OGH 7Ob53/22b

OGH7Ob53/22b23.11.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende sowie die Hofrätin und die Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G * Gesellschaft m.b.H., *, vertreten durch Dr. Martin Leitner und andere Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Ö* Aktiengesellschaft, *, vertreten durch die Schramm Öhler Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 26.320 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 16. Dezember 2021, GZ 11 R 191/21w‑84, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 25. August 2021, GZ 3 Cg 1/17i‑80, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00053.22B.1123.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung als Zwischenurteil wie folgt lautet:

„Der Anspruch der klagenden Partei, die beklagte Partei sei schuldig, ihr 26.320 EUR samt 4 % Zinsen seit 2.8.2016 zu zahlen, besteht dem Grunde nach zu Recht.“

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin ist Großhändlerin mit Hygienepapier und Hygieneartikeln. Die Beklagte ist die aufgrund von § 2 Bundesbahngesetz, BGBl 1992/825 (in der Folge: BBG 1992) als zu 100 % im Eigentum des Bundes (Republik Österreich) stehend eingerichtete Kapitalgesellschaft mit im § 4 BBG 1992 gesetzlich umschriebenen Aufgaben und Unternehmensgegenstand.

[2] Die Beklagte „sowie die mit ihr im Sinne des § 228 Abs 3 UGB verbundenen Gesellschaften“ bzw „mit allen verbundenen Unternehmen“ schrieb mit Bekanntmachung vom 9. 2. 2016 (in Österreich) bzw 11. 2. 2016 (EU‑weit) als Auftraggeberin einen Lieferauftrag für WC‑Papier und Papierhandtücher im Wege eines Verhandlungsverfahrens mit vorheriger Bekanntmachung im Oberschwellenbereich (§ 12 BVergG 2006 idF BGBl I 2012/10) mit einer Vertragslaufzeit von 1. 4. 2016 bis 31. 12. 2017 aus. Das Vergabeverfahren wurde über eine Vergabeplattform abgewickelt.

[3] In der Ausschreibung findet sich unter der Überschrift „Verhandlungsverfahren“ unter anderem folgende Passage:

„[…]

Die Vergabe erfolgt in Form eines Rahmenvertrages ohne fixer Mengenbindung. Einzelverträge über die im Rahmenvertrag enthaltenen Leistungspositionen kommen mit Absendung einer Abrufbestellung (über mindestens eine sortenreine Palette je Abruf) durch den Auftraggeber zu den Bedingungen des Rahmenvertrags zustande. Die im angeführten geschätzten Mengengerüst angegebenen Mengen stellen den geschätzten Gesamtbedarf während der fixen Laufzeit dar, der je nach tatsächlichem Bedarf auch deutlich über- oder unterschritten werden kann. Eine Mindestabnahmeverpflichtung für den Auftraggeber aus dem Rahmenvertrag – gleich welcher Art – besteht nicht. Davon nicht umfasst sind allfällige Mindestbestellmengen pro Abrufbestellung. Es steht dem Auftraggeber frei, jederzeit Parallelvergaben des Leistungsgegenstands des Rahmenvertrags durchzuführen und von einem Abruf aus dem Rahmenvertrag abzusehen.

Angebote müssen sich auf die Gesamtleistung beziehen, eine Teilvergabe ist nicht vorgesehen.

[…]

Wir behalten uns das Recht zur Ziehung einer Option über eine Laufzeitverlängerung um 1 Jahr […] vor.

[...]“

[4] In den „Angebotsformularen/Preisauskunft“ finden sich folgende Passagen:

 

 

 

[5] In der EU-weiten Bekanntmachung finden sich folgende Passagen:

 

 

[6] Mit der Begründung, die Ausschreibung sei in mehreren Punkten rechtswidrig, stellte die Klägerin am 11. 3. 2016 einen Nachprüfungsantrag sowie einen Antrag auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung, um die Fortsetzung des Vergabeverfahrens zu untersagen und die Angebotsfrist auszusetzen. Mit Beschluss vom 17. 3. 2016 setzte das Bundesverwaltungsgericht den Lauf der Frist für die Abgabe von Angeboten für die Dauer des Nachprüfungsverfahrens aus. Am 23. 3. 2016 fand im Nachprüfungsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht ein Ausgleichsversuch statt. Die Parteien konnten sich auf Änderungen der technischen Spezifikationen, nicht aber der vertragsrechtlichen Punkte verständigen.

[7] Am 11. 4. 2016 verlängerte die Beklagte das Ende der Angebotsfrist (bis zum 27. 4. 2016). In weiterer Folge widerrief die Beklagte die in Rede stehende Ausschreibung, was im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union am 19. 4. 2016 bekanntgemacht wurde. Die Widerrufsentscheidung wurde nicht angefochten.

[8] Daraufhin wies das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 28. 7. 2016 den Nachprüfungsantrag der Klägerin zurück; auch diese Entscheidung blieb unangefochten.

[9] Die Bekanntmachung der Widerrufsentscheidung lautete auszugsweise wie folgt:

„[…]

1. In der […] veröffentlichten Auftrags-bekanntmachung ist […] nicht angeführt, dass die Abnahme einer Mindestmenge erfolgt. Nunmehr hat sich der Bedarf einer Mindestabnahmemenge ergeben.

Eine Berichtigung dieser in der Auftragsbekanntmachung zur ersten Stufe gemachten Festlegung ist nicht möglich, weil sich dadurch der Bieterkreis ändern würde […]. Wäre bereits in der Bekanntmachung zur ersten Stufe festgelegt gewesen, dass eine Mindestabnahme erfolgt, ist nicht auszuschließen, dass sich der Bieterkreis erweitert hätte und somit ein erhöhter Wettbewerb bestehen würde […].

Im Hinblick auf den europarechtlich geforderten Transparenzgrundsatz wäre eine Berichtigung gegenständlich unzulässig, was den (zwingenden) Widerruf zur Folge habe muss.

Darüber hinaus hat sich die Auftraggeberin entschlossen weitere Spezifikationen vorzunehmen, insbesondere größere Toleranzen bei den Formaten zuzulassen, um auch so den Wettbewerb zu erhöhen und eine Erweiterung des Bieterkreises zu erreichen. Daneben sind mehrere Klarstellungen nötig (zum Zeitpunkt der Optionsausübung und Umfang der Vertragsänderungs-möglichkeiten, den Lieferorten […], der Indexierung sowie den technischen Spezifikationen) weil sich ergab, dass beispielsweise die festgelegten technischen Muss-Anforderungen (insbesondere zum geforderten Weißegrad) zu einer Einschränkung des Bieterkreises führen, was nicht beabsichtigt war. Durch diese Klarstellungen ändert sich aber auch die Kalkulationsgrundlage bzw wird die Kalkulation nicht unwesentlich beeinflusst. Auch aus diesen Gründen war der Widerruf intendiert.

Durch den gegenständlichen Widerruf soll der freie und lautere Wettbewerb und die Gleichbehandlung der Bewerber und Bieter gewahrt bleiben, weil eine bloße Berichtigung und die Fortführung des Vergabeverfahrens der gebotenen Gleichbehandlung der Bewerber und Bieter zuwiderlaufen würde. Zudem soll verhindert werden, dass unpassende oder unerwünschte Leistungen oder Leistungen zu unangemessenen Bedingungen beschafft werden oder beschafft werden müssen […].

2. Unabhängig davon wurden als Auftraggeber 'die Ö* AG und alle gemäß § 189 Z 8 UGB verbundene Unternehmen' als Auftraggeber in der Auftragsbekanntmachung […] angeführt.

'Ein Widerruf ist demnach zulässig, wenn der Auftraggeber die Leistung generell oder in der ausgeschriebenen Form nicht mehr benötigt' (RV 1171 BlgNR 22 GP  89 zu §§ 138f).

Im Rahmen einer aktuellen konzerninternen Bedarfserhebung hat sich ergeben, dass für das gegenständliche Hygienepapier nicht bei allen gemäß § 189 Z 8 UGB mit der Ö * AG verbundenen Unternehmen ein Beschaffungsbedarf besteht, sondern nur jedenfalls bei der * AG und möglicherweise bei einer weiteren Konzerngesellschaft.

Auch aus diesem Grund war die Entscheidung das Verfahren zu widerrufen geboten.

3. Zudem endete die Frist zur Abgabe der Muster am 16.3.2016, 11:00 Uhr. Die Aussetzung bzw Hemmung dieser Frist wurde von der Antragstellerin im Nachprüfungsantrag […], mit dem Festlegungen der gegenständlichen Ausschreibung bekämpft werden, nicht beantragt. Die Frist wurde auch nicht verlängert. Bereits abgelaufene Fristen können nicht mehr verlängert werden.

Dadurch kommt es zu einer Änderung des Bieterkreises, weil die Antragstellerin im genannten Nachprüfungsverfahren von der Legung eines Angebotes abgehalten wurde. Berichtigungen der technischen Spezifikationen sind nicht mehr möglich.

Aufgrund der Anzahl und Bedeutung der Änderungen, ist die Grenze der Zulässigkeit einer Berichtigung überschritten. Die Ö * AG und alle gemäß § 189 Z 8 UGB verbundene Unternehmen beabsichtigen das gegenständliche Verfahren daher aus den oben angeführten Gründen zu widerrufen.

[…]“

[10] Diese Widerrufsentscheidung erfolgte primär aufgrund einer Bedarfsänderung sowie weiters aus allen in der Bekanntmachung genannten Umständen.

[11] Vor dem Widerruf hatte sich bei einer neuerlichen Bedarfserhebung der Beklagten im Frühjahr 2016 herausgestellt, dass das Ergebnis der im Herbst 2015 durchgeführten ersten Bedarfserhebung, vor allem aufgrund des Mehrbedarfs im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise, nicht mehr richtig war, sondern sich der Bedarf explosionsartig erhöht hatte. Allein der Mehrbedarf im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise, hätte – auch ohne Vorliegen der weiteren in der Bekanntmachung genannten Gründe für den Widerruf – die Beklagte veranlasst, die Ausschreibung zu widerrufen.

[12] Die erste Bedarfserhebung wurde im Herbst 2015, bei Beginn des längeren internen Vorbereitungsprozesses für diese Ausschreibung, durch die * AG durchgeführt und zwar durch Abfrage der Bestell-, Liefer- und Lagerdaten der letzten eineinhalb Jahre sämtlicher Gesellschaften des Konzerns (Ö* AG mit allen iSd § 228 Abs 3 UGB verbundenen Gesellschaften) im SAP-System und Auswertung dieser Daten. Die weitere Entwicklung der im Sommer 2015 beginnenden Flüchtlingskrise wurde dabei nicht vorhergesehen. Die Beklagte rechnete nicht mit einer derart rasanten Entwicklung. Es ist nicht feststellbar, ab welchem Zeitpunkt die explosionsartige Entwicklung des Verbrauches aufgrund der Flüchtlingskrise, vorhersehbar war.

[13] Die Klägerin begehrt den Ersatz der Beteiligungskosten am Ausschreibungsverfahren in der Höhe von (netto) 26.320 EUR sA. Die Kosten seien im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens entstanden, um die rechtswidrigen und diskriminierenden Ausschreibungsbedingungen zu beseitigen. Die Bedarfserhebung sei rechtswidrig erst nachträglich durchgeführt worden. Die Wahl des Sektorenvergaberegimes sei unrichtig und die Wahl des Verhandlungsverfahrens daher rechtswidrig erfolgt. Weiters hätten der Vorbehalt, im Verlauf des Verfahrens ein vorangekündigtes Short‑Listing durchzuführen, die Festlegungen zum Abschluss eines Rahmenvertrags und zu einer Option, der Haftungsausschluss und die Festlegung auf Festpreise in der Ausschreibung gegen das BVergG 2006 verstoßen bzw seien unsachlich und im Widerspruch zu dem Grundsatz einer neutralen Leistungsbeschreibung gewesen. Die Festlegung in der Ausschreibung auf eine „aussagekräftige Menge“ von Mustern sei nicht hinreichend bestimmt gewesen und habe einen unzulässigen Entscheidungsspielraum überlassen. Letztlich sei der Irrtumsausschluss in der Bietererklärung unzulässig und die Pönalebestimmung in der Vertraulichkeitserklärung unbillig gewesen.

[14] Die Beklagte bestritt das Vorliegen dieser Rechtswidrigkeiten. Der Anspruch scheitere daran, dass die Klägerin mangels Vorlage von Mustern aus dem Verfahren ausgeschieden sei. Die Klägerin sei ihrer Warnpflicht gemäß § 255 Abs 6 BVergG 2006 nicht nachgekommen. Die AGB seien Bestandteil der Teilnahmeunterlagen bzw der Bekanntmachung gewesen und mangels Anfechtung bestandfest geworden. Es habe vor der Ausschreibung zwar eine Bedarfserhebung stattgefunden, der Bedarf habe sich aber, was in der Widerrufsentscheidung nicht als Grund genannt worden sei, nachträglich durch die Flüchtlingskrise geändert. Die Klägerin begehre zum Teil Ersatz für Leistungen, die der Vorbereitung des Verfahrens gedient hätten und nicht im Zusammenhang mit der Rechtsverfolgung im Nachprüfungsverfahren stünden, und Leistungen, die nach dem Widerruf erbracht worden seien.

[15] Das Erstgericht wies die Klage ab, weil der Beklagten kein hinreichend qualifizierter Verstoß iSd § 341 Abs 3 BVergG 2006 anzulasten sei.

[16] Das Berufungsgerichtbestätigte diese Entscheidung und ließ die ordentliche Revision zu, weil die von der Klägerin beanstandeten Teile der Ausschreibungsunterlagen ähnlich wie Allgemeine Geschäftsbedingungen auch Gegenstand zahlreicher gleich gelagerter Verfahren sein könnten.

[17] Dagegen richtet sich die ordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag, dem Klagebegehren stattzugeben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[18] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[19] Die Revision ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig und im Sinne der Klagsstattgebung dem Grunde nach auch berechtigt.

[20] 1. Nach § 376 Abs 4 und 5 BVergG 2018 sind die im Zeitpunkt des Inkrafttretens (soweit hier relevant der 21. 8. 2018) bereits eingeleiteten Vergabeverfahren und die zu diesem Zeitpunkt beim Bundesverwaltungsgericht anhängigen Verfahren nach der im Zeitpunkt der Einleitung des jeweiligen Vergabeverfahrens geltenden Rechtslage zu Ende zu führen. In Ansehung von Schadenersatzansprüchen nach diesem Gesetz ist durch das BVergG 2018 keine Änderung der Rechtslage eingetreten (§ 337 Abs 1 und § 341 Abs 3 BVergG 2006 idF BGBl I 2012/10 bzw § 369 Abs 1 und § 373 Abs 3 BVergG 2018, BGBl I 2018/65; vgl schon im Vorverfahren 7 Ob 219/19k [Pkt 1]).

[21] 2.1. Dass Eigentümerschaft, Unternehmens-gegenstand und Aufgaben von aufgrund eines konkreten bundesgesetzlichen Auftrags eingerichteten juristischen Personen des Privatrechts vom Gericht zu berücksichtigen sind, bedarf im Hinblick auf den iura‑novit‑curia‑Grundsatz (vgl 2 Ob 235/05f) keiner weiteren Erörterung.

[22] So wie bei der Beklagten wurden auch bei der Ö* Gesellschaft mbH Gründung und Errichtung als Enkeltochter der Beklagten, Unternehmensgegenstand und Aufgaben gesetzlich – mit dem 3. Hauptstück des BBG 1992 (§§ 13 f) – angeordnet. Es steht hier unangefochten fest, dass rund 64 % des Auftragsvolumens von der Ö* Gesellschaft mbH und 2,5 % des Auftragsvolumens von weiteren Gesellschaften des *Konzerns in Anspruch genommen hätten werden sollen.

[23] 2.2. Nach § 173 Abs 1 BVergG 2006 idF BGBl I 2012/10 gelten für einen Auftrag zur Durchführung mehrerer Tätigkeiten die Vorschriften für die Tätigkeit, die den Hauptgegenstand darstellt. Selbst wenn die M* GmbH wie festgestellt rund 33,5 % des Auftragsvolumens in Anspruch hätte nehmen sollen – und ungeachtet einer von den Vorinstanzen allenfalls zu Unrecht angenommenen Notorietät der *Konzern-Zugehörigkeit der M* GmbH (weil sie laut Firmenbuch eine weitere Enkeltochter der Beklagten ist) – ist auf die Sektorentätigkeit (vgl §§ 165 und 169 BVergG 2006 idF BGBl I 2012/10) der Beklagten sowie ihrer Enkeltochter, die beide durch gesetzliche Anordnung eingerichtet sind, abzustellen.

[24] 3.1. Bei „hinreichend qualifiziertem“ Verstoß gegen das BVergG 2006  oder die auf Grund dieses Bundesgesetzes ergangenen Verordnungen durch Organe des Auftraggebers oder einer vergebenden Stelle hat ein übergangener Bewerber oder Bieter gegen den Auftraggeber, dem das Verhalten der Organe zuzurechnen ist, nach § 337 Abs 1 BVergG 2006 Anspruch auf Ersatz der Kosten der Angebotsstellung und der Kosten der Teilnahme am Vergabeverfahren. Nach § 341 Abs 3 BVergG 2006 ist eine Schadenersatzklage zulässig, wenn die Erklärung des Widerrufs eines Vergabeverfahrens – wie hier – zulässig war, aber vom Auftraggeber durch einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen andere Bestimmungen dieses Bundesgesetzes, die hierzu ergangenen Verordnungen oder gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht verursacht wurde, ohne dass es auf Schuldhaftigkeit seines Verhaltens ankäme (vgl 3 Ob 172/15p mwN).

[25] 3.2. Soweit in der Revision darauf hingewiesen wird, Verstöße seien verschuldensunabhängig zu sehen, so entspricht dies der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (C‑314/09 , Stadt Graz) ebenso wie des Obersten Gerichtshofs (3 Ob 172/15p; RS0125143 [T2]).

[26] Wenn das Berufungsgericht die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Staatshaftung wiedergibt, wonach auch auf Verstoßvorsatz oder Verschulden am Rechtsirrtum Bedacht genommen werden könne (EuGH C‑46/93 und C‑48/93 , Brasserie du Pêcheur, Rn 56), ist dies in Ansehung der hier zu entscheidenden vergaberechtlichen Fragen und der oben zitierten Rechtsprechung nicht einschlägig.

[27] 3.3. Der Ersatz der Beteiligungskosten am Vergabeverfahren ist im BVergG abschließend geregelt. Insofern besteht keine Anspruchskonkurrenz mit dem allgemeinen Schadenersatzrecht wie culpa in contrahendo (RS0128318). Beim Anspruch auf Ersatz der Kosten der Angebotsstellung und der Kosten der Teilnahme am Vergabeverfahren gemäß § 337 Abs 1 BVergG 2006 handelt es sich um einen Vertrauensschadenersatzanspruch eigener Art (7 Ob 219/19k mwN). Anspruchsberechtigt ist in einem solchen Fall generell, wer auf die Gültigkeit einer abgegebenen Erklärung oder auf das Zustandekommen eines Vertrags vertraut hat, obwohl die Erklärung ungültig war oder der Vertrag nicht zustande kam; der zu leistende Vertrauensschaden (das negative Vertragsinteresse) liegt in der Differenz zwischen der Vermögenslage des Geschädigten, wie sie im Beurteilungszeitpunkt ohne schädigendes Ereignis wäre, und dem nach dem schädigenden Ereignis tatsächlich vorhandenen Vermögen (RS0016377 [insb T1, T15]).

[28] 4. Dass hier ein zulässiger Widerruf vorliegt, der im Fall der Verursachung durch hinreichend qualifizierten Verstoß schadenersatzpflichtig macht (und bei dem ein Verfahren zur Feststellung der Vergabegesetzwidrigkeit gemäß § 341 Abs 2 BVergG 2006 idF BGBl I 2012/10 nicht möglich sowie die vorherige Erlangung eines Feststellungsbescheids keine Voraussetzung für die Zulässigkeit des Rechtswegs war), wurde bereits in der Vorentscheidung des Senats zu 7 Ob 219/19k klargestellt.

[29] Hier sind die von der Klägerin behaupteten Vergaberechtswidrigkeiten der Ausschreibung dahin zu prüfen, ob sie iSd § 337 Abs 1 BVergG 2006 idF BGBl I 2012/10 einen „hinreichend qualifizierten“ Verstoß gegen Bestimmungen dieses Bundesgesetzes, die hierzu ergangenen Verordnungen oder gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht bilden, der zum Widerruf und damit zur Frustration der Kosten im Nachprüfungsverfahren führten.

[30] 5.1. Die Vorinstanzen haben bei der ihnen zukommenden Ermessensentscheidung, wann ein solcher Verstoß vorliegt, grundsätzlich zutreffend auf Aspekte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Frage der Staatshaftung zurückgegriffen, wonach ein solcher Anspruch vorliege, wenn die Grenzen des Ermessens als Entscheidungsbefugte offenkundig und erheblich überschritten (vgl EuGH C‑46/93 und C‑48/93 , Brasserie du Pêcheur, Rn 55 ff) oder einschlägige Rechtsprechung offenkundig verkannt (EuGH C‑429/09 , Fuß, insb Rn 52, mwN) würden, wobei als Gesichtspunkte, die gegebenenfalls zu berücksichtigen seien, insbesondere das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift sowie der Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift belasse, in Betracht kämen (C‑46/93 und C‑48/93 Rn 56).

[31] 5.2. Dieser Ansatz entspricht der klaren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, wonach  die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten, die Möglichkeit vorzusehen, im Fall eines Verstoßes gegen die Regelungen des Unionsrechts im Bereich des öffentlichen Auftragswesens Schadenersatz zuzuerkennen (vgl Art 2 Abs 1 Buchst c RL 89/665/EWG ), zwar selbst nicht eindeutig vorschreibe, unter welchen Voraussetzungen eine ausschreibende Behörde haftbar gemacht werden könne oder wie die Höhe des Schadenersatzes zu ermitteln sei. Es handle sich aber bei dieser Bestimmung um eine Konkretisierung des Grundsatzes der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstünden (EuGH C‑568/08 , Combinatie Spijker Infrabouw-De Jonge Konstruktie, Rn 86 f). In Ermangelung einschlägiger Unionsvorschriften sei es daher Sache jedes Mitgliedstaats, in seiner internen Rechtsordnung die Kriterien zu bestimmen, auf deren Grundlage der Schaden aufgrund eines Verstoßes gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens festzustellen und zu bemessen sei, sofern der Äquivalenz‑ und der Effektivitätsgrundsatz beachtet würden (C‑568/08 Rn 90 mwN).

[32] 5.3. Dieser Ansatz entspricht im Übrigen auch dem vom Gesetzgeber des BVergG 2018 geäußerten Verständnis (vgl ErläutRV 1513 BlgNR 24. GP  224 f).

[33] 6.1. Für die Beurteilung sind ausschließlich widerrufskausale Gründe dahin zu überprüfen, ob sie als hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das BVergG 2006 oder die aufgrund dieses Bundesgesetzes ergangenen Verordnungen anzusehen wären.

[34] Soweit in der Revision neuerlich vielfältige Argumente für Fehler der Ausschreibung ins Treffen geführt werden, sind nicht widerrufskausale behauptete Fehler hier nicht relevant. Auf diesbezügliche Ausführungen der Vorinstanzen ebenso wie die hierzu ausladenden Rechtsmittelschriften der Parteien ist daher nicht weiter einzugehen; in diesem Zusammenhang geltend gemachten Mängeln des Berufungsverfahrens ermangelt es der Relevanz.

[35] 6.2. Nach § 78 Abs 3 BVergG 2006 sind die Ausschreibungsunterlagen so auszuarbeiten, dass die Vergleichbarkeit der Angebote sichergestellt ist und die Preise ohne Übernahme nicht kalkulierbarer Risken und – sofern nicht eine (hier nicht vorliegende) funktionale Leistungsbeschreibung gemäß § 95 Abs 3 BVergG 2006 erfolgt – ohne umfangreiche Vorarbeiten von den Bietern ermittelt werden können.

[36] 6.3. Ein Rahmenvertrag (framework contract) ist ein Vertrag, bei dem beide Vertragspartner gebunden sind und der Auftraggeber verpflichtet ist, genau jenen (und keinen anderen) Auftragnehmer zu betrauen, mit dem dieser Vertrag geschlossen wurde, wenn ein Bedarf an den vertragsgegenständlichen Leistungen auftritt (vgl schon VKS 20. 9. 2001, V 123/01, V 132/01, ZVB 2002/29, 75 [Haunold]). Er kann zwar Schätzungen etwa über den konkret noch nicht feststehenden Umfang der Leistungen enthalten (vgl VwGH 2008/04/0077, VwSlg 17883 A/2010; 2012/04/0124; zur Vergleichbarkeit und Kalkulierbarkeit sowie allenfalls gebotener Mindestabnahmeverpflichtung vgl Schiefer/Steindl in Heid Schiefer/Preslmayr, Handbuch Vergaberecht4 [2015] Rz 1080 mwN), trifft im Übrigen aber grundlegende Vertragsbestimmungen, wie Ware, Preis pro Ware, Abgabemodalität und andere Anforderungen an den Auftragnehmer. Der Rahmenvertrag begründet bereits eine Bindungswirkung und gegenseitige Verpflichtungen,nach herrschender Ansicht insbesondere eine Abnahmeverpflichtung des Auftraggebers, und ist ein Auftrag iSd BVergG 2006 (vgl VwGH Ro 2014/04/0070, VwSlg 19328 A/2016, mwN; 2005/04/0201, VwSlg 17801 A/2009; Schiefer/Steindl in Heid Schiefer/ Preslmayr Rz 1077; Dillinger/Oppel, Das neue BVergG 2018 [2018], Rz 3.167 ff; Höfler‑Petrus in Heid/Reisner/ Deutschmann/Hofbauer, BVergG 2018 [2019] Vor §§ 153–155 Rz 12; Öhler, Kalkulierbarkeit bei Rahmenverträgen ohne verbindliches Mengengerüst, in Schramm/Aicher [Hg], Vergaberecht und PPP III, ZVB spezial [2006] 97 [insb 100 f]). Durch einen Rahmenvertrag wird der Auftraggeber daher grundsätzlich verpflichtet, die im Vertragszeitraum anfallenden Leistungen abzurufen und hat der Unternehmer laut Ausschreibung auch Anspruch auf die Erbringung der Leistungen (vgl schon BVA 15N‑69/04‑21).

[37] 7.1. Bereits im Nachprüfungsantrag an das BVwG hatte die Klägerin unter anderem moniert, dass die Festlegungen der Ausschreibung zu einer Unkalkulierbarkeit der Leistungen geführt hätten, wobei sie insbesondere das Fehlen von Minimal- oder Maximalleistungen, ein deutliches Über- oder Unterschreiten der geschätzten Mengen und das Fehlen von Preisanpassungsregeln kritisierte, zumal sich die Beklagte die jederzeitige Parallelvergabe vorbehalten habe. Dies habe zum Widerruf des gesamten Vergabeverfahrens zu führen.

[38] 7.2. Die Widerrufsentscheidung der Beklagten wurde unter anderem mit dem Fehlen einer Mindestmenge sowie „Klarstellungen“ etwa zu Optionsausübung und Umfang der Vertragsänderungsmöglichkeiten sowie zur Indexierung begründet und führte an, dass sich mit den Änderungen auch der Bieterkreis sowie die Kalkulationsgrundlage ändern würden.

[39] 7.3. Nach dem Widerruf und der Zurückweisung des Nachprüfungsantrags hat die Klägerin zur Begründung ihres vorliegenden Klagebegehrens dieselben Umstände und Argumente wie in ihrem Nachprüfungsantrag ausdrücklich ins Treffen geführt.

[40] 7.4. Die Revision führt zu den hier relevanten Widerrufsgründen im Kern weiterhin aus, dass im Zusammenhalt mit den sonstigen Ausschreibungsunterlagen die Leistungen unkalkulierbar gewesen seien.

[41] 8.1. Dieses Argument ist nach Ansicht des erkennenden Senats im Ergebnis stichhältig: Wie eine Preiskalkulation durchzuführen sein sollte, wenn für den Anbieter – auch im Hinblick darauf, dass sich die Beklagte Parallelvergaben sowie den Nichtabruf aus dem Rahmenvertrag vorbehalten wollte – nicht klar ist, ob er selbst bei Gewinn der Ausschreibung einerseits überhaupt etwas verkaufen werde, oder andererseits ein Vielfaches der „Zielmengen“ geliefert werden müsste, ist nicht nachvollziehbar. Dasselbe gilt für die festgestellten Passagen zu „Preis/Menge/Staffel“, mit welchen anscheinend einerseits Mengenstaffeln (zB 1–3 Paletten, ab 4 Paletten, ab 20 Paletten) vorgegeben werden, andererseits jedoch Festlegungen zu sich zur jeweiligen „Zielmenge“ summierenden Teilmengen, zu welchen Preise pro Palette und Rolle bzw Packung anzugeben wären, ohne dass ein Bezug zu den Mengenstaffeln erkennbar wäre. Insgesamt erschließt sich daraus kein Mengengerüst, das erkennen ließe, welche Mengen angeboten und der Kalkulation zugrundegelegt werden sollten.

[42] Im Ergebnis wird damit der Klägerin ein nicht kalkulierbares wirtschaftliches Risiko überbunden (vgl schon BVA 15N‑69/04‑21 [zum Fehlen einer Mindestmenge]). Die Ausschreibung genügt daher den an einen Rahmenvertrag gestellten Anforderungen nicht, ohne dass auf Kriterien jüngerer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für eine – hier nicht ausgeschriebene – Rahmenvereinbarung ankäme.

[43] 8.2. In einer Gesamtschau der Widerrufs-begründung besteht auch kein Zweifel, dass sich die Beklagte dieser gravierenden Mängel ihrer Ausschreibung bewusst geworden war und sie dies zum Widerruf veranlasste. Zwar ist die Begründung vom erkennbaren Bemühen getragen, den Widerruf als von unvorhersehbaren äußeren Faktoren verursacht nahezulegen. Dies kann jedoch nicht plausibel machen, warum in der Ausschreibung keinerlei Festlegungen zu Absatzmengen, insb Mindestmengen, angeführt sind, wie dargelegt nicht nachvollziehbare Preisstaffeln verwendet oder Parallelvergaben vorbehalten werden, dann aber die Flüchtlingskrise vorerst nicht zu einer Erhöhung des Bedarfs, also wohl der „Zielmengen“ geführt haben soll, sondern zum – so in der schriftlichen Widerrufsbegründung – plötzlich neu erkennbaren Bedarf nach Mindestabnahmemengen. Letzteres ist jedenfalls ein Mittel zur Beseitigung der Unkalkulierbarkeit der Ausschreibung. Diese zu beurteilende Ausschreibung verstieß daher in qualifizierter Weise gegen § 78 Abs 3 BVergG 2006.

[44] Auf die weiteren behaupteten Ausschreibungsfehler muss daher nicht mehr eingegangen werden.

[45] 8.3. Soweit von der Beklagten ins Treffen geführt wird, sie habe auch legitime Widerrufsgründe gehabt, die nicht hinreichend qualifizierte Verstöße verwirklichen würden, verhilft ihr das nicht zum Durchbruch. Im Wesen des Vertrauensschadens liegt es, dass die Klägerin auf die Gültigkeit der Ausschreibung vertraute, obwohl diese aufgrund eines – wie dargelegt – hinreichend qualifizierten Verstoßes nicht gegeben war; dabei schadet es nicht, dass andere Teile des Verfahrens oder der Begründung rechtskonform gewesen sein mögen, wenn – wie hier – ein solcher Verstoß zur Enttäuschung des Vertrauens des Bieters und letztlich zum Schaden der frustrierten Beteiligung am Verfahren führte.

[46] 9.1. Zusammengefasst besteht das Klagebegehren daher dem Grunde nach zu Recht, weil die Beklagte durch den qualifizierten Verstoß, in ihrer Ausschreibung kein hinreichendes, Bietern wie der Klägerin keine unkalkulierbaren Risiken aufbürdendes Mengengerüst vorgesehen zu haben, den Widerruf verursachte.

[47] Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher in ein dem Klagebegehren dem Grunde nach stattgebendes Zwischenurteil abzuändern.

[48] 9.2. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren konkrete Feststellungen zur Höhe des Klagebegehrens zu treffen haben, um die Berechtigung der geltend gemachten Kostenpositionen und deren Zuordnung zum hier zu ersetzenden Vertrauensschaden, der nach § 337 Abs 1 BVergG 2006 die Kosten der Angebotsstellung und die Kosten der Teilnahme am Vergabeverfahren umfasst, beurteilen zu können. Dabei kommt es nicht darauf an, einzelne Verfahrensschritte einzelnen Fehlern des Vergabeverfahrens zuzuordnen, sondern lediglich darauf, ob es sich um durch das enttäuschte Vertrauen auf die Gültigkeit des Verfahrens verursachte Kosten iSd § 337 Abs 1 BVergG 2006 handelt; dazu wurde bereits in der Vorentscheidung des Senats 7 Ob 219/19k darauf hingewiesen, dass Vertretungskosten im Nachprüfungsverfahren gegen Entscheidungen des Auftraggebers solche Kosten sein können. Kursorische Feststellungen etwa dahin, Kosten seien „im Zusammenhang“ mit bestimmten Umständen entstanden, sind hingegen nicht ausreichend. Das Erstgericht wird bei der neuerlichen Entscheidung auch darauf zu achten haben, nur Tatsachenumstände festzustellen und es strikt zu vermeiden, rechtliche Qualifikationen oder Schlussfolgerungen in Feststellungen zu kleiden.

[49] 10. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 393 Abs 4 iVm § 52 Abs 4 ZPO.

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