OGH 13Os12/23y

OGH13Os12/23y19.4.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. April 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz‑Hummel LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Mag. Lung in der Strafsache gegen * N* wegen Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 15 StGB, § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 1 SMG, AZ 71 Hv 45/15d des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag des Genannten auf Erneuerung des Strafverfahrens nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0130OS00012.23Y.0419.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Grundrechte

 

Spruch:

 

Dem Antrag wird stattgegeben.

Das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 27. August 2015 (ON 36 der Hv‑Akten) sowie das Erkenntnis des Obersten Gerichtshofs vom 26. Jänner 2016, AZ 14 Os 113/15x, (ON 44 der Hv‑Akten) werden aufgehoben.

Die Sache wird an das Landesgericht für Strafsachen Wien zur Erneuerung des Verfahrens verwiesen.

 

Gründe:

[1] Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 27. August 2015 (ON 36) wurde * N* mehrerer Verbrechen des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 1 SMG schuldig erkannt.

[2] Danach hat er am 28. April 2015 in W* vorschriftswidrig Suchtgift in einer die Grenzmenge (§ 28b SMG) übersteigenden Menge, nämlich 207,2 Gramm Kokain (enthaltend 64 Gramm Cocain), einem verdeckten Ermittler des Bundeskriminalamts zu einem Kaufpreis von 10.000 Euro zu überlassen versucht (§ 15 StGB), wobei er die Straftat gewerbsmäßig begangen hat und schon einmal, und zwar mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 13. August 2012, AZ 142 Hv 95/12z, wegen einer Straftat nach § 28a Abs 1 SMG verurteilt worden war.

[3] In teilweiser Stattgebung der dagegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde hob der Oberste Gerichtshof mit Erkenntnis vom 26. Jänner 2016, AZ 14 Os 113/15x, (ON 44) jenes Urteil, das im Übrigen unberührt blieb, in der Subsumtion nach § 28a Abs 2 Z 1 SMG, demzufolge auch im Strafausspruch auf. Im Übrigen – nämlich im Umfang des auf § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO gestützten Einwands, eine (vom Erstgericht bei der Strafbemessung als mildernd gewertete) „Tatprovokation“ stelle ein Verfolgungshindernis dar – wies er die Nichtigkeitsbeschwerde zurück.

[4] Das daraufhin im zweiten Rechtsgang ergangene (Ergänzungs-)Urteil des Schöffengerichts vom 10. März 2016 (ON 50) wurde – in Stattgebung einer dagegen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten – mit Erkenntnis des Obersten Gerichtshofs vom 14. September 2016, AZ 14 Os 51/16f, (ON 63) zur Gänze aufgehoben. Mit unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem (Ergänzungs-)Urteil des Schöffengerichts vom 15. November 2016 (ON 70) wurde N* sodann – im dritten Rechtsgang – (erneut) unter Einbeziehung des mit Erkenntnis des Obersten Gerichtshofs vom 26. Jänner 2016, AZ 14 Os 113/15x, (ON 44) in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruchs nach dem Grundtatbestand (§ 28a Abs 1 fünfter Fall SMG) auch der Qualifikationsnorm (§ 28a Abs 2 Z 1 SMG) schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

[5] Mit Urteil vom 24. Jänner 2023 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – mit Bezugnahme auf das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 27. August 2015 und das Erkenntnis des Obersten Gerichtshofs vom 26. Jänner 2016 – eine Verletzung des Art 6 Abs 1 MRK fest (EGMR 24. 1. 2023, 48105/16, Nikolov/Österreich).

[6] Zusammengefasst sei die Frage, ob die Tatbegehung staatlich veranlasst („State incitement“) worden sei, nicht hinreichend durch Beweisaufnahmen geklärt worden.

Rechtliche Beurteilung

[7] Dem auf dieses – (hier gemäß Art 28 Abs 2 MRK) endgültige (vgl Rebisant, WK-StPO §§ 363a–363c Rz 148 mwN und RIS-Justiz RS0108845 [die im Stamm‑Rechtssatz enthaltene Aussage, wonach Urteile des EGMR „stets“ endgültig seien, trifft nach der nunmehrigen Rechtslage nicht mehr zu – siehe Art 44 Abs 2 MRK iVm Art 43 MRK]) – Urteil gestützten Antrag des Verurteilten kommt Berechtigung zu:

[8] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat eine Verletzung der MRK durch die erwähnten Entscheidungen von Strafgerichten festgestellt. Es ist nicht auszuschließen, dass die Verletzung einen für den Betroffenen nachteiligen Einfluss auf den Inhalt einer strafgerichtlichen Entscheidung ausüben konnte, weshalb das Strafverfahren zu erneuern ist (§ 363a Abs 1 StPO).

[9] Daher war dem Antrag – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – gemäß § 363b Abs 3 StPO bei der nichtöffentlichen Beratung stattzugeben, die betreffenden strafgerichtlichen Entscheidungen waren wie aus dem Spruch ersichtlich aufzuheben und die Sache war an das Landesgericht für Strafsachen Wien zu verweisen.

[10] Von den aufgehobenen Entscheidungen rechtslogisch abhängige weitere Entscheidungen und sonstige Verfügungen – so auch das in der Strafsache des Landesgerichts für Strafsachen Wien, AZ 71 Hv 45/15d, ergangene Urteil dieses Gerichts als Schöffengericht vom 15. November 2016 (ON 70) – gelten gleichermaßen als beseitigt, ihrer formellen Aufhebung bedarf es nicht (RIS‑Justiz RS0100444 [T4], 15 Os 31/17y).

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