OGH 10ObS96/23z

OGH10ObS96/23z22.8.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Lena Steiger und Mag. Michael Mutz (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, vertreten durch Dr. Gerd Mössler, Rechtsanwalt in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1050 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, vertreten durch Dr. Eva-Maria Bachmann‑Lang und Dr. Christian Bachmann, Rechtsanwälte in Wien, wegen Kostentragung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. Mai 2023, GZ 6 Rs 11/23 v‑32, womit das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 4. November 2022, GZ 33 Cgs 64/22h‑24, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00096.23Z.0822.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Ersturteil wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 502,70 EUR (darin 83,78 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Revisionsgegenständlich ist der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Kostentragung für festsitzenden Zahnersatz.

[2] Der Kläger hat im Ober- und Unterkiefer Freiendsituationen, bei denen die letzten Zähne in der Zahnreihe des Ober- und Unterkiefers fehlen. Es gibt in diesem Fall prinzipiell zwei Behandlungsmöglichkeiten: Festsitzend mittels Implantaten oder abnehmbar mittels Teilprothesen. Unter rein dentalen Gesichtspunkten ist dem Kläger in medizinischer Hinsicht die Verwendung von abnehmbarem Zahnersatz möglich.

[3] Dem Kläger sind durch eine Amputation an der rechten Hand keinerlei feinmotorische oder taktil fordernde Tätigkeiten möglich, sodass die rechte Hand funktionell als wertlos zu erachten ist. Auch auf der linken Hand besteht eine deutliche funktionelle Einschränkung. Aufgrund dieser Umstände ist dem Kläger ein die Feinmotorik forderndes Hantieren nicht möglich. Es bestehen größte Probleme beim Einsetzen bzw bei der Entnahme der Zahnprothese. Aus unfallchirurgisch-orthopädischer Sicht ist dem Kläger die Verwendung eines abnehmbaren Zahnersatzes nicht zumutbar.

[4] Mit Bescheid vom 21. April 2022 lehnte die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen den Antrag des Klägers vom 21. Jänner 2022 auf Kostenübernahme eines festsitzenden Zahnersatzes laut Heilkostenplan Dris. Peter Heller vom 18. Jänner 2022 ab.

[5] Das Erstgericht gab dem auf Feststellung, dass die Beklagte die Kosten für einen festsitzenden Zahnersatz laut Heilkostenplan Dris. Peter Heller vom 18. Jänner 2022 im satzungsmäßigen Umfang zu übernehmen habe, statt. Beim Kläger würden medizinische Gründe für einen festsitzenden Zahnersatz vorliegen. Die in der Satzung der Beklagten aufgezählten Fälle, in denen ein abnehmbarer Zahnersatz aus medizinischen Gründen nicht möglich sei und daher festsitzender Zahnersatz erbracht werde, könnten in Anbetracht des § 83 Abs 2 BSVG, unabhängig davon, ob das Wort „insbesondere“ angeführt sei, nicht als eine taxative Auflistung verstanden werden.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Mit der 5. Änderung der SVS‑Satzung 2020, avsv Nr 26/2022, die mit 1. April 2022 in Kraft getreten sei, sei die Regelung über den Zahnersatz für Versicherte durch Einfügung eines § 6f dahingehend geändert worden, dass festsitzender Zahnersatz nur dann erbracht werde, wenn ein abnehmbarer Zahnersatz aus medizinischen Gründen nicht möglich sei, und es werde ausdrücklich angeführt, dass dies (nur) bei den (bisherigen) Indikationen/Fallgruppen der Fall sei, welche beim Kläger unstrittig nicht vorliegen würden. Eine Analogie komme nicht in Betracht. Das Berufungsgericht ließ die Revision zur Frage zu, inwieweit § 6f der geltenden Satzung der Beklagten einer Analogie zugänglich sei.

[7] In der Revision beantragt der Kläger die Abänderung der Entscheidung des Berufungsgerichts im Sinn der Wiederherstellung der Entscheidung des Erstgerichts; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[8] In der Revisionsbeantwortung beantragt die Beklagte,die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

[9] Die Revision ist zulässig, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Auslegung der gegenständlichen Bestimmung der Satzung der Beklagten in der anwendbaren Fassung fehlt. Sie ist auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[10] 1.1. Nach § 74 Abs 1 Z 3 BSVG trifft die Krankenversicherung Vorsorge für Zahnbehandlung und Zahnersatz. Der unentbehrliche Zahnersatz wird nach § 95 Abs 2 Satz 1 BSVG durch Vertragszahnärzte/Vertrags-zahnärztinnen oder Vertrags-Gruppenpraxen, Wahlzahnärzte/ Wahlzahnärztinnen oder Wahl-Gruppenpraxen, Vertrags-dentisten/Vertragsdentistinnen, Wahldentisten/Wahldentistin-nen sowie in eigenen Einrichtungen (Ambulatorien) des Versicherungsträgers und in Vertragseinrichtungen gewährt. Die Satzung kann unter Bedachtnahme auf die finanzielle Leistungsfähigkeit des Versicherungsträgers und das wirtschaftliche Bedürfnis der Versicherten für alle oder bestimmte Gruppen von Versicherten anstelle der Sachleistungen eine Kostenerstattung vorsehen (§ 95 Abs 2 Satz 2 BSVG). Nimmt der Anspruchsberechtigte zur Erbringung der Leistungen der Zahnbehandlung und des Zahnersatzes nicht die Vertragspartner, die eigenen Einrichtungen oder Vertragseinrichtungen der Bauernkrankenversicherung in Anspruch, gebührt dem Versicherten gemäß § 88 Abs 1 iVm § 95 Abs 6 BSVG ein Kostenzuschuss (§ 80 BSVG) in der Höhe des Betrags, der bei Inanspruchnahme der entsprechenden Vertragspartner aufzuwenden gewesen wäre.

[11] 1.2. Aus § 95 Abs 2 BSVG ist abzuleiten, dass der Zahnersatz unentbehrlich sein muss. Der Inhalt des § 95 BSVG wurde im Übrigen an § 83 Abs 2 BSVG gemessen (10 ObS 66/04k SSV‑NF 18/56; 10 ObS 200/93 SSV‑NF 8/6; 10 ObS 312/92 SSV‑NF 7/22), wonach die Kranken-behandlung ausreichend und zweckmäßig sein muss, jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf; durch die Krankenbehandlung sollen die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden.

[12] 2.1. Während es nach dem ASVG und dem B‑KUVG weitgehend der Satzung überlassen ist, den Leistungsumfang bei Zahnbehandlung und Zahnersatz zu bestimmen, ergibt sich der konkrete Anspruch auf Zahnbehandlung und Zahnersatz nach dem GSVG und dem BSVG bereits aus dem Gesetz, nur die nähere Ausgestaltung wird der Satzung überlassen (10 ObS 38/11b SSV‑NF 25/44; Schober in Sonntag, GSVG6 § 94 Rz 1).

[13] 2.2. Aufgrund seiner (orthopädischen) Einschränkungen beider Hände ist dem Kläger nach den getroffenen Feststellungen insgesamt ein die Feinmotorik forderndes Hantieren nicht möglich. Es bestehen größte Probleme beim Einsetzen bzw bei der Entnahme der Zahnprothese, sodass ihm die Verwendung eines abnehmbaren Zahnersatzes aus orthopädischer Sicht nicht zumutbar ist. In der Berufung bezog sich die Beklagte lediglich auf das (dem Kläger ebenfalls nicht mögliche) Reinigen einer Zahnprothese, zog aber nicht in Zweifel, dass ihm das Einsetzen bzw die Entnahme aufgrund seiner orthopädischen Einschränkungen nicht möglich ist.

[14] 2.3. Der Hinweis der Beklagten darauf, dass die erforderliche Unterstützung bei der Reinigung des abnehmbaren Zahnersatzes eine Teilverrichtung der täglichen Körperpflege darstelle, was einen Anspruch auf Pflegegeld nach dem BPGG begründen könnte, übergeht, dass durch die Krankenbehandlung die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden sollen (§ 83 Abs 2 Satz 2 BSVG). Das Minimalziel, das mit einer Krankenbehandlung erreicht werden soll, ist die „Selbsterhaltungsfähigkeit“; Maßnahmen, die lediglich den status quo sichern sollen, tragen dazu nichts bei (Felten/Mosler in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV‑Komm § 133 ASVG Rz 37 [Stand 1. 1. 2020, rdb.at]). Pflegeleistungen fallen – soweit sie nicht Teil eines ärztlichen Krankenbehandlungsplans sind – nicht in den Anwendungsbereich der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern unterliegen (soweit es um die Geldleistung des Pflegegeldes geht) mit dem BPGG einem eigenen Regelungssystem (Felten/Mosler in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV‑Komm § 133 ASVG Rz 37 [Stand 1. 1. 2020, rdb.at]; vgl Grillberger in Grillberger/Mosler, Ärztliches Vertragspartner-recht [2012] 223).

[15] 2.4. Stichhaltige Argumente dagegen, dass der unentbehrliche Zahnersatz im Fall des Klägers nach den genannten gesetzlichen Voraussetzungen nur ein festsitzender sein kann, weil ein abnehmbarer Zahnersatz in seinem Fall nicht als ausreichend und zweckmäßig zu beurteilen ist, bringt die Beklagte damit nicht vor.

[16] 2.5. Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass der Kläger nach den geschilderten gesetzlichen Voraussetzungen Anspruch auf festsitzenden Zahnersatz hätte.

[17] 3. Dem hält die Beklagte die Bestimmungen der Satzung entgegen.

[18] 3.1.1. § 43 Abs 2 SVS‑Satzung 2020, avsv Nr 47/2020, trat mit 1. Jänner 2020 in Kraft (§ 72 SVS‑Satzung 2020) und hatte folgenden Wortlaut:

„Als unentbehrlicher Zahnersatz wird im Allgemeinen der abnehmbare Zahnersatz samt medizinisch notwendiger Haltelemente (Klammerzahnkrone) erbracht. Festsitzender Zahnersatz wird nur dann erbracht, wenn ein abnehmbarer Zahnersatz aus medizinischen Gründen nicht möglich ist; dies ist insbesondere der Fall

‑ bei P atienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten,

‑ bei Tumorpatienten in der postoperativen Rehabilitation,

‑ bei Patienten nach polytraumatischen Kieferfrakturen in der posttraumatischen Rehabilitation,

‑ bei Patienten mit extremen Kieferrelationen (z. B. extreme Progenie, Prognathie, totale Atrophie des Kieferkammes),

die eine prothetische Versorgung mit abnehmbarem Zahnersatz nicht zulassen. Zum unentbehrlichen Zahnersatz gehört auch die notwendige Reparatur von unentbehrlichen Zahnersatzstücken. Für festsitzenden Zahnersatz ohne diese medizinische Notwendigkeit übernimmt die SVS keine Kosten.“

[19] 3.1.2. Mit der 2. Änderung, avsv Nr 16/2021, wurde in § 43 Abs 2 SVS‑Satzung 2020 das Wort „insbesondere“ gestrichen. Diese Fassung des § 43 Abs 2 SVS‑Satzung 2020 trat mit 1. April 2021 in Kraft (§ 74 Abs 1 SVS‑Satzung 2020) und hatte daher folgenden Wortlaut:

„Als unentbehrlicher Zahnersatz wird im Allgemeinen der abnehmbare Zahnersatz samt medizinisch notwendiger Haltelemente (Klammerzahnkrone) erbracht. Festsitzender Zahnersatz wird nur dann erbracht, wenn ein abnehmbarer Zahnersatz aus medizinischen Gründen nicht möglich ist; dies ist der Fall

‑ bei Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten,

‑ bei Tumorpatienten in der postoperativen Rehabilitation,

‑ bei Patienten nach polytraumatischen Kieferfrakturen in der posttraumatischen Rehabilitation,

‑ bei Patienten mit extremen Kieferrelationen (z. B. extreme Progenie, Prognathie, totale Atrophie des Kieferkammes),

die eine prothetische Versorgung mit abnehmbarem Zahnersatz nicht zulassen. Zum unentbehrlichen Zahnersatz gehört auch die notwendige Reparatur von unentbehrlichen Zahnersatzstücken. Für festsitzenden Zahnersatz ohne diese medizinische Notwendigkeit übernimmt die SVS keine Kosten.“

[20] 3.1.3. Mit 1. April 2022 trat die 5. Änderung der SVS‑Satzung 2020, avsv Nr 26/2022, in Kraft (§ 77 SVS‑Satzung 2020); die Regelung über den Zahnersatz fand sich nunmehr in § 6f Abs 1 SVS‑Satzung 2020 und hatte folgenden Wortlaut:

„§ 6f. (1) Als notwendiger bzw. unentbehrlicher Zahnersatz wird im Allgemeinen der abnehmbare Zahnersatz samt medizinisch notwendiger Haltelemente (Klammerzahnkrone) erbracht. Festsitzender Zahnersatz wird nur dann erbracht, wenn ein abnehmbarer Zahnersatz aus medizinischen Gründen nicht möglich ist. Dies ist der Fall

1. bei Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten,

2. bei Tumorpatienten in der postoperativen Rehabilitation,

3. bei Patienten nach polytraumatischen Kieferfrakturen in der posttraumatischen Rehabilitation,

4. bei Patienten mit extremen Kieferrelationen (z. B. extreme Progenie, Prognathie, totale Atrophie des Kieferkammes),

die eine prothetische Versorgung mit abnehmbarem Zahnersatz nicht zulässt/zulassen. Zum notwendigen Zahnersatz gehört auch die notwendige Reparatur von notwendigen Zahnersatzstücken.“

[21] 3.1.4. Seit 1. Jänner 2023 (§ 56 Abs 1 SVS‑Satzung 2023) findet sich die vorgenannte Regelung über den Zahnersatz inhaltlich unverändert (gegenüber dem früheren § 6f Abs 1 SVS‑Satzung 2020 idF der 5. Änderung) in § 14 Abs 1 SVS‑Satzung 2023, avsv Nr 96/2022.

[22] 3.2.1. Das durch die Klage des Versicherten eingeleitete gerichtliche Verfahren ist kein Rechtsmittelverfahren und hat daher keine kontrollierende Funktion. Das Gericht prüft vielmehr selbständig den durch die Klage geltend gemachten sozialversicherungsrechtlichen Leistungsanspruch (RS0085839). Es ist daher grundsätzlich die Rechtslage zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz maßgebend (RS0085839 [T2]). Auf eine Änderung der Rechtslage hat das Gericht in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind (RS0031419).

[23] 3.2.2. Im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz war § 6f Abs 1 Satzung 2020 idF ihrer 5. Änderung in Kraft. Soweit hier von Relevanz, änderte sich diese Bestimmung inhaltlich nicht und sie findet sich seit 1. Jänner 2023 gleichlautend in § 14 Abs 1 SVS‑Satzung 2023. Die Frage, welche Bestimmung im vorliegenden Fall formal zur Anwendung zu gelangen hätte, ist für die Entscheidung somit nicht von Bedeutung, sodass im Folgenden der Einfachheit halber nur auf § 14 Abs 1 SVS‑Satzung 2023 Bezug genommen wird.

[24] 3.3. Die Beklagte und das Berufungsgericht stehen auf dem Standpunkt, dass nach § 14 Abs 1 SVS‑Satzung 2023 ein festsitzender Zahnersatz nur dann zu erbringen ist, wenn die in § 14 Abs 1 Satz 3 SVS‑Satzung 2023 genannten (vier) Fälle vorliegen, selbst wenn ein abnehmbarer Zahnersatz aus anderen medizinischen Gründen nicht möglich ist.

[25] 3.3.1. Für diese Rechtsansicht könnte sprechen, dass § 43 Abs 2 SVS‑Satzung 2020 bis zu ihrer 2. Änderung die vier Fälle, in denen ein festsitzender Zahnersatz erbracht wurde, demonstrativ („insbesondere“) aufzählte, und mit dieser Änderung das Wort „insbesondere“ gestrichen wurde.

[26] Dies würde aber nur für die bis 31. März 2022 geltende Rechtslage gelten können, weil nach dieser im letzten Satz der Bestimmung (weiterhin) ausdrücklich festgehalten war, dass die Beklagte für festsitzenden Zahnersatz ohne „diese“ medizinische Notwendigkeit keine Kosten übernimmt. In der seit 1. April 2022 anwendbaren Bestimmung wurde dieser Satz allerdings gestrichen, was wiederum den (gegenteiligen) Schluss zuließe, dass Kosten für festsitzenden Zahnersatz nunmehr auch außerhalb der vier ausdrücklich genannten medizinischen Gründe zu ersetzen sein sollen.

[27] Aus der historischen Entwicklung der Regelungen über den Zahnersatz lässt sich daher kein Auslegungsergebnis mit hinreichender Sicherheit ableiten.

[28] 3.3.2. Nach dem aktuell anwendbaren Wortlaut bleibt jedenfalls die Auslegung möglich, dass die ausdrücklich genannten Fälle bloß der Klarstellung dienen. Insofern würde diese Auslegung dem § 14 Abs 1 Satz 3 SVS‑Satzung 2023 – entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts – auch nicht einen Anwendungsbereich entziehen.

[29] Ganz im Gegenteil normiert § 14 Abs 1 Satz 2 SVS‑Satzung 2023 weiterhin (unverändert), dass festsitzender Zahnersatz nur dann erbracht wird, wenn ein abnehmbarer Zahnersatz aus medizinischen Gründen nicht möglich ist. Würde man den nachfolgenden Satz so verstehen, dass festsitzender Zahnersatz nur in den dort aufgezählten (konkreten medizinischen) Fällen erbracht wird, wäre das Abstellen auf (allgemeine) medizinische Gründe in § 14 Abs 1 Satz 2 SVS‑Satzung 2023 ohne normative Konsequenz. Hätte der Satzungsgeber tatsächlich eine dermaßen enge (taxative) Aufzählung gewollt, hätte es genügt, den Anspruch auf festsitzenden Zahnersatz schlicht an das Vorliegen eines dieser Fälle zu knüpfen, ohne zunächst noch allgemein darauf abzustellen, dass ein abnehmbarer Zahnersatz aus medizinischen Gründen nicht möglich ist.

[30] 3.3.3. Hinzu kommt, dass die von der Beklagten und vom Berufungsgericht vertretene taxative Aufzählung dazu führen würde, dass nur ganz bestimmte Diagnosen einen festsitzenden Zahnersatz rechtfertigen würden. Da sich der konkrete Anspruch auf Zahnersatz bereits aus dem Gesetz ergibt und nur die nähere Ausgestaltung der Satzung überlassen wird, würde diese Auslegung in allen anderen, nicht ausdrücklich genannten Fällen, in denen aber – wie hier – die gesetzlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf festsitzenden Zahnersatz erfüllt wären, den gesetzlichen Anspruch auf die Pflichtleistung unzulässigerweise einschränken. Dieses Ergebnis ist dem Satzungsgeber im Zweifel nicht zu unterstellen. Auch die gesetzeskonforme Auslegung spricht daher für eine bloß demonstrative Aufzählung des § 14 Abs 1 Satz 3 SVS‑Satzung 2023.

[31] 3.3.4. Das Berufungsgericht und die Beklagte bleiben schließlich auch eine Begründung dafür schuldig, welchen Zweck der Satzungsgeber mit dem von ihnen vertretenen Auslegungsergebnis verfolgen sollte, dass ein festsitzender Zahnersatz nur bei solchen medizinischen Gründen erbracht wird, die sich auf das Kiefergelenk beziehen, nicht jedoch bei anderen, die eine prothetische Versorgung gleichermaßen ausschließen. Zweck der Regelung ist es erkennbar, den tendenziell kostenintensiveren festsitzenden Zahnersatz nur subsidiär gegenüber dem weniger kostenintensiven abnehmbaren Zahnersatz erbringen zu müssen. Diese Unterscheidung zwischen abnehmbarem und festsitzendem Zahnersatz und die Erbringung des festsitzenden Zahnersatzes nur dann, wenn ein abnehmbarer Zahnersatz aus medizinischen Gründen nicht möglich ist, ist nach ständiger Rechtsprechung auch verfassungsrechtlich unbedenklich (RS0108530).

[32] Neben dieser Berücksichtigung wirtschaftlicher Gesichtspunkte ist allerdings auch das Interesse an einer notwendigen Behandlung von Bedeutung. Die Erbringung einer medizinisch nicht zumutbaren, wenngleich weniger kostenintensiven Leistung wäre immerhin weder wirtschaftlich noch den Zielen einer sozialen Krankenversicherung förderlich. Eine Einschränkung der Erbringung des festsitzenden Zahnersatzes auf bestimmte medizinische Indikationen, ohne die Möglichkeit andere, gleichwertige medizinische Gründe bei der Beurteilung zu berücksichtigen, wäre dementsprechend nicht zweckmäßig. Auch teleologische Gründe sprechen somit für eine bloß demonstrative Aufzählung der einen festsitzenden Zahnersatz ermöglichenden medizinischen Gründe.

3.4. Zusammenfassend ergibt sich:

[33] § 6f Abs 1 SVS‑Satzung 2020 idF der 5. Änderung (avsv Nr 26/2022) und § 14 Abs 1 SVS‑Satzung 2023 (avsv Nr 96/2022) sind dahin auszulegen, dass es sich bei den ausdrücklich genannten Fällen, die eine prothetische Versorgung mit abnehmbarem Zahnersatz nicht zulassen, um eine demonstrative Aufzählung handelt. Festsitzender Zahnersatz ist somit auch dann zu erbringen, wenn ein abnehmbarer Zahnersatz aus anderen als den ausdrücklich genannten medizinischen Gründen nicht möglich ist.

[34] Auf die vom Berufungsgericht aufgeworfene Frage einer analogen Anwendung der genannten Bestimmungen kommt es somit nicht weiter an.

[35] 4.1. Daraus folgt die materielle Berechtigung des Klagebegehrens. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Klage auf Feststellung dieses Anspruchs mangels Möglichkeit der Leistungsklage zulässig ist (RS0105147 [T3]), wird von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen.

[36] 4.2. Der Revision ist daher Folge zu geben und die Entscheidung des Berufungsgerichts dahin abzuändern, dass die – dem erhobenen Feststellungsbegehren stattge-bende – Entscheidung des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

[37] 4.3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a iVm Abs 2 ASGG.

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