OGH 1Ob88/23g

OGH1Ob88/23g27.6.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J* U*, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 11.120 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 17. März 2023, GZ 14 R 3/23y‑38, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 23. September 2022, GZ 33 Cg 44/21i‑24, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00088.23G.0627.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Amtshaftung inkl. StEG, Grundrechte, Persönlichkeitsschutzrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

I. Der Antrag auf Anberaumung einer Revisionsverhandlung wird abgewiesen.

II. Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 860,25 EUR bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Ende 2019 trat eine bis dahin unbekannte Viruserkrankung auf, die durch das Corona‑Virus SARS‑CoV‑2 verursacht wird und deshalb die Kurzbezeichnung COVID‑19 erhielt. Die Krankheit nahm in den ersten Monaten 2020 das Ausmaß einer weltweiten Pandemie an. Angesichts ihrer raschen Ausbreitung und ihrer Gefährlichkeit, insbesondere für sogenannte „vulnerable Bevölkerungsgruppen“, unter denen die Anzahl der schweren Verläufe und Todesfälle erheblich war, sah sich weltweit ein Großteil der Staaten veranlasst, Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu treffen.

[2] In Österreich wurde das COVID‑19‑Maßnahmengesetz, Art 8 BGBl I 2020/12 (kurz: COVID‑19‑MaßnahmenG), beschlossen, das am 15. 3. 2020 kundgemacht wurde und am 16. 3. 2020 in Kraft trat (§ 4 Abs 1 leg cit).

[3] In § 2 Z 1 COVID‑19‑MaßnahmenG wurde der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (kurz: Gesundheitsminister) ermächtigt, beim Auftreten von COVID‑19 für das gesamte Bundesgebiet durch Verordnung „das Betreten von bestimmten Orten“ zu untersagen, „soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erforderlich ist“.

[4] Ein Verstoß gegen ein solches Betretungsverbot war nach § 3 Abs 3 COVID‑19‑MaßnahmenG mit einer Verwaltungsstrafe von bis zu 3.600 EUR bedroht.

[5] Die Erläuternden Bemerkungen zum COVID‑19‑MaßnahmenG (IA 396/A 27. GP  10 vom 14. 3. 2020) lauten auszugsweise:

„Zu Artikel 8 (COVID-19-Maßnahmengesetz):

Das Epidemiegesetz … sieht verschiedene Maßnahmen vor, die auch zur Bewältigung der sog. 'Corona‑Krise' herangezogen wurden. Mit dem Fortschreiten der Pandemie hat sich jedoch herausgestellt, dass die Maßnahmen des Epidemiegesetzes 1950 nicht ausreichend bzw zu kleinteilig sind, um die weitere Verbreitung von COVID‑19 zu verhindern.

Es sollen daher in einem ersten Schritt jene Maßnahmen ermöglicht werden, die unbedingt erforderlich sind, um die weitere Verbreitung zu verhindern. ...

Zu § 2:

Es soll auch die Möglichkeit bestehen, das Betreten bestimmter Orte zu untersagen. Dies können etwa Kinderspielplätze, Sportplätze, See‑ und Flussufer oder konsumfreie Aufenthaltszonen sein. Diese Orte können in der Verordnung abstrakt ('Kinderspielplätze', 'Sportplätze') oder durch eine genaue Ortsangabe (zB betreffend bestimmte konsumfreie Zonen, Ortsgebiete, Gemeinden) oder eine Kombination aus beidem (Kinderspielplätze in einem bestimmten Bundesland) umschrieben werden.“

[6] Aufgrund von § 2 Z 1 COVID‑19‑MaßnahmenG erließ der Gesundheitsminister noch am 15. 3. 2020 (Sonntag) die Verordnung gemäß § 2 Z 1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes, BGBl II 2020/98 (in der Folge kurz: Verordnung 98), die nach ihrem § 5 am 16. 3. 2020 in Kraft trat. Die Verordnung 98 lautete auszugsweise:

„Auf Grund von § 2 Z 1 des COVID‑19‑Maßnahmengesetzes, BGBl I Nr 12/2020, wird verordnet:

§ 1. Zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 ist das Betreten öffentlicher Orte verboten.

§ 2. Ausgenommen vom Verbot gemäß § 1 sind Betretungen,

1. die zur Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib, Leben und Eigentum erforderlich sind;

2. die zur Betreuung und Hilfeleistung von unterstützungsbedürftigen Personen dienen;

3. die zur Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens erforderlich sind und sichergestellt ist, dass am Ort der Deckung des Bedarfs zwischen den Personen ein Abstand von mindestens einem Meter eingehalten werden kann;

4. die für berufliche Zwecke erforderlich sind und sichergestellt ist, dass am Ort der beruflichen Tätigkeit zwischen den Personen ein Abstand von mindestens einem Meter eingehalten werden kann;

5. wenn öffentliche Orte im Freien alleine, mit Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, oder mit Haustieren betreten werden sollen, gegenüber anderen Personen ist dabei ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten. ...“

[7] Mit Verordnung BGBl II 2020/108 wurde die Geltungsdauer der Verordnung 98 bis 13. 4. 2020 und mit Verordnung BGBl II 2020/148 bis 30. 4. 2020 verlängert.

[8] Gemäß § 13 Abs 2 Z 2 der COVID‑19‑Lockerungsverordnung, BGBl II 2020/197, trat die Verordnung 98 mit Ablauf des 30. 4. 2020 außer Kraft.

[9] Mit Erkenntnis vom 14. 7. 2020, V 363/2020 (VfSlg 20398) – rund zweieinhalb Monate nachdem die Verordnung 98 außer Kraft getreten war – sprach der Verfassungsgerichtshof aus, dass § 1 und § 2 der Verordnung 98 (idF BGBl 2020/108) – zusammengefasst – deshalb gesetzwidrig gewesen seien, weil sie die gesetzliche Ermächtigung des § 2 Z 1 COVID‑19‑MaßnahmenG überschritten hätten (Punkt IV.B.3.). § 1 der Verordnung 98 verbiete zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 „das Betreten öffentlicher Orte“. § 2 dieser Verordnung sehe bestimmte Ausnahmen von diesem allgemeinen Betretungsverbot öffentlicher Orte vor. § 1 und § 2 der Verordnung 98 gingen von einem weitreichenden Regelungsansatz eines umfassenden Verbots mit Ausnahmen aus. Sinn des § 1 der Verordnung 98 sei es, grundsätzlich die Menschen durch das allgemeine Betretungsverbot des § 1 dazu zu verhalten, „zu Hause“ zu bleiben. In diesem Sinn umfassten die „öffentlichen Orte“, deren Betreten § 1 der Verordnung 98 untersage, jedenfalls den öffentlichen Raum, den der einzelne zwangsläufig betreten müsse, um von seiner Wohnung (im weiteren Sinn des Art 8 EMRK) an jeden anderen Ort zu gelangen.

[10] Zwar habe der Verordnungsgeber in § 2 der Verordnung 98 einzelne Ausnahmen von diesem allgemeinen Betretungsverbot vorgesehen. Diese, insbesondere auch die zwar nicht auf einen bestimmten Zweck abstellende, aber dennoch auf bestimmte Konstellationen begrenzte Ausnahme des § 2 Z 5 der Verordnung 98, änderten aber nichts daran, dass § 1 der Verordnung 98 ein allgemeines Betretungsverbot öffentlicher Orte vorsähe und damit – entgegen der gesetzlichen Vorgabe des § 2 COVID‑19‑MaßnahmenG – nicht das Betreten bestimmter, eingeschränkter Orte untersage, sondern durch ein Betretungsverbot für alle öffentlichen Orte der Sache nach als Grundsatz von einem allgemeinen Ausgangsverbot ausgehe. Wenn § 2 COVID‑19‑MaßnahmenG im Rahmen grundsätzlich bestehender Freizügigkeit aber nur Betretungsverbote für bestimmte Orte (mögen sie abstrakt, etwa durch ihren Verwendungszweck, oder örtlich umschrieben sein) vorsähe, dann ermächtige das Gesetz gerade nicht zu einem allgemeinen gesetzlichen Verbot mit Erlaubnistatbeständen. Jedenfalls bedürfe eine dermaßen weitreichende, weil dieses Recht im Grundsatz aufhebende Einschränkung der Freizügigkeit einer konkreten und entsprechend näher begründeten Grundlage im Gesetz (VfGH V 363/2020 [Punkt IV.B.3.1.]).

[11] Der Kläger verkauft eine „Straßenzeitung“. Verwaltungsstraforgane verhängten über ihn mit Strafverfügung vom 2. 4. 2020 eine Geldstrafe von 500 EUR wegen des Verstoßes gegen § 3 Abs 3 und § 2 COVID‑19‑MaßnahmenG iVm § 1 der Verordnung 98, weil er am 27. 3. 2020 einen bestimmten Bahnhofbetreten habe, obwohl in der Zeit von 16. 3. bis 13. 4. 2020 das Betreten öffentlicher Orte verboten gewesen sei. Er habe am Bahnhof die „Straßenzeitung“ angeboten und dabei den Sicherheitsabstand von mindestens einem Meter zu den Passanten deutlich unterschritten.

[12] Der Kläger erhob dagegen Einspruch. Nachfolgend wurde das Verwaltungsstrafverfahren gegen ihn am 6. 8. 2020 gemäß § 45 Abs 1 VStG eingestellt.

[13] Der Kläger begehrt Verdienstentgang von 2.400 EUR für die Monate April, Mai, Juni und Juli 2020 (je 600 EUR) sowie ideellen Schadenersatz von 8.720 EUR (für 109 Tage einer behaupteten Freiheitsentziehung nach Art 5 EMRK, wobei ihm 80 EUR pro Tag zustünden). § 1 der Verordnung 98 habe das Betreten öffentlicher Orte verboten und dadurch die gesetzliche Ermächtigung des § 2 COVID‑19‑MaßnahmenG, das Betreten bestimmter Orte zu untersagen, überschritten. Der Gesundheitsminister habe dadurch unvertretbar gesetzwidrig gehandelt. Dies ergebe sich daraus, dass der Verfassungsgerichtshof die Gesetzwidrigkeit dieser Verordnung ausgesprochen habe. Der Verdienstentgang ergebe sich daraus, dass der Kläger nach dem Vorfall vom 27. 3. 2020 seine Tätigkeit als Verkäufer einer „Straßenzeitung“ in den Monaten April, Mai, Juni und Juli 2020 aus Angst vor weiteren Geldstrafen nicht ausgeübt habe, weil solche Geldstrafen für ihn eine enorme finanzielle Belastung und existentielle Bedrohung bedeutet hätten. Es sei ihm keinesfalls zumutbar gewesen, sich einem solchen ökonomischen Risiko auszusetzen, weshalb ihm die Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit im Zeitraum von April bis Juli 2020 nicht möglich gewesen sei. Den Schadenersatzanspruch stützt er auch auf eine Freiheitsentziehung nach Art 5 EMRK und auf das Recht auf Erwerbsausübungsfreiheit. Neben dem Verdienstentgang habe er für 109 Tage eine Freiheitsentziehung erlitten, weil ein generelles Ausgangsverbot bestanden habe.

[14] Die Beklagte wandte im Wesentlichen ein, eine Freiheitsentziehung im Sinn des Art 5 EMRK sei nie vorgelegen. Der behauptete Verdienstentgang sei ein bloß mittelbarer Schaden, für den kein Amtshaftungsanspruch bestehe. Die einschlägigen Bestimmungen des VStG hätten nicht den Zweck, den Kläger vor etwaigen Vermögensnachteilen zu schützen. Die Erlassung der Verordnung 98 sei vertretbar im Sinn des Amtshaftungsrechts erfolgt, weil sie in einer krisenhaften dynamischen Situation vorgenommen worden sei, in der aufgrund der grassierenden COVID‑19‑Pandemie ein rasches und umfassendes Handeln geboten gewesen sei, um die Ausbreitung des COVID‑19‑Virus im gesamten Bundesgebiet möglichst hintanzuhalten. Dies sei nur durch breit gefächerte Regelungen zu bewerkstelligen gewesen. Der Schaden wäre auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten des Gesundheitsministers – Erlassung einer gesetzeskonformen Verordnung – eingetreten.

[15] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Gesundheitsminister sei vertretbar davon ausgegangen, dass das Verbot des Betretens öffentlicher Orte mit Ausnahmen ein Verbot des Betretens von bestimmten Orten darstelle, das er auf Basis des § 2 COVID‑19‑MaßnahmenG erlassen könne, weil dazu zum Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung 98 noch keine Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs bestanden habe und die Verordnung unter besonderem Zeitdruck erarbeitet habe werden müssen. Nicht jedes – hier vom Verfassungsgerichtshof – ex post als rechtswidrig erkannte Verhalten sei schuldhaft im Sinn des § 1 Abs 1 AHG. Auch ein Ersatzanspruch nach Art 5 EMRK bestehe nicht, weil der Kläger durch das Nichteinhalten des Mindestabstands zu Passanten eine Gefahrenquelle für die Ausbreitung von COVID‑19 gebildet habe.

[16] Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil und ließ die ordentliche Revision zu.

[17] Dem Kläger sei durch die in der Verordnung 98 enthaltenen Betretungsverbote nicht die „persönliche Freiheit“ entzogen worden, weshalb er keinen Anspruch auf verschuldensunabhängigen Schadenersatz nach Art 5 Abs 5 EMRK habe. Eine bloße Rechtspflicht (zum Aufenthalt an einem bestimmten Ort) sei nur dann ein „Freiheitsentzug“ im Sinn des Art 5 EMRK, wenn die Verpflichtung durch unmittelbaren physischen Zwang durchgesetzt werden könne, nicht jedoch, wenn die Durchsetzung erst im Wege eines gesonderten Vollstreckungsverfahrens erfolge oder wenn im Fall der Nichtbefolgung lediglich eine strafrechtliche Sanktion oder sonstige Rechtsnachteile nicht freiheitsentziehender Art drohten. Dem Kläger hätten weder eine „Festnahme“ noch eine „Haft“ gedroht, noch seien diese verwirklicht worden, weshalb einem Entschädigungsanspruch nach Art 5 Abs 5 EMRK von vornherein die Grundlage fehle.

[18] Die Gesetzwidrigkeit der Verordnung 98 sei vom Verfassungsgerichtshof erst mit Erkenntnis vom 14. 7. 2020, V 363/2020, festgestellt worden, nachdem die Verordnung 98 bereits „seit“ 30. 4. 2020 außer Kraft getreten gewesen sei. Zum Zeitpunkt der Erlassung der Verordnung 98 („ex ante“) – die gleichzeitig mit der Veröffentlichung des COVID‑19‑MaßnahmenG am 15. 3. 2020 im Bundesgesetzblatt erfolgt sei – habe weder eine Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshof noch irgendeine Fachliteratur zur Auslegung des § 2 Z 1 COVID‑19‑MaßnahmenG existiert. Vorhanden seien nur die Erläuternden Bemerkungen zum Gesetzestext gewesen, die Anhaltspunkte zur Auslegung geboten hätten. Beim Ausdruck „bestimmte Orte“ in § 2 COVID‑19‑MaßnahmenG handle es sich um einen unbestimmten Gesetzesbegriff, der der Auslegung bedürfe, wobei der äußerste mögliche Wortsinn deren Grenze festlege. Der Gesundheitsminister sei aufgrund der Erläuternden Bemerkungen, wonach die „bestimmten Orte“ auch rein abstrakt umschrieben werden könnten, vertretbar davon ausgegangen, dass der Ausdruck „öffentliche Orte“ eine abstrakte Umschreibung „bestimmter Orte“ des § 2 COVID‑19‑MaßnahmenG sein könne. Der Ausdruck „öffentliche Orte“ finde auch Deckung im äußerst möglichen Wortsinn des Ausdrucks „bestimmte Orte“, zumal er eine konkrete Eigenschaft – nämlich „öffentlich“ – enthalte. Das Klagebegehren sei daher mangels eines den Gesundheitsminister bei der Erlassung der Verordnung 98 treffenden Verschuldens abzuweisen.

[19] Zudem habe der vom Kläger für die Monate Mai, Juni und Juli 2020 geltend gemachte Schadenersatzanspruch – und zwar sowohl Verdienstentgang als auch ideeller Schadenersatz – durch die Verordnung 98 gar nicht erst kausal verursacht werden können, weil diese bereits „am“ 30. 4. 2020 außer Kraft getreten sei. Der Kläger habe daher nach dem 30. 4. 2020 keine begründeten Befürchtungen haben können, aufgrund der Verordnung 98 nochmals mit einer Geldstrafe belastet zu werden. Die behaupteten Schadenersatzansprüche für Mai bis Juli 2020 stünden ihm daher schon mangels kausaler Verursachung durch diese Verordnung nicht zu.

[20] Die ordentliche Revision sei aufgrund der über den Einzelfall hinausgehenden Bedeutung der „beurteilten Rechtsfrage der Gesetzesauslegung“ zulässig.

[21] Die dagegen erhobene Revision des Klägers ist zulässig, weil sich der Oberste Gerichtshof zu Ersatzansprüchen aufgrund rechtswidriger Bestimmungen der Verordnung 98 noch nicht geäußert hat. Sie ist aber nicht berechtigt.

Zu I.

Rechtliche Beurteilung

[22] Gemäß § 509 Abs 1 ZPO entscheidet der Oberste Gerichtshof über die Revision grundsätzlich in nichtöffentlicher Sitzung ohne vorherige mündliche Verhandlung. Da der Oberste Gerichtshof nicht Tatsacheninstanz ist und auch sonst keine Gründe für eine Revisionsverhandlung erkennbar sind, besteht kein Anlass, im Sinn des § 509 Abs 2 ZPO ausnahmsweise eine solche Verhandlung anzuberaumen. Der diesbezügliche Antrag des Klägers, der nicht näher begründet ist, ist daher abzuweisen (RS0043679 [T5]; vgl RS0043689 [T5]).

Zu II.

[23] 1. Für den Zeitraum nach Außerkrafttreten der Verordnung 98 bestehen jedenfalls keine Ansprüche:

[24] 1.1. Der Kläger macht für die Monate Mai, Juni und Juli 2020 Verdienstentgang von je 600 EUR (gesamt 1.800 EUR) geltend, weil er seine Tätigkeit als Verkäufer einer „Straßenzeitung“ aufgrund der wegen eines Verstoßes gegen die Verordnung 98 zu erwartenden Geldstrafen nicht ausgeübt habe.

[25] Weiters begehrt er für 109 Tage einer behaupteten Freiheitsentziehung, gestützt auf Art 5 EMRK, Schadenersatz von 80 EUR pro Tag. Für welchen konkreten Zeitraum er diesen ideellen Schadenersatzanspruch geltend macht, legt er nicht dar. Er behauptet jedoch die Freiheitsentziehung gerade durch die Verordnung 98.

[26] 1.2. Die Verordnung 98 trat am 16. 3. 2020 in Kraft (§ 5 leg cit) und – nach zwischenzeitiger zweimaliger Verlängerung ihrer Geltungsdauer – mit Ablauf des 30. 4. 2020 außer Kraft (§ 13 Abs 2 Z 2 COVID‑19‑Lockerungsverordnung). Sie stand daher 46 Tage in Geltung.

[27] 1.3. Zutreffend argumentierte das Berufungsgericht, dass die behaupteten Ersatzansprüche dem Kläger für Mai, Juni und Juli 2020 mangels Verursachung durch die Verordnung 98 keinesfalls zustehen, weil diese Verordnung bereits (zuvor) mit Ablauf des 30. 4. 2020 außer Kraft getreten war. Dagegen führt der Kläger – wenig überzeugend – nur an, er habe die Aufhebung der Verordnung 98 nicht „beobachten und ... wahrnehmen ... müssen“. Nach Außerkrafttreten der Verordnung 98 können durch diese aber weder der für die Zeit danach geltend gemachte Verdienstentgang noch ideeller Schaden verursacht worden sein.

[28] 2. Verschuldensunabhängige Schadenersatzansprüche nach Art 5 Abs 5 EMRK und Art 7 B‑VG über den Schutz der persönlichen Freiheit (PersFrSchG) bestehen ebenfalls nicht:

[29] 2.1. Der Kläger macht geltend, ihm sei durch die in der Verordnung 98 enthaltenen gesetzwidrigen Betretungsverbote die „persönliche Freiheit“ entzogen worden, weshalb er Anspruch auf einen verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruch nach Art 5 Abs 5 EMRK bzw Art 7 PersFrSchG habe. Diese Ansicht trifft aus den nachstehend genannten Gründen nicht zu.

[30] 2.2. Gemäß Art 2 Abs 1 Z 5 des im Verfassungsrang stehenden PersFrSchG darf „die persönliche Freiheit einem Menschen ... auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden, wenn Grund zur Annahme besteht, dass er eine Gefahrenquelle für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten sei ...“.

[31] Art 5 Abs 1 lit e EMRK regelt, dass „die Freiheit einem Menschen nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden darf, … weil er eine Gefahrenquelle für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten bildet ...“.

[32] Gemäß Art 7 PersFrSchG hat jedermann, der rechtswidrig festgenommen oder angehalten wurde, Anspruch auf volle Genugtuung einschließlich des Ersatzes nicht vermögensrechtlichen Schadens. Diese Bestimmung entspricht inhaltlich jener des Art 5 Abs 5 EMRK (1 Ob 153/98a). Art 5 Abs 5 EMRK gewährt jedermann, dem seine Freiheit durch Festnahme oder Haft durch einen Träger öffentlicher Gewalt entzogen wurde, selbständige, unmittelbare, in Österreich ohne weiteres Ausführungsgesetz und unter Anwendung der Bestimmungen des Amtshaftungsgesetzes gegen den Rechtsträger, dessen Organe Art 5 EMRK in Vollziehung des Gesetzes verletzen, geltend zu machende, vom Verschulden der Organe unabhängige Schadenersatzansprüche. Zu ersetzen sind nicht nur materielle Schäden, sondern auch der durch die Verletzung des Rechtsguts der Freiheit entstandene immaterielle Schaden (RS0037896; vgl auch RS0050017). Es handelt sich dabei um einen, von den Anspruchsgrundlagen des AHG unabhängigen, verfassungsunmittelbaren Schadenersatzanspruch (RS0031690; RS0037896 [T1]; RS0050017 [T1]; 1 Ob 190/15w [Punkt 1.] mwN).

[33] 2.3. Voraussetzung des in Art 7 PersFrSchG und Art 5 Abs 5 EMRK geregelten verschuldensunabhängigen Schadenersatzanspruchs ist grundsätzlich das Vorliegen eines Freiheitsentzugs. Der Schutzbereich dieser Bestimmungen erfasst (nur) den Freiheitsentzug, worunter nicht jegliche Beschränkung der Bewegungsfreiheit, sondern nur eine rechtswidrige Verhaftung, Inverwahrungnahme, Internierung und Konfinierung zu verstehen ist (Kopetzki in Korinek/ Holoubek/Bezemek/Fuchs/Martin/Zellenberg, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 1 PersFrG Rz 19; VfGH B 1159/98 ua, VfSlg 15465).

[34] Der EGMR (Bsw 49933/20, Terheş gegen Rumänien) qualifizierte einen staatlich verordneten Lockdown „aus Gründen des Gesundheitsschutzes“ infolge der Pandemie durch COVID‑19 nicht als Freiheitsentzug im Sinn des Art 5 Abs 1 EMRK. Den Beschwerdeführer trafen 52 Tage (von 24. 3. bis 14. 5. 2020) Beschränkungen, die dazu führten, dass er verpflichtet war, in seiner Wohnung zu bleiben, ausgenommen bei Vorliegen ausdrücklich genannter Gründe und versehen mit einer entsprechenden Bescheinigung. Der Beschwerdeführer konnte seine Wohnung aus verschiedenen Gründen verlassen und sich zu der Tageszeit, zu der ihm das notwendig erschien, an verschiedene Orte begeben. Er wurde nicht individuell überwacht. Angesichts dieser Umstände urteilte der EGMR, der Grad der Beschränkung der Freizügigkeit des Beschwerdeführers sei nicht intensiv genug gewesen, dass er rechtfertigen würde, den allgemeinen Lockdown als eine Freiheitsentziehung zu bezeichnen. Wenn es dem Betroffenen daher möglich war, sein Zuhause aus einer Reihe von Gründen zu verlassen, und er keiner individuellen behördlichen Überwachung unterworfen wurde, bildet eine solche Ausgangsbeschränkung zur Bekämpfung der COVID‑19‑Pandemie grundsätzlich keine Freiheitsentziehung im Sinn des Art 5 Abs 1 EMRK (dazu Danzl in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 § 1329 ABGB Rz 75).

[35] Zu § 1 der 2. COVID‑19-Notmaßnahmenverordnung, BGBl II 2020/598, hat der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen, dass die dort normierte Ausgangsregelung infolge der weitreichenden Ausnahmen (insbesondere zugunsten von beruflichen Zwecken und zugunsten des Aufenthalts im Freien zum Zweck der Erholung) keine Freiheitsentziehung im Sinn von Art 5 EMRK und dem PersFrSchG zum Gegenstand hatte (VfGH V 2/2021, VfSlg 20476 [Punkt IV.B.3.3.3.1.]). Auch die durch mehrere Ausnahmen durchbrochene Ausgangsregelung des § 3 der 6. COVID‑19‑Schutzmaßnahmenverordnung, BGBl II 2021/537 idF BGBl II 2022/24, mit der zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 und zur Verhinderung eines Zusammenbruchs der medizinischen Versorgung das Verlassen des eigenen privaten Wohnbereichs und der Aufenthalt außerhalb des eigenen privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zwecken zulässig war, griff nicht in den Schutzbereich des PersFrSchG ein (VfGH V 35/2022 [Punkt IV.2.2.2.]).

[36] 2.4. Nach § 1 der Verordnung 98 war zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 das Betreten öffentlicher Orte verboten. Nach § 2 waren von diesem Verbot Betretungen ausgenommen, die zur Abwendung einer unmittelbaren Gefahr für Leib, Leben und Eigentum erforderlich sind (Z 1), die zur Betretung und Hilfeleistung von unterstützungsbedürftigen Personen dienen (Z 2), die zur Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens erforderlich sind und sichergestellt ist, dass am Ort der Deckung des Bedarfs zwischen den Personen ein Abstand von mindestens einem Meter eingehalten werden kann (Z 3), die für berufliche Zwecke erforderlich sind und sichergestellt ist, dass am Ort der beruflichen Tätigkeit insbesondere zwischen den Personen ein Abstand von mindestens einem Meter eingehalten werden kann (Z 4) und wenn öffentliche Orte im Freien alleine, mit Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben oder mit Haustieren betreten werden sollen; gegenüber anderen Personen war dabei ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten (Z 5).

[37] Speziell § 2 Z 5 leg cit enthielt einen äußerst weitreichenden Erlaubnistatbestand, weil er (abgesehen von der Verpflichtung, einen Mindestabstand von einem Meter zu anderen Menschen einzuhalten) das Betreten von öffentlichen Orten ohne weitere Bedingungen zuließ. Die Sinnhaftigkeit von § 2 Z 1 bis 4 Verordnung 98 erschließt sich daher erst aus deren § 4, weil dort geregelt war, dass Massenbeförderungsmittel (vor allem also öffentliche Verkehrsmittel) beim Erlaubnistatbestand der Z 5 nicht genutzt werden durften. Das Verbot der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel führte zwar zu einer gravierenden Mobilitätseinschränkung, jedoch konstatierten selbst Kritiker der Verordnung (Prankl, COVID‑19: Sind die Ausgangsbeschränkungen gesetzwidrig? ZfG 2020, 58 [60]), dass mehr erlaubt war als gemeinhin angenommen. Öffentliche Orte durften immer betreten werden, sofern dabei ein Mindestabstand von einem Meter zu anderen Menschen eingehalten wurde. Gestützt auf § 2 Z 5 Verordnung 98 durfte der öffentliche Raum auch betreten werden, um andere zu besuchen.

[38] Angesichts dieser weitgehenden Ausnahmen vom Betretungsverbot liegt in der Ausgangsregelung der Verordnung 98, auf deren Gesetzwidrigkeit der Kläger seine Ansprüche stützt, kein Freiheitsentzug im Sinn des Art 5 EMRK bzw von Art 1 PersFrSchG. Diese Rechtsansicht wird auch in der Literatur geteilt (Friedrich, Corona und Grundrechte: Status quo in Österreich, NLMR 2020, 321 [324 und 326 FN 91]). Auch für den Verfassungsgerichtshof war klar, dass hier ein Eingriff in das Grundrecht auf Freizügigkeit, nicht aber in das Grundrecht auf persönliche Freiheit vorlag (VfGH V 363/2020 [Punkte IV.B.2.4. und IV.B.3.1.]; dazu Stöger, Ausgangsbeschränkungen; Bestimmtheitsgebot; Betretungsverbote; Freizügigkeit; Legalitätsprinzip; Lockdown; öffentliche Orte, RdM‑LS 2020/91, 197 [202]).

[39] 2.5. Damit scheidet schon mangels Freiheitsentzugs ein Ersatzanspruch nach Art 5 Abs 5 EMRK bzw Art 7 PersFrSchG aus. Der begehrte ideelle Schadenersatz infolge behaupteten Freiheitsentzugs steht daher jedenfalls nicht zu.

[40] 3. Die Regelungstechnik der Verordnung 98 war zwar gesetzwidrig, sie war jedoch vertretbar im Sinn des Amtshaftungsrechts:

[41] 3.1. Der Kläger vertritt die Ansicht, das in § 1 der Verordnung 98 vorgesehene Verbot, „öffentliche Orte“ zu betreten, sei vom Gesundheitsminister in unvertretbarer Auslegung des § 2 Z 1 COVID‑19‑MaßnahmenG infolge Überschreitung von dessen Grenzen erlassen worden. Diese Rechtsansicht wird vom Senat aus den nachstehend angeführten Gründen nicht geteilt.

[42] 3.2. Durch den Ausspruch des Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis V 363/2020 (VfSlg 20398) steht fest, dass § 1 und § 2 der Verordnung 98 gesetzwidrig waren, weil nach § 2 Z 1 COVID‑19‑MaßnahmenG keine gesetzliche Grundlage für ein umfassendes Betretungsverbot für öffentliche Orte bestanden hat. Damit steht die Rechtswidrigkeit dieser Verordnungsbestimmungen, auf deren Erlassung durch ein Organ der Beklagten der Kläger seinen Anspruch auf Verdienstentgang stützt, fest. Durch den Ausspruch des Verfassungsgerichtshofs ist daher die Frage nach der Rechtswidrigkeit des Organverhaltens als eine der Voraussetzungen des Klagsanspruchs geklärt (RS0049819 [T6, T7]).

[43] 3.3. Ein rechtswidriges Organverhalten – wie es sich hier aus der Gesetzwidrigkeit von § 1 und § 2 der Verordnung 98 ergibt – muss aber noch nicht schuldhaft im Sinn von § 1 AHG sein (RS0049971). Bei der Beurteilung dieser Frage sind die Amtshaftungsgerichte nicht an die dies berührenden Wertungen in einem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs gebunden (RS0117584). Verschulden liegt insbesondere dann nicht vor, wenn das für den Rechtsträger zum Handeln verpflichtete Organ rasche Entschlüsse in einer nur schwer durchschaubaren Situation fassen muss oder hätte fassen müssen, sodass nicht schon jedes – ex post als rechtswidrig erkanntes – Verhalten auch als schuldhaft im Sinn des § 1 Abs 1 AHG beurteilt werden kann. Es kommt stets darauf an, ob die vom Organ getroffene Entscheidung bei pflichtgemäßer Überlegung als vertretbar anzusehen ist (RS0049971; RS0049798 [T9]).

[44] 3.4. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (1 Ob 75/22v [Rz 11]) galt das Argument, dass Verordnungen in der Regel nicht unter besonderem Zeitdruck erarbeitet werden müssen, gerade in der ersten Phase der Pandemie bei den – wie auch hier – zu beurteilenden, auf das COVID‑19‑MaßnahmenG gestützten Verordnungen nicht (vgl auch Geroldinger in Resch, Corona‑HB1.06 Kap 21 Rz 31, 36; derselbe, Amtshaftung wegen Fehlern bei Bekämpfung der COVID‑19‑Pandemie?, JBl 2020, 523 [538]; vgl auch Hofstätter, Amtshaftung bei rechtswidriger COVID‑19‑Verordnungserlassung, ZfV 2021/57, 445 [452]). Der Oberste Gerichtshof hat zu 1 Ob 75/22f in Bezug auf die Verordnung von Betretungsverboten von Handels‑ und Dienstleistungsbetrieben sowie von Gastronomiebetrieben nach der COVID‑19‑Maßnahmenverordnung‑96, die vom Verfassungsgerichtshof als gesetzwidrig erklärt worden waren, die Vorgangsweise des Gesundheitsministers auch im Hinblick auf den engen Zeitfaktor, der bei der Erlassung der Verordnung zu berücksichtigen war, als vertretbar angesehen.

[45] 3.5. Ausgangspunkt des COVID‑19‑MaßnahmenG war der am 14. 3. 2020 (Samstag) eingebrachte Initiativantrag IA 396/A 27. GP . Der Gesetzgeber wurde hier außergewöhnlich schnell aktiv und beschloss das Gesetz in samstäglichen und sonntäglichen Sondersitzungen von Nationalrat und Bundesrat am 14. und 15. 3. 2020 (Friedrich, NLMR 2020, 322). Das COVID‑19‑MaßnahmenG wurde am 15. 3. 2020 (Sonntag) im Bundesgesetzblatt verlautbart und trat am 16. 3. 2020 (Montag) in Kraft. Verordnungen konnten nach seinem § 4 Abs 4 noch vor dem Inkrafttreten erlassen werden.

[46] Der Gesundheitsminister machte von der Ermächtigung in § 2 Z 1 COVID‑19‑MaßnahmenG Gebrauch und erließ noch am 15. 3. 2020 die Verordnung 98, die an diesem Tag im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde und ebenfalls am 16. 3. 2020 in Kraft trat.

[47] Dass infolge des großen Arbeits‑ und Zeitdrucks für die Formulierung der auf den Maßnahmen des COVID‑19‑MaßnahmenG beruhenden Verordnung 98 nicht dieselbe Sorgfalt an den Tag gelegt werden konnte wie wenn sie nicht unter einem solchen Zeitdruck erarbeitet hätte werden müssen, liegt auf der Hand und wird auch in der Fachliteratur anerkannt (vgl Stöger, RdM‑LS 2020, 199; Eller/Wachter, Die Rechtsprechung des VfGH zu den „Corona‑Regelungen“ der Bundesregierung, ÖJZ 2021/3, 12). Bei der Beurteilung der Verordnungstechnik – allgemeines Betretungsverbot für öffentliche Orte in § 1 und dazu in § 2 einige Ausnahmebestimmungen – ist zu berücksichtigen, dass die Verordnung aufgrund der damals bestehenden COVID‑19‑Pandemie (zum Wunsch des Gesetzgebers, die weitere Ausbreitung von COVID‑19 nicht „kleinteilig“ zu verhindern: IA 396/A BlgNR 27. GP  10 [zum COVID‑19‑MaßnahmenG]) noch am selben Tag erlassen wurde, an dem der Gesetzgebungsprozess im Parlament abgeschlossen worden war.

[48] 3.6. Der Verfassungsgerichtshof führte im Erkenntnis V 363/2020 aus, sowohl dem Wortlaut des § 2 COVID‑19‑MaßnahmenG („bestimmte Orte“) als auch den Erläuterungen zu diesem sei zu entnehmen, dass mit Verordnung gemäß § 2 nur das Betreten „regional abgegrenzter Gebiete“ bis hin zu Ortschaften (Punkt IV.B.2.3.3.) verboten werden durfte. Das Ziel solcher Verbote könne nur das „Unterbinden des Zusammentreffens von Menschen an bestimmten Orten“ sein. Auf der Grundlage dieser Ausführungen qualifizierte er § 1 Verordnung 98 als gesetzwidrig. Da § 1 als Grundregel ein umfassendes Betretungsverbot des öffentlichen Raums mit– wenn auch (insbesondere in § 2 Z 5) durchaus weitreichenden – Ausnahmen vorsah, sei sie über eine Regelung des Verbots des Betretens „bestimmter Orte“ klar hinausgegangen und gesetzwidrig gewesen. Die Verordnung habe den Ansatz des Gesetzes umgedreht und ein „Verbot mit bestimmten Ausnahmen“ statt „bestimmten Verboten“ vorgesehen (dazu Stöger, RdM‑LS 2020, 203).

[49] 3.7. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wurde diese Frage allerdings nicht so eindeutig beurteilt:

[50] Bereits vor dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshof hatte Fister (Grundrechte in der Krise, AnwBl 2020, 406 [408]) ausgeführt, dass die inhaltliche Determinierung einer Verordnung durch § 2 Z 1 COVID‑19‑MaßnahmenG „gleichwohl schwach“ gewesen sei. Unklar sei schon gewesen, was mit der Wendung „Betreten von bestimmten Orten“ gemeint sei. Man könne diese Wendung sehr eng auslegen (zB ein öffentlicher Platz in der sonst stark frequentierten Innenstadt), genauso aber sehr weit wie es der Gesundheitsminister letztlich auch getan habe, indem er ein allgemeines österreichweites Verbot des Betretens aller öffentlicher Orte verordnet habe.

[51] Auch Prankl (ZfG 2020, 62), der die Verordnung 98 als „offenkundig gesetzwidrig“ erachtete, hielt fest, dass, lasse man grundrechtliche Verhältnis‑mäßigkeitserwägungen einmal zurückstehen, § 2 COVID‑19‑MaßnahmenG der Erlassung eines bundesweiten Betretungsverbots für öffentliche Orte nicht grundsätzlich entgegenstehen würde, weil man schließlich – zumindest theoretisch – sämtliche Orte im Inland in einer Verordnung bestimmt bezeichnen könne. Mit einer solchen Aufzählung alleine werde aber den gesetzlichen Vorgaben nicht genüge getan, weil den Verordnungsgeber die Pflicht zur „Grundlagenforschung“ und konkreten Erforderlichkeitsprüfung treffe.

[52] Klaushofer/Kneihs/Palmstorfer/Winner (Ausgewählte unions‑ und verfassungsrechtliche Fragen der österreichischen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Covid‑19‑Virus, ZöR 2020, 649 [760 ff]) argumentieren, dass § 2 Z 1 COVID‑19‑MaßnahmenG den Gesundheitsminister nicht bloß zur Regelung des Betretens einzelner Orte ermächtigt habe. Dafür gebe es keinen Anhaltspunkt im Gesetz. Insbesondere habe der Gesetzgeber gerade nicht die Regelung des Betretens „einzelner“ oder „vereinzelter“, sondern eben „bestimmter“, also hinreichend deutlich festgelegter Orte erlaubt. Zudem weise diese Bestimmung darauf hin, dass der Gesetzgeber eine umfassende Geltung der Verordnung im Auge gehabt habe. Dort werde nicht etwa angeordnet, dass der Gesundheitsminister das Betreten bestimmter Orte im gesamten Bundesgebiet regeln könne, sondern es werde davon ausgegangen, dass sich die „Anwendung“ der Verordnung „auf das gesamte Bundesgebiet“ erstrecken könne. Das schließe zumindest die Möglichkeit ein, auch für das „gesamte Bundesgebiet“ Betretungsverbote zu erlassen. Halte man sich zudem den Gesetzgebungsprozess vor Augen, der von den bereits vorbereiteten Maßnahmen zur Eindämmung der weiteren Verbreitung des COVID‑19‑Virus geprägt gewesen sei und ihnen Deckung geben habe sollen, dann könne kein vernünftiger Grund daran bestehen, dass der Gesetzgeber ein bundesweites Verbot für das Betreten öffentlicher Orte zumindest in Kauf genommen habe. Fraglich sei freilich, ob der Gesundheitsminister diese Vorgabe eingehalten habe. Dies nicht so sehr wegen des Betretungsverbots. Das Verbot, das für das Betreten „öffentlicher Orte“ gelte, „bestimme“ damit eindeutig die Orte, auf die es Anwendung finden solle. Unsicher werde die Einhaltung der Verordnungsermächtigung aber durch die Ausnahmen, die von diesem Betretungsverbot gemacht worden seien: Sie bezögen sich nämlich nicht auf Orte, sondern auf Zwecke, denen das Betreten des öffentlichen Orts dienen solle. Damit werde aber nicht der Ort bestimmt, für den das Betretungsverbot gelten oder eben nicht gelten solle. Vielmehr komme jeder beliebige und damit eben kein „bestimmter“ öffentlicher Ort für ein Betreten infrage oder nicht infrage. Entgegen der Ansicht des Verfassungsgerichtshof definiere das Gesetz nicht die Freiheit des Betretens als Grundzustand und das Verbot als Ausnahme. Dagegen spreche nicht nur die Entstehungsgeschichte, sondern auch die Teleologie und die Systematik. Gerade weil das Betretungsverbot nur verhängt werden dürfe, „soweit“ es erforderlich sei, reiche es grundsätzlich weit. § 2 COVID‑19‑MaßnahmenG enthalte aber nicht bloß die Regelung des Betretens öffentlicher Orte, sondern ermögliche dem Gesundheitsminister die Untersagung des Betretens von „bestimmten Orten“.

[53] 3.8. Ausgehend von diesen Überlegungen war die Erlassung von § 1 und § 2 der Verordnung 98 nicht unvertretbar. Trotz der in der gesetzlichen Ermächtigung in § 2 Z 1 COVID‑19‑MaßnahmenG verwendeten Formulierung „von bestimmten Orten“ und der eher auf einzelne und tendenziell auch hinsichtlich des Nutzungszwecks auf konkrete Orte hinweisenden Erläuterungen im Initiativantrag war es nicht unvertretbar, das im Gesetz verwendete Wort „bestimmt“ nicht als „einzeln“ bzw „speziell“, sondern (bloß) als „bestimmbar“ oder „hinreichend deutlich festgelegt“ und in diesem Sinn „öffentliche Orte“ als abstrakte Beschreibung „bestimmter“ Orte zu verstehen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass zumindest nach dem Gesetzeswortlaut theoretisch – ohne gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung – für alle öffentlichen Orte durch deren konkrete Anführung eine entsprechende Regelung erlassen hätte werden können. Auch in den Gesetzesmaterialien wurde darauf verwiesen, dass sich die bisherigen Bestimmungen des Epidemiegesetzes als „zu kleinteilig“ erwiesen hätten, was gerade für eine weitere Auslegung der Verordnungsermächtigung spricht. Damit hat der Gesundheitsminister bei der Erlassung der Verordnung 98 nicht schuldhaft gehandelt. Ein Amtshaftungsanspruch besteht daher nicht.

[54] 4. Der Revision ist daher nicht Folge zu geben. Die diese Entscheidung tragenden Erwägungen können wie folgt zusammengefasst werden:

Angesichts der weitgehenden Ausnahmen waren die Ausgangsbeschränkungen nach der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz gemäß § 2 Z 1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes (BGBl II 2020/98) kein Freiheitsentzug im Sinn von Art 5 EMRK und Art 1 PersFrSchG.

Aus der vom Verfassungsgerichtshof festgestellten Gesetzwidrigkeit von § 1 und § 2 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz gemäß § 2 Z 1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes (BGBl II 2020/98) kann angesichts des nicht eindeutigen Gesetzestexts und des Zeitdrucks bei der Erlassung dieser Verordnung kein Verschulden des die Verordnung erlassenden Organs abgeleitet werden.

[55] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 und § 50 ZPO.

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