OGH 9Ob51/16i

OGH9Ob51/16i24.3.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin Hon.‑Prof. Dr. Dehn, den Hofrat Dr. Hargassner und die Hofrätinnen Mag. Korn und Dr. Weixelbraun‑Mohr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj M*, geboren am * 2005, *, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters G*, vertreten durch Mag. Britta Schönhart‑Loinig, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 3. Juni 2016, GZ 45 R 52/16d‑196, mit dem dem Rekurs der Mutter J*, vertreten durch Dr. Christoph Neuhuber, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 2. Dezember 2015, GZ 3 Ps 162/12y‑186, teilweise Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:E117725

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

 

Begründung:

Die Eltern des Minderjährigen M*, J* und G*, sind und waren nicht miteinander verheiratet. Am 28. 6. 2005 vereinbarten sie vor dem Bezirksgericht Innere Stadt Wien die gemeinsame Obsorge für den Minderjährigen. Die ersten Jahre verbrachte der Minderjährige überwiegend bei seiner Mutter in Polen. Jedenfalls seit Sommer 2010 lebt er bei seinem Vater in Wien. Ab Herbst 2011 besuchte er die Volksschule in Wien. Zur Mutter bestehen regelmäßige Kontakte.

Zwischen den Eltern gibt es massive Konflikte und laufende Streitigkeiten. Im Sommer 2012 brachte die Mutter das Kind, das einige Wochen bei ihr verbracht hatte, um eine Woche später als vereinbart zum Vater zurück, weshalb ein gebuchter Urlaub des Vaters mit dem Kind ausfallen musste. Zu Weihnachten 2012 fuhr sie mit dem Kind eigenmächtig nach Polen, da sie eine geplante Urlaubsreise des Vaters mit dem Kind nach Thailand irrtümlich als beabsichtigten permanenten Auslandsaufenthalt deutete. Bei ihrer Vorgangsweise wurde sie von einer Mitarbeiterin des Vereins Ö* sowie einer Sachbearbeiterin des Jugendamts unterstützt. Nach fünf Tagen brachte sie das Kind schließlich zum Vater zurück. Als Folge wurde das Besuchsrecht für einige Zeit ausgesetzt. Auch im Zusammenhang mit weiteren Besuchskontakten kam es zu Streitigkeiten zwischen den Eltern. Das Kind war der Mutter gegenüber nach dem Vorfall zu Weihnachten 2012 zunächst ablehnend, fasste jedoch in weiterer Folge wieder Vertrauen zu ihr. Besuche verlaufen mittlerweile wieder positiv und herzlich.

Seit Herbst 2015 besucht das Kind ein Gymnasium im *. Treffen mit der Mutter finden nicht regelmäßig statt, weil sich die Mutter vermehrt in Polen aufhält.

Im Juli 2012 beantragte der Vater die alleinige Obsorge. Er brachte vor, das Kind lebe seit Juli 2007 durchgehend bei ihm. Die Mutter kümmere sich wenig und habe ständig wechselnde Partner, die das Kind durch ihr Verhalten verstören würden. Sie habe ihm auch wiederholt angedroht, den Sohn bei sich zu behalten.

Die Mutter bestritt und beantragte ihrerseits im Oktober 2012 die alleinige Obsorge. Sie habe das Kind nach seiner Übersiedlung nach Wien regelmäßig besucht. Der Vater habe das Kind eigenmächtig in der Volksschule angemeldet und lasse es öfter allein. Er verhindere telefonische Kontakte mit ihr. Er konsumiere Haschisch, manipuliere und beeinflusse das Kind. Er verhindere auch Besuche. Sie habe das Kind im Dezember 2012 nur nach Polen gebracht, um zu verhindern, dass der Vater es nach Thailand entführe.

Das Erstgericht sprach aus, dass die Obsorge dem Vater allein zukommt. Den Antrag der Mutter, dem Vater die Obsorge zu entziehen und ihr alleine zuzusprechen, wies es ab. Derzeit sei der Vater die Hauptbezugsperson, seine Wohnung das gewohnte Umfeld des Kindes, in dem es verwurzelt sei. Es sei im Interesse des Kindes, dass die gegenwärtige Situation andauere. Dies spreche noch nicht gegen eine gemeinsame Obsorge. Zwischen den Eltern bestünden aber erhebliche Differenzen und ein emotional aufgeladenes Verhältnis. Dies werde vom Kind belastend wahrgenommen und sei dem Kindeswohl abträglich. Die Übertragung der alleinigen Obsorge an den Vater solle diese Konfliktpunkte möglichst reduzieren und den Minderjährigen in dem Umfeld belassen, in dem er sich wohlfühle.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter gegen diesen Beschluss teilweise Folge und änderte ihn dahingehend ab, dass die Anträge der Eltern, ihnen die Obsorge jeweils alleine zu übertragen, abgewiesen wurden. Die bisher bestehende gemeinsame Obsorge bleibe aufrecht, der hauptsächliche Aufenthalt befinde sich beim Vater.

Auch das Rekursgericht ging davon aus, dass ausgehend vom ständigen Aufenthalt des Minderjährigen und dessen Betreuung im väterlichen Haushalt seit 2011 und dem Wunsch des Minderjährigen auf Beibehaltung dieser Situation, dieses Umfeld seinen Bedürfnissen am besten entspräche. Ein Wechsel in den Haushalt der Mutter entspreche derzeit nicht dem Wohl des Kindes. Grundsätzlich lägen aber die Voraussetzungen für die Beibehaltung der bestehenden gemeinsamen Obsorge vor, da davon auszugehen sei, dass das erforderliche Mindestmaß an Kooperations‑ und Kommunikationsfähigkeit gegeben sei. Aus den Schriftsätzen ergebe sich, dass zwischen den Eltern hinsichtlich der Kontakttermine und etwa der Frage der Passübergabe oder der Schulwahl E-Mail-Kontakte und Telefonate stattgefunden hätten. Auffassungsunterschiede etwa bei der Schulwahl seien nicht geeignet, dies in Frage zu stellen. Ausschlaggebend sei, ob in Zukunft mit einer ausreichenden Gesprächsbasis zu rechnen sei, wobei ein die Alleinobsorge anstrebender Elternteil diese nicht schuldhaft verweigern oder erschweren dürfe. Die gemeinsame Obsorge sei daher aufrecht zu erhalten.

Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nicht zu, da es die Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG nicht als gegeben erachtete.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag, ihn dahingehend abzuändern, dass die Obsorge der Kindesmutter entzogen wird und dem Vater alleine zukommt; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Mutter hat trotz Freistellung keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus Gründen der Klarstellung zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags auch berechtigt.

Der Vater macht geltend, dass eine gemeinsame Obsorge voraussetze, dass zwischen den Eltern ein sachlicher Informationsaustausch sowie die Fassung gemeinsamer Entschlüsse und eine regelmäßige Kommunikation möglich seien. Aus den Feststellungen ergebe sich keine sachliche Kommunikation zwischen den Eltern, auch nicht dass diese vom Vater verhindert werde. Vielmehr komme es regelmäßig zu Streitigkeiten. Die Schulwahl habe gerichtlich geregelt werden müssen, auch der Pass sei erst nach gerichtlicher Anordnung übermittelt worden. Kontaktrechtsvereinbarungen erfolgten teilweise über die Anwälte, teilweise über das Kindermädchen. Feststellungen zu einem umfangreichen E‑Mail‑Verkehr bestünden nicht.

Dazu ist auszuführen:

Im Gegensatz zur Rechtslage vor dem KindNamRÄG 2013 soll nunmehr die Obsorge beider Elternteile die Regel sein (8 Ob 7/15k). Nach der Rechtsprechung setzt eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern aber ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kooperationsfähigkeit sowie an einer entsprechenden Bereitschaft der Eltern dazu voraus. Um Entscheidungen möglichst übereinstimmend im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und Entschlüsse zu fassen.

Zu prüfen ist, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet oder eine solche hergestellt werden kann (RIS‑Justiz RS0128812). Richtig hat das Rekursgericht darauf verwiesen, dass auch zu beachten ist, dass vor allem ein die Alleinobsorge anstrebender Elternteil die Kooperation und Kommunikation nicht schuldhaft verweigern oder erschweren darf, weil er es ansonsten in der Hand hätte, die Belassung bzw Anordnung der beiderseitigen Obsorge einseitig zu verhindern (8 Ob 146/15a).

Ob eine ausreichende Kommunikationsbasis besteht, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden. Inwieweit nach Art und Umfang der Kommunikation eine ausreichende Gesprächsbasis für eine gemeinsame Entscheidungsfindung anzunehmen ist, ist nicht verallgemeinerungsfähig. Richtig ist, dass der Oberste Gerichtshof in einzelnen Entscheidungen die Beteiligung an der Betreuung des Kindes über Skype-Telefonie oder eine per SMS und E‑Mail geführte Kommunikation nicht als ausreichende Grundlage für eine gemeinsame Obsorge angesehen hat (6 Ob 155/13g; 2 Ob 240/14d). Demgegenüber wurde zu 10 Ob 22/16g bei Vorliegen einer sachlichen Kommunikationsebene per E‑Mail zwischen den Eltern, mit umfangreichem E‑Mail‑Verkehr, Kommunikation per SMS und Bestehen der Kooperationsbereitschaft die gemeinsame Obsorge bejaht. Wie in dieser Entscheidung richtig betont wurde, kommt es nicht auf die Art der Nachrichtenmitteilung an, sondern auf die jeweilige Bereitschaft zum Informationsaustausch.

Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht zwar festgestellt, dass zwischen den Eltern keine ausreichende Gesprächsbasis besteht, um Entscheidungen zum Wohl des Kindes zu treffen. Dabei handelt es sich aber lediglich um eine Schlussfolgerung, für die in den Feststellungen keine ausreichende Grundlage besteht. Auch in der Beweiswürdigung wird nur auf die gegenseitigen Vorwürfe im Verfahren verwiesen sowie die nicht erzielbare Einigung in der Schulfrage.

Das Rekursgericht wiederum verweist nur auf den in einem Schriftsatz erwähnten E‑Mail‑Verkehr zwischen den Eltern, ohne dass auf Basis dieses Schriftsatzes eine nachvollziehbare Beurteilung der Kooperationsbereitschaft der Eltern möglich ist. Tatsächlich fehlt eine ausreichende Tatsachengrundlage, um beurteilen zu können, ob und gegebenenfalls in welcher Form zwischen den Eltern eine Kommunikation zu Erziehungs‑ und Betreuungsfragen stattfindet, ob die Bereitschaft zu solchen Gesprächen besteht und ob eine ausreichende Kooperations‑ und Kommunikationsbasis allenfalls unter Heranziehung der Mittel des § 107 Abs 3 AußStrG hergestellt werden kann.

Aufgrund dieses relevanten sekundären Feststellungsmangels sind die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren wird zu klären sein, inwieweit derzeit eine Kommunikationsfähigkeit der Eltern besteht bzw sind die Möglichkeiten zur Herstellung der für die beiderseitige Obsorge erforderlichen Gesprächsbasis zu prüfen. Dabei wird auch zu klären sein, ob Aufträge an die Eltern nach § 107 Abs 3 AußStrG zweckmäßig sind. Ebenso wird das wechselseitige Bemühen der Eltern, auf den jeweiligen anderen Elternteil zuzugehen und dessen Beiträge bei der Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung zuzulassen, festzustellen und allenfalls auch zu klären sein, welcher Beitrag dem jeweiligen Elternteil am Scheitern der Herstellung der nötigen Gesprächsbasis zukommt (vgl 8 Ob 146/15a).

Dem Rekurs war daher im Sinn des Aufhebungsantrags Folge zu geben.

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