OGH 10ObS121/22z

OGH10ObS121/22z13.12.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Faber, den Hofrat Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Michael Mutz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei P*, vertreten durch Dr. Astrid Wagner, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, wegen Invaliditätspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. August 2022, GZ 9 Rs 69/22 s‑100, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00121.22Z.1213.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Den Gegenstand des Verfahrens über die außerordentliche Revision der Klägerin bilden die Fragen, ob die Anlernzeit schon als Ausübung einer berufsgeschützten Tätigkeit zählt und ob sich die nicht eindeutig feststellbare Dauer der Anlernzeit für eine berufsgeschützte Tätigkeit zu Lasten der Klägerin oder der beklagten Pensionsversicherungsanstalt auswirkt.

[2] Die 1965 geborene Klägerin hat im März 2014 die Lehrabschlussprüfung zum Beruf Berufskraftfahrerin/Personenbeförderung abgelegt. Allerdings hat sie bereits wesentliche Kenntnisse und Fähigkeiten, die an eine gelernte Berufskraftfahrerin in der Personenbeförderung üblicherweise gestellt werden, durch die Lenkerberechtigung der Klasse D sowie durch die Tätigkeit bei einem Reisedienstunternehmen in Deutschland (6. 1. 2003 bis 30. 4. 2008) erworben. In Relation zur Intensität der Ausbildung und aufbauend auf die geforderte praktische Ausbildung, die der Lehrausbildungsdauer vergleichbar ist, kann eine rund 38‑monatige Berufspraxis zur Anlernung nicht unterschritten werden. Innerhalb einer Bandbreite von 38 bis 50 Monaten Berufspraxis und Auseinandersetzung mit Ausbildungsinhalten kann eine Anlernung mit zumindest höherer Wahrscheinlichkeit gegeben sein. Die Anlerndauer ist daher durch die Zeit, in der die Klägerin bei dem Reisedienstunternehmen in Deutschland gearbeitet hat (64 Monate von Jänner 2003 bis einschließlich April 2008), gedeckt. Einschließlich der Anlernzeit hat die Klägerin in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag (1. 10. 2015) insgesamt 131 Monate als Berufskraftfahrerin bzw (mit Aufrechterhaltung des Berufsschutzes) als Buslenkerin gearbeitet.

[3] Aufgrund ihres Gesundheitszustands ist es der Klägerin nicht mehr möglich, als Berufskraftfahrerin/Personenbeförderung oder in dem Verweisungsberuf einer Fuhrparkleiterin zu arbeiten. Es wäre ihr aber – unter Bezugnahme auf bereits ausgeübte Tätigkeiten – möglich, eine Angestelltentätigkeit als Büroassistenz oder Bürohilfskraft auszuüben.

[4] Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei im dritten Rechtsgang, der Klägerin ab 1. 10. 2015 Rehabilitationsgeld im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.

[5] Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren auf Gewährung der Invaliditätspension ab 1. 10. 2015 ab und sprach aus, dass vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten nicht vorliege; ein Anspruch auf Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation und der beruflichen Rehabilitation bestehe nicht. Die Revision wurde nicht zugelassen.

[6] Da die Klägerin in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 1. 10. 2015 auch als Verkaufsstellenverwalterin bei der Firma S* tätig gewesen sei und zwei Mitarbeiterinnen zu führen gehabt habe, sei ihre Verweisung auf einen Angestelltenberuf möglich, so auf die Angestelltentätigkeit als Büroassistenz oder Bürohilfskraft. In dieser Verweisung liege kein unzumutbarer sozialer Abstieg.

[7] Selbst bei Verschiebung des Stichtags auf den 1. 1. 2018 – im Beobachtungszeitraum lägen dann nur Zeiten der Tätigkeit als Kraftfahrerin – liege Invalidität nicht vor. Von den 131 Monaten der Ausübung einer Tätigkeit als Kraftfahrerin sei der Zeitraum der Anlernung abzuziehen. Nach den Beweislastregeln sei die Höchstzahl der potenziellen Anlernmonate heranzuziehen (50 Monate), weshalb die Klägerin unter Annahme des neuen Stichtags 1. 1. 2018 im Beobachtungszeitraum nicht zumindest 90 Monate im angelernten Beruf tätig gewesen sei. Da das Verweisungsfeld nach § 255 Abs 3 ASVG zu bestimmen sei und die Klägerin noch in der Lage sei, als Büroassistenz bzw Bürohilfskraft zu arbeiten, liege Invalidität auch im Falle der Stichtagsverschiebung auf den 1. 1. 2018 nicht vor.

[8] In ihrer außerordentlichen Revision sieht die Klägerin Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung darin, ob die Anlernzeit in die Zeit der Ausübung einer berufsgeschützten Tätigkeit einzubeziehen ist. Außerdem sieht sie den Berufsschutz bereits ab einer Anlernzeit von 38 Monaten als erworben an.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die außerordentliche Revision der Klägerin ist wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung unzulässig.

[10] 1. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein Beschäftigter während der Lehrzeit bzw der Anlernzeit nicht im erlernten (angelernten) Beruf tätig. Er übt in dieser Zeit keine (qualifizierte) Berufstätigkeit iSd § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG aus, sodass die Lehr‑ bzw Anlernzeit bei Prüfung der Frage, ob ein erlernter oder angelernter Beruf ausgeübt wurde, außer Betracht zu bleiben hat (RS0084530 [T2]).

[11] 2. Auch im Verfahren vor dem Sozialgericht gelten die Regeln der objektiven Beweislast. Ein Anspruch kann nur bejaht werden, wenn die anspruchsbegründenden Tatsachen erwiesen sind. Für die Klägerin wäre das Bestehen von Berufsschutz anspruchsbegründend; sie hat die Voraussetzungen dafür zu beweisen. Der Erwerb von Berufsschutz ist allerdings erst nach einer Dauer von 50 Monaten erwiesen. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass die Höchstzahl der potenziellen Anlernmonate (50 Monate) heranzuziehen ist, ist nicht zu beanstanden.

[12] 3. Wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung (§ 502 Abs 1 ZPO) ist die außerordentliche Revision der Klägerin zurückzuweisen.

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