OGH 4Ob236/22t

OGH4Ob236/22t25.4.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und MMag. Matzka sowie die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G* GmbH, *, vertreten durch Dr. Stefan Glaser, Rechtsanwalt in Ried im Innkreis, gegen die beklagte Partei M*, vertreten durch Mag. Gerald Hamminger, Rechtsanwalt in Braunau am Inn, wegen (eingeschränkt) 5.271,33 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei (Revisionsinteresse 5.270,60 EUR) gegen das Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis als Berufungsgerichtvom 12. Februar 2021, GZ 18 R 1/21h‑65, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Braunau am Inn vom 27. November 2020, GZ 2 C 128/18t‑57, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00236.22T.0425.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass die Klage abgewiesen wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 8.422,46 EUR (darin 1.112,08 EUR USt und 1.750 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen sowie die mit 499,39 EUR (darin 83,23 EUR USt) bestimmten Kosten des Verfahrens vor dem Gerichtshof der Europäischen Union jeweils binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Beklagte besuchte bei einer Baumesse den Stand der Klägerin und besichtigte dort Einbauküchen zwecks Einrichtung seines künftigen Hauses. In der Folge kam es zum Abschluss eines Kaufvertrags zum Bruttogesamtpreis von 10.924,70 EUR. Dem Vertrag wurden die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) der Klägerin zugrunde gelegt. Die AGB enthielten folgenden Passus:

Tritt der Kunde – ohne dazu berechtigt zu sein – vom Vertrag zurück oder begehrt er seine Aufhebung, so haben wir die Wahl, auf die Erfüllung des Vertrags zu bestehen oder der Aufhebung des Vertrags zuzustimmen; im letzteren Fall ist der Kunde verpflichtet, nach unserer Wahl einen pauschalierten Schadenersatz in Höhe von 20 % des Bruttorechnungsbetrags oder den tatsächlich entstandenen Schaden zu bezahlen.

 

[2] In der Folge zerschlug sich die Hausübernahme des Beklagten, worauf er von dem mit der Klägerin geschlossenen Kaufvertrag zurücktrat. Die Klägerin lehnte den Rücktritt ab.

[3] Mit der gegenständlichen Klage begehrte die Klägerin vom Beklagten als vertraglichen Schadenersatz den Kaufpreis abzüglich dessen, was sie sich infolge des Unterbleibens der Arbeit erspart habe. Wegen des Rücktritts vom Kaufvertrag sei die Forderung fällig, deren Höhe die Klägerin zuletzt mit 5.271,33 EUR bezifferte. Die klagende Gesellschaft stützte im Prozess ihren Anspruch nicht auf ihre AGB, sondern auf dispositive Bestimmungen des Zivilrechts.

[4] Der Beklagte beantragte die Klagsabweisung. Die in Rede stehende Klausel der AGB der Klägerin sei nichtig.

[5] Das Erstgericht sprach der Klägerin (im 2. Rechtsgang) 20 % des Bruttoverkaufspreises zu (2.184,94 EUR) und wies das Mehrbegehren ab. Unter Hinweis auf die Entscheidung 3 Ob 237/16y des Obersten Gerichtshofs qualifizierte es die gegenständliche Klausel wegen der unangemessenen Höhe der Stornogebühr als für den Verbraucher gröblich benachteiligend. Bei einem gänzlichen Wegfall dieser Bestimmung aus dem Kaufvertrag wäre der Klägerin (wegen des dispositiven Rechts) aber ein Betrag von 5.270,60 EUR als Nichterfüllungsschaden zu ersetzen. Der Wegfall der missbräuchlichen Klausel hätte in diesem Fall eine „bestrafende“ Wirkung auf den Verbraucher. Immerhin suggeriere ihm die Klausel, dass bei Vertragsrücktritt maximal 20 % des Bruttoverkaufspreises als Schaden zu ersetzen seien. Keinesfalls erwartete ein Konsument, dass „der tatsächlich entstandene Schaden“ bei einem Rücktritt vom Vertrag ohne jegliche Gegenleistung des Verkäufers nahezu die Hälfte des vereinbarten Preises betrage. Aus diesen Gründen sei der der Klägerin zu ersetzende Nichterfüllungsschaden mit einer Höhe von 20 % des Bruttoverkaufspreises zu begrenzen.

[6] Das Berufungsgericht änderte das Urteil dahin ab, dass es der Klage nahezu (bis auf 0,73 EUR) zur Gänze stattgab. Die Nichtigkeit einer Klausel in den AGB, die nicht eine der beiderseitigen Hauptleistungspflichten betreffe, könne nicht zur Nichtigkeit des Vertrags führen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) sei aus Art 6 Abs 1 Klausel‑RL abzuleiten, dass die nationalen Gerichte eine missbräuchliche Vertragsklausel nur für unanwendbar zu erklären hätten, damit sie den Verbraucher nicht binde, ohne dass sie befugt wären, deren Inhalt abzuändern. Der Rückgriff auf dispositives Recht sei hier nicht versperrt. Der Klägerin stehe aufgrund des unberechtigten Vertragsrücktritts des Beklagten das positive Vertragsinteresse zu.

[7] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision nachträglich zur Frage zu, ob ein Unternehmer die Verdrängung des dispositiven Rechts im Sinne der neueren Rechtsprechung des EuGH (C‑229/19 und C‑289/19 ) dadurch vermeiden könne, dass er es unterlasse, sich gegenüber dem Verbraucher auf die unwirksame Klausel zu berufen.

[8] Der Beklagte macht in seiner – von der Klägerin beantworteten – Revision geltend, dass aufgrund der vom Berufungsgericht in seiner Zulassungsentscheidung angezogenen EuGH‑Rechtsprechung die Anwendung einer missbräuchlichen AGB‑Bestimmung durch den Unternehmer nicht dazu führen könne, dass jene Partei, deren Vertragsverletzung zur Auflösung des Vertrags geführt habe, auf Basis des dispositiven Rechts der anderen Partei den Nichterfüllungsschaden zu ersetzen habe.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig; sie ist auch berechtigt.

[10] 1.1. Der Senat richtete zu 4 Ob 131/21z ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Dabei erwog er, dass aus dem Urteil C‑229/19 und C‑289/19 , Dexia, für den Anlassfall abgeleitet werden könne, dass auf die Regelungen des dispositiven Rechts bereits wegen der schlichten Existenz einer missbräuchlichen und daher nicht anwendbaren Klausel nicht zurückgegriffen werden dürfe. Ein solches Ergebnis, das einen vertragsbrüchigen Verbraucher vom Ersatz des durch ihn schuldhaft verursachten Schadens befreie, widerspreche aber diametral der Systematik und den Wertungen des Zivilrechts, das davon geprägt sei, die unterschiedlichen Interessen von Vertragsparteien billig auszugleichen. Überdies „verwende“ im konkreten Fall die Klägerin die Klausel nicht im Verfahren gegen den Beklagten, um ihren Anspruch darauf zu stützen, und die Klausel sei teilbar. Dem EuGH wurden folgende Fragen gestellt:

1. Sind Artikel 6 Abs 1 und Art 7 Abs 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (im Folgenden: Klausel‑RL) so auszulegen, dass bei der Prüfung eines vertraglichen Schadenersatzanspruchs des Unternehmers gegenüber dem Verbraucher, den jener auf einen unberechtigten Vertragsrücktritt des Verbrauchers stützt, die Anwendung von dispositivem nationalem Recht bereits dann ausgeschlossen ist, wenn in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen (im Folgenden: AGB) des Unternehmers eine missbräuchliche Klausel enthalten ist, die dem Unternehmer neben den Vorschriften des dispositiven nationalen Rechts gegen einen vertragsbrüchigen Verbraucher wahlweise einen pauschalierten Schadenersatzanspruch zubilligt?

Für den Fall der Bejahung der Frage 1:

2. Ist eine solche Anwendung von dispositivem nationalen Recht auch dann ausgeschlossen, wenn der Unternehmer seine Schadenersatzforderung gegenüber dem Verbraucher nicht auf die Klausel stützt?

Für den Fall der Bejahung der Fragen 1 und 2:

3. Widerspricht es den genannten unionsrechtlichen Bestimmungen, dass bei einer Klausel, die mehrere Regelungen (etwa alternative Sanktionen bei einem unberechtigten Vertragsrücktritt) enthält, jene Teile der Klausel im Vertragsverhältnis aufrecht bleiben, die ohnedies dem dispositivem nationalen Recht entsprechen und nicht als missbräuchlich zu qualifizieren sind?

 

[11] 1.2. Der EuGH erkannte mit Urteil vom 8. 12. 2022, C‑625/21 , Gupfinger, dass

Art 6 Abs 1 und Art 7 Abs 1 der RL 93/13/EWG des Rates vom 5. 4. 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen dahin auszulegen sind, dass sie,

wenn eine Schadenersatzklausel in einem Kaufvertrag für missbräuchlich und folglich nichtig erklärt worden ist, und der Vertrag ohne diese Klausel gleichwohl fortbestehen kann, dem entgegenstehen, dass der gewerbliche Verkäufer, der diese Klausel auferlegt hat, im Rahmen einer Schadenersatzklage, die ausschließlich auf eine dispositive Vorschrift des nationalen Schuldrechts gestützt wird, Schadenersatz – wie er in dieser Vorschrift, die ohne die genannte Klausel anwendbar gewesen wäre, vorgesehen ist – verlangen kann.

 

[12] 1.3. Der EuGH führte insbesondere aus, ein nationales Gericht könne, wenn ein Vertrag nach der Streichung der missbräuchlichen Klauseln in Kraft bleiben könne, diese Klauseln nicht durch eine dispositive nationale Vorschrift ersetzen, es sei denn, die Streichung dieser Klauseln würde den Richter zwingen, den Vertrag in seiner Gesamtheit für unwirksam zu erklären, was für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen hätte, so dass dieser dadurch geschädigt würde (Rz 29–30). Daraus folge, dass ein Gewerbetreibender, der einem Verbraucher eine Klausel auferlegt habe, die vom nationalen Gericht für missbräuchlich und folglich nichtig erklärt worden sei, wenn der Vertrag ohne diese Klausel fortbestehen könne, keinen Anspruch auf die Entschädigung habe, die in einer dispositiven Vorschrift des nationalen Rechts vorgesehen sei, die ohne diese Klausel anwendbar gewesen wäre (Rz 31). Eine solche Klausel sei unteilbar und müsse als Ganzes für nichtig erklärt werden, wobei es unerheblich sei, dass eine der Alternativen, die sie vorsehe, einer dispositiven Vorschrift des nationalen Rechts über den Ersatz des Schadens entspreche, der sich aus dem unberechtigten Rücktritt von einem Vertrag ergebe, unabhängig davon, dass bei dieser Vorschrift angenommen werde, dass sie eine ausgewogene Regelung aller Rechte und Pflichten der Parteien darstelle und daher nach Art 1 Abs 2 der RL 93/13/EWG von deren Anwendungsbereich ausgenommen sei (Rz 34). Der Gewerbetreibende, der dem Verbraucher eine missbräuchliche Schadenersatzklausel auferlegt habe, könne daher nicht den Schadenersatz beanspruchen, den eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts vorsehe, die ohne diese Klausel anwendbar gewesen wäre (Rz 37). Dabei sei es unerheblich, dass die Nichtigerklärung der missbräuchlichen Schadenersatzklausel zur Folge habe, dass der Verbraucher von jeglicher Schadenersatzpflicht befreit sei. Dies diene dem langfristigen Ziel von Art 7 der RL 93/13/EWG , das darin bestehe, der Verwendung missbräuchlicher Klauseln ein Ende zu setzen, indem der Abschreckungseffekt aufrechterhalten werde, der darin bestehe, dass diese Klauseln schlicht unangewendet blieben (Rz 39). Es sei auch unerheblich, dass der Gewerbetreibende, der eine missbräuchliche Schadenersatzklausel auferlegt habe, seine Schadenersatzklage auf eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts stütze und nicht auf den Teil der Klausel, der dieser Vorschrift entspreche (Rz 40).

[13] 2.1. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist eine Klausel in AGB, die eine pauschale Stornogebühr von 20 % des Kaufpreises bei unbegründetem Vertragsrücktritt durch den Käufer festlegt, für den Verbraucher insbesondere wegen der unangemessenen Höhe der Stornogebühr gröblich benachteiligend iSv § 879 Abs 3 ABGB und daher nichtig (4 Ob 229/13z, 3 Ob 237/16y).

[14] 2.2. Die gegenständliche (dem Kaufvertrag zwischen den Parteien zugrunde liegende) Vertragsklausel ist daher nichtig. Dies führt – im Sinne der oben wiedergegebenen Vorabentscheidung des EuGH – dazu, dass die Klägerin nicht den Schadenersatz beanspruchen kann, der ihr nach § 921 ABGB – welche Bestimmung ohne die AGB‑Klausel anwendbar gewesen wäre – zustünde, und zwar trotz des Umstands, dass die Klägerin ihre Schadenersatzforderung nicht auf die unwirksame AGB‑Klausel, sondern auf das allgemeine Zivilrecht stützte.

[15] 2.3. Der Klagsanspruch besteht daher nicht zu Recht. Der Revision des Beklagten ist somit Folge zu geben und das angefochtene Urteil im Sinne der Klagsabweisung abzuändern.

[16] 3.1. Die Entscheidung über die Verfahrenskosten einschließlich jener des Vorabentscheidungsverfahrens beruht auf §§ 41, 50 ZPO.

[17] 3.2. Ein Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art 267 AEUV gilt als Zwischenstreit des Anlassverfahrens, sodass die Bestimmung der darauf entfallenden Kosten dem vorlegenden nationalen Gericht vorbehalten ist (RS0109758). Mangels abweichender Bestimmungen sind die Kosten der Beteiligung des Beklagten am Verfahren vor dem EuGH nach TP 3C RATG zu bestimmen (vgl RS0109758 [T4]). Sofern nicht aktenkundig, sind nach § 54 Abs 1 ZPO alle im Verfahren vor dem EuGH aufgelaufenen Kosten zu bescheinigen, weil nur so neben der Leistung an sich deren Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit beurteilt werden kann (vgl RS0109758 [T6]). Bis zur Erledigung der Sache entscheidet das (höherinstanzliche) Gericht des Anlassverfahrens über die im Vorabentscheidungsverfahren angefallenen Kosten (vgl RS0036076 [T2, T3]).

[18] 3.3. Zum konkreten Kostenbegehren des Beklagten ist auszuführen, dass die Schriftsätze vom 11. 10. 2019 und vom 1. 9. 2020 nicht der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung dienten. Die Einwendungen vom 7. 10. 2020 gegen das Kostenverzeichnis der Klägerin sind gemäß § 54 Abs 1a ZPO nicht ersatzfähig. Die Kosten für den Antrag auf Einstellung der Exekution vom 28. 4. 2021 wären im Exekutionsverfahren zu verzeichnen gewesen. Die verzeichnete ergänzende Mitteilung vom 12. 1. 2022 im Verfahren vor dem EuGH ist nicht bescheinigt, sodass hierfür ebenfalls keine Kosten zuzusprechen sind.

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