OGH 15Os82/23g

OGH15Os82/23g30.8.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 30. August 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Dr. Mann und Dr. Sadoghi sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Riffel in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Eschenbacher im Verfahren zur Übergabe des * S* zur Strafverfolgung an Deutschland, AZ 314 HR 7/23v des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag der betroffenen Person auf Erneuerung des Verfahrens gemäß § 363a Abs 1 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0150OS00082.23G.0830.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Amtsgerichts Traunstein vom 29. Dezember 2022, AZ 5 Gs 5838/22, leitete die Staatsanwaltschaft Wien gemäß § 16 EU‑JZG ein Übergabeverfahren gegen * S* zur Strafverfolgung ein.

[2] Nach dem Europäischen Haftbefehl ist der Betroffene verdächtig, von Februar bis 13. April 2022 in der Justizvollzugsanstalt * eine Angestellte der Krankenabteilung zur unbemerkten Einbringung und Weiterleitung von mindestens fünfzehn Mobiltelefonen an andere Gefangene angestiftet zu haben. Diese Taten werden im Europäischen Haftbefehl als Anstiftung zur Bestechlichkeit nach §§ 332 Abs 1, 26 des deutschen Strafgesetzbuchs qualifiziert (ON 4).

[3] Nach öffentlicher Übergabeverhandlung am 21. März 2023 bewilligte der Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien die Übergabe des Betroffenen an Deutschland zur Strafverfolgung im Sinn des Europäischen Haftbefehls (ON 27, 28).

[4] Das Oberlandesgericht Wien gab der dagegen gerichteten Beschwerde des Betroffenen mit Beschluss vom 20. Juni 2023, AZ 22 Bs 97/23k, nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

[5] Gegen diese Beschlüsse richtet sich der als „Grundrechtsbeschwerde“ bezeichnete Rechtsbehelf des S*. Dazu ist festzuhalten, dass sich die bekämpfte Beschwerdeentscheidung ausschließlich mit der Zulässigkeit der Übergabe zur Strafverfolgung an Deutschland, nicht hingegen mit der Übergabehaft befasst, und solcherart deren Bekämpfung mit Grundrechtsbeschwerde mangels funktioneller Grundrechtsrelevanz nicht zulässig ist (§ 1 Abs 1 GRBG; RIS‑Justiz RS0116089).

[6] Angesichts der Behauptung einer Verletzung im Recht auf Achtung des Privat‑ und Familienlebens nach Art 8 MRK ist die Eingabe jedoch der Sache nach als Antrag auf Erneuerung des Verfahrens nach § 363a Abs 1 StPO zu werten (RIS‑Justiz RS0116089 [T3, T4]). Diesem kommt jedoch keine Berechtigung zu.

[7] Soweit sich der Erneuerungsantrag gegen den– auch tatsächlich mit Beschwerde bekämpften – Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21. März 2023 richtet, war er zurückzuweisen, weil Erneuerungsanträge nur gegen letztinstanzliche Entscheidungen nach Ausschöpfung des (vertikalen und horizontalen) Instanzenzugs möglich sind (vgl RIS‑Justiz RS0122737).

[8] Das Vorbringen, der Antragsteller habe in Österreich Familie, weist zwar zutreffend darauf hin, dass die Auslieferung einer Person zur Strafverfolgung einen Eingriff in den Schutzbereich des Art 8 MRK darstellt, der nur unter den Voraussetzungen des Art 8 Abs 2 MRK zulässig ist. Bei der daher notwendigen Verhältnismäßigkeitsprüfung ist in Übergabesachen allerdings zu berücksichtigen, dass den Interessen der betroffenen Person nicht (allein) – wie in Fällen der Ausweisung oder Abschiebung – das öffentliche Interesse des ausweisenden Staats an der Verteidigung der Ordnung und der Verhinderung von zukünftigen Straftaten, sondern (auch) dasjenige des ersuchenden Staats an der Verfolgung bereits begangener Straftaten gegenübersteht (vgl 15 Os 32/15t mwN; Göth‑Flemmich/Riffel in WK2 ARHG § 22 Rz 6). Die Auslieferung einer Person, um für bestimmte Straftaten vor Gericht gestellt zu werden, wäre somit – auch mit Blick auf Art und Schwere der S* zur Last gelegten Taten – nur unter außergewöhnlichen Umständen unverhältnismäßig. Solche werden im Erneuerungsantrag aber nicht bezeichnet.

[9] Der Erneuerungsantrag war daher als offenbar unbegründet zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

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