Kläger die von der Beklagten erstmals im Verfahren geforderten Krankenunterlagen nicht vorgelegt habe, könne ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden, zumal ohnehin der gerichtlich bestellte Sachverständige beauftragt worden sei, alle relevanten medizinischen Unterlagen beizuschaffen. Dies sei offenkundig geschehen, weil sich der Sachverständige ansonsten gemäß seinem Auftrag an das Gericht gewendet hätte.

[7] Das Berufungsgericht gab der von der Beklagten erhobenen Berufung keine Folge. Beim Antrag der Beklagten, der Kläger möge seine Krankengeschichte vollständig seit dem 1. Jänner 2007 vorlegen, handle es sich um einen unzulässigen Erkundungsbeweis. Der Sachverständige habe im Übrigen für seine Gutachten gar keine weiteren Unterlagen benötigt, sonst hätte er sich an das Gericht gewendet. Eine Obliegenheitsverletzung des Klägers könne schon deshalb nicht vorliegen, weil die Beklagte das zur Beurteilung und Erfüllung von Ansprüchen aus einem konkreten Versicherungsfall durch Auskünfte von Gesundheitsdienstleistern in § 11a Abs 2 Z 4 VersVG zwingend vorgesehene Verfahren nicht eingehalten habe.

[8] Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinn einer Klagsabweisung abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Der Kläger beantragt in seiner vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist jedoch nicht berechtigt.

[11] 1. Soweit der vom Erstgericht festgestellte Sachverhalt ergänzt wurde, beruht dies auf dem Inhalt unstrittiger Urkunden (RS0121557 [T3]).

[12] 2.1. Obliegenheiten nach dem Versicherungsfall dienen dem Zweck, den Versicherer vor vermeidbaren Belastungen sowie ungerechtfertigten Ansprüchen (RS0116978) und vor betrügerischen Machenschaften zu schützen (RS0080833). Durch die Aufklärung soll der Versicherer in die Lage versetzt werden, sachgemäße Entscheidungen über die Behandlung des Versicherungsfalls zu treffen (vgl RS0080203 [T1]). Es genügt, dass die begehrte Information abstrakt zur Aufklärung des Schadenereignisses geeignet ist (RS0080833 [T7]; RS0080205 [T2]).

[13] 2.2. Die Auskunftsobliegenheit (§ 34 Abs 1 VersVG) endet mit der Ablehnung des Entschädigungsanspruchs durch den Versicherer, weil sich das der Vereinbarung zugrundeliegende Ziel, die Leistung des Versicherers zu ermöglichen oder zu erleichtern, danach nicht mehr erreichen lässt. Mit anderen Worten bringt der Versicherer mit der Deckungsablehnung zum Ausdruck, dass er weiterer Auskünfte zur Beurteilung seiner Leistungspflicht nicht mehr bedarf (Ramharter in Fenyves/Perner/Riedler³ § 34 VersVG Rz 39; Wandt in MünchKommVVG3 § 31 Rn 61; Rixecker in Langheid/Rixecker 7 § 31 VVG Rn 20; vgl auch RS0080446). Dies gilt freilich nicht, wenn der Versicherer nach der Ablehnung zu erkennen gibt, er lege gleichwohl noch Wert auf Erfüllung der Obliegenheiten, und diese zumutbar erscheint (7 Ob 60/86; 7 Ob 319/01i; 7 Ob 153/20f; Ramharter in Fenyves/Perner/Riedler³ § 34 VersVG Rz 41; Armbrüster in Prölss/Martin 31 § 28 VVG Rn 78). Das setzt aber jedenfalls voraus, dass der Versicherer klar macht, inwieweit er noch ein Aufklärungsbedürfnis hat (BGH VersR 2013, 609 mwN; Armbrüster in Prölss/Martin 31 § 28 VVG Rn 78; Piontek in BeckOKVVG16 § 31 Rn 8).

[14] 2.3. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte die vom Versicherungsnehmer klagsweise geforderte Leistung aus dem Sturz von 2019 definitiv abgelehnt, besteht aber dennoch in diesem Verfahren auf der Vorlage der vollständigen Krankengeschichte des Klägers seit dem 1. Jänner 2007. Allerdings hat die Beklagte ein derartiges Aufklärungsbedürfnis nicht dargelegt. Im Übrigen haben es weder die von der Beklagten beauftragten Ärzte noch der gerichtliche Gutachter für die Beurteilung des Invaliditätsgrades sowie des Ausmaßes der Mitwirkung von Vorerkrankungen für notwendig befunden, ergänzende Unterlagen vom Kläger anzufordern und erachtete es auch die Beklagte nach Einholung der Privatgutachten nicht für notwendig, ergänzende Unterlagen zu fordern, obwohl sich die Sachlage seither nicht geändert hat.

[15] 3. Die Revision der Beklagten ist daher erfolglos.

[16] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.

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