OGH 9Ob108/22f

OGH9Ob108/22f19.12.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofrätinnen und Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner, Mag. Korn, Dr. Thunhart und Dr. Annerl in der Pflegschaftssache des mj J*, geboren am * 2016, *, Mutter: S*, wohnhaft ebendort, vertreten durch Dr. Thomas Kaumberger, Rechtsanwalt in Pressbaum, Vater: * M*, wegen Obsorge und Kontaktrecht, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 19. Oktober 2022, GZ 16 R 193/22d‑452, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0090OB00108.22F.1219.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:
Rechtliche Beurteilung

[1] 1.1. Auch im Verfahren außer Streitsachen kann eine vom Rekursgericht verneinte Mangelhaftigkeit des Verfahrens erster Instanz – hier die unterlassene Einvernahme von Parteien und Zeugen in einer mündlichen Verhandlung – im Revisionsrekursverfahren grundsätzlich nicht mehr geltend gemacht werden (RS0030748; RS0050037). Dieser Grundsatz ist im Pflegschaftsverfahren (ausnahmsweise) dann nicht anzuwenden, wenn das Aufgreifen eines solchen Verfahrensfehlers zur Wahrung des Kindeswohls erforderlich ist (RS0030748 [T2, T5, T18]; RS0050037 [T1, T4, T8]). Ob das Aufgreifen eines vom Rekursgericht verneinten Verfahrensmangels aus Gründen des Kindeswohls erforderlich ist, bildet eine Frage des Einzelfalls (RS0050037 [T18]). Die Voraussetzungen für eine derartige Ausnahme fehlen hier.

[2] 1.2. Im Verfahren außer Streitsachen gilt der Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht (RS0006319). Dem Pflegschaftsrichter kommt vielmehr ein Beweisaufnahmeermessen zu (RS0006319 [T2]; RS0006272 [T3]). Der Grundsatz des Parteiengehörs im Außerstreitverfahren erfordert nur, dass der Partei ein Weg eröffnet wird, auf dem sie ihre Argumente für ihren Standpunkt sowie überhaupt alles vorbringen kann, was der Abwehr eines gegen sie erhobenen Anspruchs dienlich ist (RS0006048 [T9]).

[3] 1.3. Ein gegen diese Verfahrensgrundsätze gerichteter Verstoß des Erstgerichts, der vom Obersten Gerichtshof aus Gründen des Kindeswohls aufzugreifen wäre, ist nicht zu erkennen. Die gegen den Vater des Kindes erhobenen Vorwürfe der Mutter, mit denen sie dessen mangelnden Willen an der gemeinsamen Obsorge, dessen mangelnde Bindungstoleranz und die Ablehnung des Kindes zu Kontakten mit dem Vater begründen will, wurden im erstinstanzlichen Verfahren durch die eingeholten Sachverständigengutachten, die durchgeführten Erhebungen der Familiengerichtshilfe und die persönlichen Wahrnehmungen der Erstrichterin widerlegt.

[4] 2.1. Die nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung, ob die Voraussetzungen für eine Obsorgeübertragung erfüllt sind, ist grundsätzlich eine solche des Einzelfalls, der keine Bedeutung im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG zukommt, wenn dabei auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wird und leitende Grundsätze der Rechtsprechung nicht verletzt werden (RS0115719). Auch die Entscheidung, ob und inwieweit einem Elternteil ein Kontaktrecht eingeräumt wird, ist stets von den besonderen Umständen des Einzelfalls abhängig, sodass mit ihr regelmäßig keine erheblichen Rechtsfragen verbunden sind (RS0087024 [T6, T9]; RS0097114 [T1, T10, T14, T17]). Eine Fehlbeurteilung der übereinstimmenden Ansicht der Vorinstanzen in der Entscheidung über die Obsorge und das Kontaktrecht vermag die Mutter in ihrem außerordentlichen Revisionrekurs nicht aufzuzeigen.

[5] 2.2. Mit der auf einzelne Beweisergebnisse gegründeten Behauptung der Mutter, der Vater wolle gar nicht mehr an der im Jahr 2016 vereinbarten gemeinsamen Obsorge festhalten, hat sich das Rekursgericht ausführlich auseinandergesetzt. Wenn es dabei zum Schluss gekommen ist, dass der Vater zwar primär die vorläufige alleinige Obsorge anstrebe, dies aber nicht bedeute, dass er mit der Zuteilung der alleinigen Obsorge an die Mutter einverstanden sei, so fallen diese Ausführungen in das Gebiet der irrevisiblen Beweiswürdigung (vgl RS0043418). Der Oberste Gerichtshof ist aber auch im Außerstreitverfahren nur Rechtsinstanz und nicht Tatsacheninstanz (vgl RS0006737).

[6] Abgesehen davon ist das Kindesinteresse dem Willen der Eltern übergeordnet (RS0130247). Die Obsorge beider Eltern könnte daher auch gegen den Willen beider oder gegen den Willen eines Elternteils angeordnet werden (RS0128810).

[7] 2.3. Richtig ist, dass eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Elternteile ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit zwischen ihnen voraussetzt. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Die Beurteilung, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden oder in absehbarer Zeit mit einer solchen zu rechnen ist (RS0128812), kann nur nach den Umständen des Einzelfalls erfolgen (RS0128812 [T5, T15, T19]). Die Beurteilung des Rekursgerichts, dass diese Voraussetzung hier (noch) vorläge, weil nach der Rechtsprechung (9 Ob 51/16i; 1 Ob 15/20t; 2 Ob 125/22d Rz 25) auch eine sachliche Kommunikation der Eltern per E-Mail oder SMS bei ausreichender Kooperationsbereitschaft eine taugliche Basis für eine gemeinsame Obsorge begründen könne, ist nicht zu beanstanden. Schließlich soll die Obsorge beider Elternteile (eher) die Regel sein (RS0128811). Gewisse Schwierigkeiten im gegenseitigen Umgang und Probleme in der Kommunikation sind für einen Obsorgestreit mehr oder weniger typisch (8 Ob 152/17m Pkt 2.4).

[8] Zutreffend legte das Rekursgericht aber auch zugrunde, dass die erforderliche Kooperation vorwiegend an der Bereitschaft der Mutter scheiterte (vgl RS0128812 [T11]). Nach den Feststellungen war es den Eltern aber zumindest möglich, begleitete Kontakte ohne Involvierung dritter Personen zu einem Zeitpunkt zu vereinbaren, als die Mutter die angeordnete schrittweise Erweiterung der Kontakte verweigerte. Wenn die Mutter ihren entsprechenden Beitrag dazu leistet, kann – nach den bindenden Feststellungen des Erstgerichts – die Kommunikation zwischen den Eltern durchaus verbessert werden.

[9] 3. Nach ständiger Rechtsprechung setzt jedes Rechtsmittel eine Beschwer – also ein Anfechtungsinteresse – voraus, weil es nicht Sache von Rechtsmittelgerichten ist, rein theoretische Fragen zu lösen (RS0002495). Kann ein Rechtsmittel seinen eigentlichen Zweck, die Rechtswirkungen der bekämpften Entscheidung durch eine Abänderung oder Aufhebung zu verhindern oder zu beseitigen, nicht mehr erreichen, dann fehlt es am notwendigen Rechtsschutzinteresse (RS0002495 [T78]). Die Beschwer muss zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels gegeben sein und zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel noch fortbestehen; andernfalls ist das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen (RS0041770; RS0006880). Diese Grundsätze gelten auch im Verfahren außer Streitsachen (RS0002495 [T81]; RS0006598) und im Besonderen für ein zeitlich überholtes Kontaktrecht (RS0002495 [T2]; RS0006880 [T10, T16]; RS0041770 [T36]).

[10] Im vorliegenden Fall ist die Beschwer bezüglich der bekämpften Kontaktrechtsregelung bis einschließlich 10. 12. 2022 Punkt I. bis IV. weggefallen.

[11] Die Kontaktrechtsregelung für die Zeit danach entspricht nach den Feststellungen dem Kindeswohl. Die bisher nicht erfolgte Umsetzung von unbegleiteten Kontakten ist als hemmend für die weitere Entwicklung von J* anzusehen. Eine Gefährdung des Kindes durch unbegleitete Besuchskontakte mit dem Vater, die die Mutter immer wieder ins Treffen führt, konnte nicht festgestellt werden.

[12] Der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter war daher mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückzuweisen.

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