OGH 13Os57/23s

OGH13Os57/23s28.6.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 28. Juni 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel und den Hofrat des Obersten Gerichtshof Dr. Oberressl in Gegenwart der Schriftführerin Richteramtsanwärterin Mag. Mair in der Strafsache gegen * L* und eine Angeklagte wegen Verbrechen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 und 3a Z 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 10 Hv 68/22t des Landesgerichts Ried im Innkreis, über die Grundrechtsbeschwerde der Angeklagten C* gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Beschwerdegericht vom 30. Mai 2023, AZ 10 Bs 124/23s, (ON 75) nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0130OS00057.23S.0628.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Grundrechte

 

Spruch:

Die Grundrechtsbeschwerdewird zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Mit Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis als Schöffengericht vom 16. Jänner 2023 (ON 63) wurde C* der Verbrechen der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1 und 3 StGB und nach § 107b Abs 1 und 3a Z 1 StGB schuldig erkannt und hiefür zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

[2] Danach hat sie vom September 2021 bis zum 28. September 2022 in R* gegen A*, geboren *, und den am * geborenen, somit unmündigen J* eine längere Zeit hindurch fortgesetzt Gewalt ausgeübt, und zwar indem sie

ihnen in 4-wöchentlichen Abständen mit einem Kochlöffel, ab Jahresbeginn 2022 mit einer Wasserwaage, zumindest zehn Schläge gegen das nackte Gesäß versetzte, wodurch die Genannten Hämatome erlitten,

im Februar 2022 den Penis und die Afterregion der Genannten mit „Habaneros“-Chilis einrieb, wodurch beide mehrtägig starke Schmerzen im Genitalbereich erlitten,

A* am 28. September 2022 androhte, ihn mit Kabelbindern zu fesseln, den Mund zuzukleben und in sein Zimmer zu verbringen und überdies wiederholt die Wohnungstüre versperrte, um ihn daran zu hindern, die Wohnung zu verlassen, wobei sie durch die Taten eine umfassende Kontrolle des Verhaltens des A* herstellte oder eine erhebliche Einschränkung seiner autonomen Lebensführung bewirkte, und

J* wiederholt dazu nötigte, ein Brot mit Käseaufstrich zu essen, indem sie es ihm – Brechreiz auslösend – gewaltsam in den Mund schob.

[3] Dieses Urteil bekämpfen (unter anderem) die Angeklagte C* mit Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung sowie die Staatsanwaltschaft mit (zu deren Nachteil ausgeführter) Berufung. Über diese Rechtsmittel wurde noch nicht entschieden.

[4] Mit Beschluss vom 9. Mai 2023 (ON 70) setzte der Vorsitzende des Schöffensenats die (auf Antrag der Staatsanwaltschaft [ON 1. 3]) am 2. Oktober 2022 über die Angeklagte C* aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO verhängte Untersuchungshaft (ON 13) neuerlich fort.

[5] Mit der angefochtenen Entscheidung gab das Oberlandesgericht Linz der gegen diesen Beschluss erhobenen Beschwerde der Genannten nicht Folge und ordnete aus demselben Haftgrund die Fortsetzung der Untersuchungshaft an (ON 75).

Rechtliche Beurteilung

[6] Die dagegen gerichtete Grundrechtsbeschwerde der Angeklagten C* wendet sich gegen die Annahme des Haftgrundes und behauptet Unverhältnismäßigkeit sowie Substituierbarkeit der Haft durch Anwendung gelinderer Mittel.

[7] Die rechtliche Annahme der in § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren überprüft der Oberste Gerichtshof im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens darauf, ob sich diese angesichts der zugrunde gelegten bestimmten Tatsachen als willkürlich, mit anderen Worten als nicht oder nur offenbar unzureichend begründet darstellt (RIS-Justiz RS0117806).

[8] Die von § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO geforderte Prognoseentscheidung gründete das Beschwerdegericht (ausgehend von der bereits durch den Schuldspruch des Erstgerichts gegebenen dringenden Verdachtslage) auf den langen Tatzeitraum und die wiederholten, teils unter Einsatz einer Waffe erfolgten Angriffe, die eine hohe Gewalt- und Aggressionsbereitschaft sowie eine „nahezu sadistische“ Persönlichkeitsstruktur (oder eine Persönlichkeitsstörung) der Angeklagten zeigen würden. Die derzeitige Fremdunterbringung der Söhne der Angeklagten ändere an der Gefahrenlage nichts, weil die durch die Tathandlungen manifestierte Gefühlskälte und Verrohung der Angeklagten auf ein außergewöhnlich tiefgreifendes Charakterdefizit hinweise, welches nahelege, es könnten auch andere Personen Opfer von ähnlicher massiver Gewalt werden (BS 3).

[9] Soweit die Grundrechtsbeschwerde einzelne Elemente der dargestellten Argumentationskette anhand eigener Plausibilitätsüberlegungen als „unbegründet“ oder „weltfremd“ bekämpft, ohne sich mit der Gesamtheit der in Rede stehenden Erwägungen des Beschwerdegerichts auseinanderzusetzen, ist sie nicht gesetzmäßig ausgeführt (vgl RIS-Justiz RS0106464 [T4]).

[10] Indem die Beschwerde kritisiert, dass dem angefochtenen Beschluss nicht zu entnehmen sei, „welche Personen nun tatsächlich gefährdet sind bzw gegen welche Personen die Angeklagte aggressiv oder gewalttätig vorgehen würde“, übersieht sie im Übrigen, dass der Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 lit a und b StPO nicht auf die – naturgemäß nicht mögliche – Vorhersage konkreter Taten abstellt (RIS-Justiz RS0113445).

[11] Die Haftvoraussetzung der Verhältnismäßigkeit und der Nichterreichbarkeit der Haftzwecke durch gelindere Mittel wurde im ordentlichen Beschwerdeverfahren keiner Anfechtung unterzogen (ON 71), insoweit war die Beschwerde somit schon mangels Erschöpfung des Instanzenzugs zurückzuweisen (RIS-Justiz RS0114487 [insbesondere T3, T8, T10, T18, T20 und T22]).

[12] Unverhältnismäßigkeit der zum Zeitpunkt der Entscheidung des Oberlandesgerichts etwa acht Monate dauernden Untersuchungshaft ist angesichts der vom Beschwerdegericht hervorgehobenen Tatschwere und der Höhe der in erster Instanz verhängten Freiheitsstrafe (RIS‑Justiz RS0108401) im Übrigen keinesfalls gegeben.

[13] Die Grundrechtsbeschwerde war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) zurückzuweisen.

Stichworte