OGH 2Ob210/22d

OGH2Ob210/22d22.11.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda, und Dr. Kikingerals weitere Richter in der Rechtssacheder klagenden Partei T*, vertreten durch Vavrovsky Heine Marth Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei L* GmbH, *, vertreten durch Cerha Hempel Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 6.953,60 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 5.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Berufungsgericht vom 7. April 2020, GZ 22 R 39/20w‑14, mit welchem das Versäumungsurteil des Bezirksgerichts Schwechat vom 12. November 2019, GZ 17 C 1014/19z‑7, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00210.22D.1122.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Schadenersatz nach Verkehrsunfall, Zivilverfahrensrecht

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts, das in seinem der Klage abweisenden Teil als unangefochten in Rechtskraft erwachsen ist, wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 1.303,92 EUR (darin 217,32 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 2.370,24 EUR (darin 156,54 EUR USt und 1.431 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Klägerin trat am 1. 3. 2019 in einem Flugzeug der Beklagten eine Reise von London nach Wien an. Beim Start explodierte das linke Triebwerk des Flugzeugs, mit dem dieser Flug durchgeführt werden sollte, woraufhin die Fluggäste evakuiert wurden. Die Klägerin verließ dieses Flugzeug über einen Notausstieg und wurde durch den Jetblast des rechten Triebwerks, das noch in Bewegung war, mehrere Meter durch die Luft geschleudert. Seither leidet sie an Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Stimmungsschwankungen, plötzlichen Weinanfällen, starker Müdigkeit und Stottern. Es wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, die Klägerin ist deshalb in ärztlicher Behandlung. Die Unfallfolgen, unter denen die Klägerin leidet, sind noch nicht abgeklungen; die Klägerin befindet sich weiterhin in Therapie. Die Klägerin hat an Kosten für die von ihr benötigten Therapien inklusive der damit verbundenen Reisekosten 4.353,60 EUR aufgewendet. Weitere Schäden aus dem Vorfall können nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden.

[2] Die Klägerin begehrte ein Schmerzengeld von 2.500 EUR sowie den Ersatz ihrer Heilungskosten von 4.353,60 EUR und pauschalen Unkosten von 100 EUR. Weiters beantragt sie die Feststellung der Haftung der Beklagten für zukünftige Schäden.

[3] Die Klägerin vertrat die Auffassung, dass sich die Haftung der Beklagten unmittelbar aus Art 17 Abs 1 des Montrealer Übereinkommens (in der Folge: „MÜ“) ergebe. Jedenfalls hafte die Beklagte aber nach dem ergänzend anwendbaren österreichischen Recht. Das Feststellungsinteresse liege vor, weil die Unfallsfolgen noch nicht angeklungen und weitere Schäden nicht auszuschließen seien.

[4] Mit Versäumungsurteil des Erstgerichts wurde das Begehren im Ausmaß der Unkosten von 100 EUR unbekämpft abgewiesen und der Klage aufgrund des eingangs referierten Tatsachenvorbringens im Übrigen stattgegeben. Das Erstgericht ging davon aus, dass zwar Art 17 Abs 1 MÜ nicht anzuwenden sei, weil die Bestimmung nur eine Haftung für Körperverletzungen, nicht aber für bloß psychische Schäden vorsehe. Allerdings hafte die Beklagte nach österreichischem Recht, das auch bei bloß psychischen Schäden Schadenersatz vorsehe, wenn diese – wie hier – Krankheitswert aufwiesen.

[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies die Klage ab. Art 17 MÜ sehe für rein psychische Schäden keinen Schadenersatz vor. Diese Regelung sei abschließend. Durch Art 29 MÜ sei ein Rückgriff auf nationale Anspruchsgrundlagen iSd „Verdrängungslösung“ ausgeschlossen. Mangels höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur Anwendung der „Verdrängungslösung“ auf einen Anspruch auf Ersatz von psychischen Schmerzen mit Krankheitswert ließ das Berufungsgericht die ordentliche Revision zu.

[6] Gegen dieses Urteil richtet sich die ordentliche Revision der Klägerin mit dem Antrag, ihrer Klage stattzugeben. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[7] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die Revision ist zulässig und berechtigt.

[9] 1. Der Senat ersuchte den Gerichtshof der Europäischen Union um eine Vorabentscheidung ua zur Auslegung des Art 17 Abs 1 MÜ (2 Ob 131/20h).

1.1. Der EuGH entschied mit Urteil vom 20. 10. 2022, C‑111/21 , BT/Laudamotion GmbH, wie folgt:

[10] Art 17 Abs 1 MÜ ist dahin auszulegen, dass für eine psychische Beeinträchtigung, die ein Fluggast durch einen „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung erlitten hat und die keinen Zusammenhang mit einer „Körperverletzung“ im Sinne dieser Bestimmung aufweist, in gleicher Weise Schadenersatz zu leisten ist wie für eine solche Körperverletzung, sofern der Fluggast eine Beeinträchtigung seiner psychischen Integrität nachweist, die von solcher Schwere oder Intensität ist, dass sie sich auf seinen allgemeinen Gesundheitszustand auswirkt und nicht ohne ärztliche Behandlung abklingen kann.

[11] 1.2. Der EuGH führte aus, dass der im MÜ nicht definierte Begriff der „Körperverletzung“ in der Union und ihren Mitgliedstaaten einheitlich und autonom ausgelegt werden muss (Rz 21). Der Begriff „Körperverletzung“ ist in seiner gewöhnlichen Bedeutung zwar nicht dahin auszulegen, dass er eine psychische Beeinträchtigung im Zusammenhang mit einer Körperverletzung ausschließt. Bei der Klägerin liege allerdings eine medizinisch nachgewiesene psychische Beeinträchtigung vor, die keinen Zusammenhang mit einer Körperverletzung in der gewöhnlichen Bedeutung dieses Begriffs aufweist (Rz 24). Aus der Verwendung des Begriffs der „Körperverletzung“ in Art 17 MÜ ist nicht zwangsläufig abzuleiten, dass damit eine Haftung für psychische Beeinträchtigungen auszuschließen ist, die keinen Zusammenhang mit einer auf dieselbe Ursache zurückgehenden Körperverletzung aufweisen (Rz 25). Aus der Entstehungsgeschichte des MÜ leitete der EuGH ab, dass dieses Abkommen nicht in die Entwicklung eingreifen wollte, wonach in einigen Staaten auch Schadenersatz für psychische Verletzungen einklagbar ist (Rz 26). Ein angemessener Schadenersatz, der auch eine Gleichbehandlung von Fluggästen erfordert, die infolge desselben Unfalls – physische oder psychische – Verletzungen desselben Schweregrades erlitten haben, würde aber bei einem Ausschluss eines Schadenersatzes für psychische Beeinträchtigungen ohne Zusammenhang mit einer Körperverletzung in Frage gestellt (Rz 27). Bei einem Fluggast mit einer psychischen Beeinträchtigung kann eine vergleichbare Lage zu einem Fluggast vorliegen, der eine Körperverletzung erlitten hat (Rz 28). Art 17 Abs 1 MÜ umfasst daher auch einen Anspruch auf Schadenersatz für eine durch einen „Unfall“ verursachte psychische Beeinträchtigung, die keinen Zusammenhang mit einer „Körperverletzung“ aufweist (Rz 29). Eine Haftung des Luftfahrtunternehmens verlangt dabei einen hinreichenden Nachweis des verletzten Fluggastes, dass eine Beeinträchtigung seiner psychischen Integrität vorliegt, die er infolge eines „Unfalls“ im Sinne dieser Bestimmung erlitten hat und die von solcher Schwere oder Intensität ist, dass sie sich insbesondere in Anbetracht ihrer psychosomatischen Wirkungen auf seinen allgemeinen Gesundheitszustand auswirkt und nicht ohne ärztliche Behandlung abklingen kann (Rz 31).

[12] 2. Aufgrund der durch den EuGH geklärten Rechtslage ist der Revision stattzugeben und das klagsstattgebende Versäumungsurteil wieder herzustellen.

[13] 2.1. Die entscheidende Rechtsfrage, ob Art 17 Abs 1 MÜ dahin auszulegen ist, dass ein Luftfahrtunternehmen auch für eine psychische Beeinträchtigung, die ein Fluggast durch einen „Unfall“ im Sinne dieser Bestimmung erlitten hat und die Krankheitswert erreicht, Schadenersatz leisten muss, wurde durch den EuGH im Sinne des klägerischen Standpunkts geklärt.

[14] 2.2. Die Klägerin hat schlüssig vorgebracht, dass sie als Fluggast der Beklagten eine psychische Beeinträchtigung erlitten hat, die im Sinne der Entscheidung des EuGH von solcher Schwere oder Intensität ist, dass sie sich auf ihren allgemeinen Gesundheitszustand auswirkt und nicht ohne ärztliche Behandlung abklingen kann. Auch die von ihr begehrten Schadenersatzbeträge (Schmerzengeld und Ersatz der Heilungskosten) finden Deckung in ihrem schlüssigen Vorbringen. Entsprechendes gilt für das Feststellungsbegehren; wegen der behaupteten Spät- und Dauerfolgen ist das Feststellungsinteresse zu bejahen (vgl RS0039018; RS0038865).

[15] 2.3. Bei einem Versäumungsurteil ist das Tatsachenvorbringen der erschienenen Partei für wahr zu halten (§ 396 Abs 1 Satz 2 iVm § 442 ZPO). Die inhaltliche Überprüfung eines Versäumungsurteils nach § 396 ZPO hat sich demnach auf die Schlüssigkeitsprüfung zu beschränken. Hingegen hat eine darüber hinausgehende Überprüfung des – für wahr zu haltenden – Klagsvorbringens zu unterbleiben, wenn – wie hier – die säumige Partei von der vorbereitenden Tagsatzung ausgeblieben war, bevor sie sich durch mündliches Vorbringen zur Hauptsache in den Streit eingelassen hatte (§ 442 Abs 1 ZPO; vgl zB 7 Ob 276/08y; 4 Ob 185/16h). Die Behauptungen der Klägerin zu ihren erlittenen Beeinträchtigungen sind daher der Entscheidung zugrundezulegen; damit kommt es im Anlassfall auf die vom EuGH aufgeworfenen Fragen zur Beweislast des beeinträchtigten Fluggastes (vgl Rz 31 im EuGH-Urteil) nicht an.

[16] 3. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens gründet sich auf §§ 41 Abs 1, 50 ZPO.

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