European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00073.23A.0713.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Unionsrecht
Spruch:
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Art 7 Nr 1 lit b der Verordnung Nr 1215/2012/EU über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO 2012) dahin auszulegen, dass sich bei einer Klage aus Vertrag der Erfüllungsort für die Entwicklung und den laufenden Betrieb einer auf die individuellen Bedürfnissen einer im Mitgliedstaat A (hier: Deutschland) ansässigen Bestellerinausgerichteten Software an dem Ort befindet
a) an dem die hinter der Software stehende geistige Schöpfung („Programmierung“) durch das im Mitgliedstaat B (hier: Österreich) ansässige Unternehmen erbracht wird, oder
b) an dem die Software die Bestellerin erreicht, also abgerufen und zum Einsatz gebracht wird?
II. Das Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.
Begründung:
Zu I.:
A. Sachverhalt
[1] Die klagende Gesellschaft mit Sitz in Wien ist im Geschäftszweig IT-Dienstleistungen tätig. Die Beklagte ist in Deutschland ansässig. Die Klägerin entwickelte für die Beklagte eine Software zur Ermöglichung der Auswertung von Corona-Tests nach den Vorgaben des deutschen Gesetzgebers und für den Einsatz in deutschen Testzentren. Gegenstand des Vertrags war die ursprüngliche und laufende Entwicklung und der laufende Betrieb der Software in Deutschland. Die Parteien schlossen keinen schriftlichen Vertrag ab und vereinbarten weder einen Gerichtsstand noch einen Erfüllungsort.
B. Prozessstandpunkte der Parteien und bisheriges Verfahren
[2] Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Zahlung eines offenen Honorars von gesamt 101.587,68 EUR samt Zinsen für den Leistungszeitraum 1. Jänner 2022 bis 3. Juni 2022. Sie stützte die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts auf Art 7 Nr 1 lit b zweiter Gedankenstrich EuGVVO 2012, weil die Dienstleistungen im Sinn des Vertrags in Wien erbracht worden seien und erbracht werden sollten. Die Software sei speziell für die individuellen Bedürfnisse der Beklagten angepasst und weiterentwickelt worden. Es sei die Abrechnung pro erfolgtem Test vereinbart und somit ein konkreter Erfolg geschuldet gewesen. Die Software sei zwar für den deutschen Gebrauch laufend angepasst worden, sämtliche Arbeiten seien aber in Wien erbracht worden.
[3] Die Beklagte erhob die Einrede der internationalen Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts. Da charakteristische Leistung der Einsatz der Abwicklungssoftware nach Vorgaben des deutschen Gesetzgebers in Deutschland für deutsche Probanden gewesen sei, sei für alle Klagen aus dem Vertrag der Sitz der Beklagten der maßgebliche Erfüllungsort.
[4] Das Erstgericht wies die Klage mangels internationaler Zuständigkeit zurück. Es qualifizierte den von den Parteien geschlossenen Vertrag als Kaufvertrag, dessen Erfüllungsort am Sitz der Beklagten in Deutschland liege.
[5] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung, jedoch aus anderen Gründen.
[6] Im vorliegenden Fall sei nicht von einem Kaufvertrag beweglicher Sachen (Art 7 Nr 1 lit b erster Gedankenstrich EuGVVO 2012), sondern von der „Erbringung von Dienstleistungen“ im Sinn des Art 7 Nr 1 lit b zweiter Gedankenstrich EuGVVO 2012 auszugehen, zumal die Software speziell für die individuellen Bedürfnisse der Beklagten angepasst und weiterentwickelt werden und den Vorgaben des deutschen Gesetzgebers entsprechen sollte. Erfüllungsort bei der Erbringung von Dienstleistungen sei gemäß Art 7 Nr 1 lit b zweiter Gedankenstrich EuGVVO 2012 der Ort, an dem die Dienstleistung nach dem Vertrag erbracht worden sei oder hätte erbracht werden müssen. Dagegen sei der Ort, an dem die Dienstleistung erfolge, zeitigen solle, zuständigkeitsrechtlich ohne Bedeutung. Bei synallagmatischen Verträgen sei die nicht in Geld bestehende Leistung die jeweilige den Vertrag prägende Leistung. Beziehe sich die Dienstleistung auf einen bestimmten Ort, wie zB alle auf ein bestimmtes Bauwerk gerichteten Dienstleistungen, dann sei der Erfüllungsort der Ort, auf den sich die Dienstleistung beziehe, auch wenn eine Dienstleistung an einem anderen Ort erbracht worden sein sollte. Nicht ortsbezogene Dienstleistungen würden dort erbracht, wo sie den (richtig:) Gläubiger der Dienstleistung erreichten. Die individuell an deutsche Verhältnisse anzupassende Software als charakteristische Leistung sei in Deutschland abrufbar gewesen.
[7] Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Klägerin, der darauf abzielt, die Beschlüsse der Vorinstanzen zu beheben und dem Erstgericht die Einleitung des Verfahrens unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufzutragen.
[8] In ihrer (vom Obersten Gerichtshof freigestellten) Revisionsrekursbeantwortung beantragt die Beklagte, den Revisionsrekurs der Gegenseite zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
C. Relevante Rechtsvorschrift
[9] Art 7 Nr 1 EuGVVO 2012 lautet:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz im
Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in
einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:
1.
a) wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem
Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden,
vor dem Gericht des Ortes, an dem die
Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen
wäre;
b) im Sinne dieser Vorschrift – und sofern nichts
anderes vereinbart worden ist – ist der
Erfüllungsort der Verpflichtung
- für den Verkauf beweglicher Sachen der Ort in
einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem
Vertrag geliefert worden sind oder hätten
geliefert werden müssen;
- für die Erbringung von Dienstleistungen der
Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem
Vertrag erbracht worden sind oder hätten
erbracht werden müssen;
c) ist Buchstabe b nicht anwendbar, so gilt
Buchstabe a;“
Rechtliche Beurteilung
D. Begründung der Vorlage
[10] 1. Sowohl das Rekursgericht als auch die Parteien gehen von der Anwendbarkeit des Art 7 Nr 1 lit b zweiter Gedankenstrich EuGVVO aus. Der Oberste Gerichtshof teilt diese Auffassung:
[11] Nach der Rechtsprechung des EuGHsetzt der Begriff „Dienstleistungen“ im Sinn von Art 7 Nr 1 lit b EuGVVO 2012 voraus, dass die Partei, die sie erbringt, eine bestimmte Tätigkeit gegen Entgelt durchführt (ua C-533/07 , Falco Privatstiftung; C‑249/16 , Kareda; C‑196/15 , Granarolo).
[12] DasSchaffen und Liefern von Individualsoftware, also einer solchen, die speziell auf die besonderen Bedürfnisse und individuellen Umstände und Wünsche eines Bestellers erstellt wurde, ist – andersals die dauerhafte Überlassung einer auf Datenträgern verkörperten Standardsoftware, die als Kauf einer beweglichen Sache qualifiziert wird (vgl Simotta in Fasching/Konecny 3 V/1 Art 17 EuGVVO 2012 Rz 105; Schmaranzer in Burgstaller/Neumayr, IZVR [2009] Art 5 EuGVVO Rz 10 aE; OGH 5 Ob 504/96; RIS-Justiz RS0108702 [jeweils zur Einordnung im materiellen Recht]) – als solche Dienstleistung anzusehen (OGH 1 Ob 229/14d [zur Einordnung im materiellen Recht]). Ein Software-Entwicklungsvertrag, der die Entwicklung einer Individualsoftware zum Inhalt hat, ist daher unter den Dienstleistungsbegriff des Art 7 Nr 1 lit b zweiter Gedankenstrich EuGVVO 2012 zu subsumieren (so auch OLG München, 20 U 3515/09, Rn 39, 42; zustimmend Mankowski, Internationale Zuständigkeit am Erfüllungsort bei Softwareentwicklungsverträgen, CR 2010, 137 [139 ff]; Metzger, Zum Erfüllungsortgerichtsstand bei Kauf- und Dienstleistungsverträgen gemäß der EuGVVO, IPRax 2010, 420 [423]; Simotta in Fasching/Konecny 3 V/1 Art 7 EuGVVO 2012 Rz 172; Gottwald in Münchener Kommentar zur ZPO6 [2022] Art 7 Brüssel Ia-VO Rz 28; Leible in Rauscher, EuZPR/EuIPR5 I [2021] Art 7 Brüssel Ia-VO Rz 67).
[13] 2. Erfüllungsort bei der Erbringung von Dienstleistungen im Sinn des Art 7 Nr 1 lit b zweiter Gedankenstrich EuGVVO 2012 ist der Ort, an dem die Dienstleistung nach dem Vertrag erbracht worden ist oder hätte erbracht werden müssen. Es ist der Ort zu ermitteln, an dem der Dienstleister seine Tätigkeit hauptsächlich vorzunehmen hatte (EuGH C-19/09 , Wood Floor Solutions, Rn 38). Wurde – wie hier – keine ausdrückliche Erfüllungsortvereinbarung getroffen und lässt sich der Erfüllungsort auch nicht aus dem Vertrag bestimmen, kommt es auf den Ort der hauptsächlichen Leistungserbringung an (EuGH C-19/09 , Wood Floor Solutions, Rn 40). Dies spricht dafür, den Erfüllungsort bei Software-Entwicklungsverträgen am Ort des Erbringens der geistigen Leistung und nicht am Ort des Abrufs und Einsatzes der Software anzunehmen (so OLG München, 20 U 3515/09, Rn 49, 51, 52; Mankowski, Internationale Zuständigkeit am Erfüllungsort bei Softwareentwicklungsverträgen, CR 2010, 137 [139 ff]; Metzger, Zum Erfüllungsortgerichtsstand bei Kauf- und Dienstleistungsverträgen gemäß der EuGVVO, IPRax 2010, 420 [423]).
[14] 3. In Teilen der Literatur wird allerdings die Ansicht vertreten, dass dann, wenn sich eine Dienstleistung auf einen bestimmten Ort beziehe, wie zB Planungsleistungen für ein Bauwerk, der Erfüllungsort jener Ort sei, auf den sich die Dienstleistung beziehe, auch wenn sie an einem anderen Ort (etwa im Büro des Architekten) erbracht werde; dies gelte entsprechend für alle Ausstattungs-, Service-, After-Sales- und Wartungsverpflichtungen, die sich auf ein Bauwerk bezögen (Auer in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen [28. Ergänzungslieferung] Art 5 EuGVVO Rz 71; Gottwald in Münchener Kommentar zur ZPO6 [2022] Art 7 Brüssel Ia-VO Rz 29; Simotta in Fasching/Konecny 3 V/1 [2022] Art 7 EuGVVO 2012 Rz 203). Nicht ortsbezogene Dienstleistungen würden dort erbracht, wo sie den Gläubiger der Dienstleistung erreichten (Auer in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr Art 5 EuGVVO Rz 72; Simotta in Fasching/Konecny 3 V/1 Art 7 EuGVVO 2012 Rz 204).
[15] Zu diesen Ansichten hat der EuGH – soweit überblickbar – bisher nicht Stellung bezogen; auch der Oberste Gerichtshof ließ in der Entscheidung 4 Ob 140/18v letztlich offen, ob ihnen zu folgen sei. Sie könnten dann, wenn Software für den Einsatz an einem bestimmten Ort entwickelt wurde, dafür sprechen, diesen Ort als Erfüllungsort anzusehen.
[16] 4. Im vorliegenden Verfahren wurden zwar – anders als in der Entscheidung des Oberlandesgerichts München, 20 U 3515/09, zugrunde liegenden Fall – keine näheren Feststellungen zu Zeitaufwand und Bedeutung der Tätigkeitsanteile getroffen („wo welche Tätigkeiten von welcher Bedeutung erbracht wurden“; vgl Mankowski, Internationale Zuständigkeit am Erfüllungsort bei Softwareentwicklungsverträgen, CR 2010, 137 [139]). Zwischen den Parteien ist jedoch nicht strittig, dass die Software am Sitz der Klägerin in Österreich (weiter-)entwickelt und programmiert wurde, insbesondere also auch die geistige Leistung in Österreich erbracht wurde.
[17] Dies legt nahe, den Erfüllungsort an jenem Ort anzunehmen, an dem die Mitarbeiter der Klägerin die geistige Leistung erbrachten, also die Software erstellten und weiterentwickelten. Dies führte zur Zuständigkeit des angerufenen Gerichts. Dagegen könnte aber eingewendet werden, dass die geistige Leistung ausschließlich auf den deutschen Markt und die rechtlichen Vorgaben in Deutschland sowie auf die individuellen Bedürfnisse der dort ansässigen Beklagten ausgerichtet war und dass die geistige Leistung ohne ihren Abruf und Einsatz keinen eigenständigen Wert hat, zumal auch die Klägerin betont, dass sie pro (in Deutschland) durchgeführtem erfolgreichen Test honoriert werden sollte.
[18] Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die letztgenannten Erwägungen zur Annahme eines Erfüllungsorts in Deutschland führen. Dafür spräche auch das Argument, dass im konkreten Fall die Gerichte am Einsatzort der Software aufgrund der Sach- und Beweisnähe, die als Ziel dem Gerichtsstand des Erfüllungsorts zugrunde liegt (GA Saugmandsgaard Øe, C‑59/19 , Wikingerhof,Rn 32 mwN) wohl besser geeignet wären, über inhaltliche Fragen der Vertragserfüllung zu entscheiden.
#31] 5. Für den Obersten Gerichtshof stellt sich daher im gegebenen Zusammenhang die Frage, ob für die Bestimmung des Erfüllungsorts bei Distanzdienstleistungen wie vorliegend der Ort maßgeblich ist, an dem die Dienstleisterin (hier die Klägerin) tätig wurde, oder der Ort, für den die Dienstleistung erbracht wurde bzw wo sie die Gläubigerin (hier die Beklagte) erreichte.
Zu II.:
[19] Der Ausspruch über die Aussetzung des Verfahrens bis zur Erledigung des Vorabentscheidungsersuchens gründet sich auf § 90a Abs 1 GOG.
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