European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130780
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist eine durch einen Unfall verursachte psychische Beeinträchtigung eines Reisenden, die Krankheitswert erreicht, eine „Körperverletzung“ im Sinn von Art 17 Abs 1 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen, am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt wurde?
2. Wenn Frage 1 verneint wird:
Steht Art 29 des genannten Übereinkommens einem Anspruch auf Schadenersatz entgegen, der nach dem anwendbaren nationalen Recht bestünde?
II. Das Verfahren wird bis zum Einlangen der Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gemäß § 90a Abs 1 GOG ausgesetzt.
Begründung:
[1] 1. Sachverhalt, der der Entscheidung zugrunde zu legen ist:
[2] Die Klägerin trat am 1. März 2019 in einem Flugzeug der Beklagten eine Reise von London nach Wien an. Beim Start explodierte das linke Triebwerk, worauf das Flugzeug evakuiert wurde. Die Klägerin stieg über den Notausstieg am rechten Flügel aus. Das rechte Triebwerk war noch in Bewegung, und der Jetblast schleuderte die Klägerin mehrere Meter durch die Luft. Seither leidet sie an Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Stimmungsschwankungen, plötzlichen Weinanfällen, starker Müdigkeit und Stottern. Es wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, die Klägerin ist deshalb in ärztlicher Behandlung.
[3] 2. Vorbringen und Anträge der Parteien:
[4] Die Klägerin begehrt den Ersatz der von ihr aufgewendeten Heilungskosten von 4.353,60 EUR und Schmerzengeld von 2.500 EUR. Weiters beantragt sie die Feststellung der Haftung der Beklagten für zukünftige Schäden. Sie vertrat zunächst die Auffassung, dass sich die Haftung der Beklagten unmittelbar aus Art 17 Abs 1 des Montrealer Übereinkommens (in der Folge: „MÜ“) ergebe. Jedenfalls hafte die Beklagte aber nach dem ergänzend anwendbaren österreichischen Recht.
[5] Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass Art 17 Abs 1 MÜ nur Körperverletzungen im eigentlichen Sinn erfasse, nicht aber bloß psychische Beeinträchtigungen. Ein Rückgriff auf das nationale Recht sei nach Art 29 MÜ ausgeschlossen; dieses werde durch das MÜ verdrängt.
[6] 3. Bisheriges Verfahren:
[7] Die Beklagte beteiligte sich nicht am Verfahren des Erstgerichts. Daher war nach österreichischem Prozessrecht das Tatsachenvorbringen der Klägerin für wahr zu halten. Der in Punkt 1 wiedergegebene Sachverhalt beruht auf diesem Vorbringen, er ist auch der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zugrunde zu legen.
[8] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren mit Versäumungsurteil statt. Zwar sei Art 17 Abs 1 MÜ nicht anzuwenden, weil die Bestimmung nur eine Haftung für Körperverletzungen vorsehe. Allerdings hafte die Beklagte nach österreichischem Recht, das auch bei bloß psychischen Schäden Schadenersatz vorsehe, wenn sie – wie hier – Krankheitswert aufwiesen.
[9] Die Beklagte erhob gegen diese Entscheidung Berufung. Mit dieser Berufung konnte sie nach österreichischem Prozessrecht insbesondere die unrichtige rechtliche Beurteilung des für wahr zu haltenden Sachverhalts geltend machen.
[10] Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab. Es teilte die Auffassung des Erstgerichts, dass Art 17 Abs 1 MÜ rein psychische Beeinträchtigungen nicht erfasse. Daher stelle sich die Frage, ob die Klägerin ihren Anspruch auf das nach den Regeln des Kollisionsrechts anwendbare österreichische Recht stützen könne. Dieses Recht sehe einen Schadenersatzanspruch auch bei Fällen einer bloß psychischen Beeinträchtigung vor, wenn diese Krankheitswert erreiche, also medizinisch behandlungsbedürftig oder zumindest diagnostizierbar sei. Das österreichische Recht werde allerdings nach Art 29 MÜ durch die Regelungen dieses Übereinkommens verdrängt. Art 17 Abs 1 MÜ sehe bei Personenschäden einen Ersatzanspruch nur bei Körperverletzungen im engeren Sinn vor. Diese Regelung sei abschließend; ein Rückgriff auf das nationale Recht sei nicht zulässig.
[11] Der Oberste Gerichtshof hat über eine Revision der Klägerin gegen dieses Urteil zu entscheiden. Sie vertritt die Auffassung, dass die diesem Urteil zugrunde liegende „Verdrängungslösung“ nicht zutreffe. Vielmehr sei der „Rahmenlösung“ zu folgen. Danach könnten Ansprüche nach nationalem Recht neben jenen nach dem Übereinkommen bestehen, sie seien lediglich dessen Voraussetzungen und Beschränkungen unterworfen. Aufgrund der Revision hat der Oberste Gerichtshof die Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung nach allen Richtungen hin zu überprüfen. Er hat daher auch zu klären, ob Art 17 Abs 1 MÜ tatsächlich vorsieht, dass bei rein psychischen Beeinträchtigungen kein Schadenersatz zu leisten ist.
Rechtliche Beurteilung
[12] 4. Rechtsgrundlagen:
[13] 4.1. Die Haftung der Beklagten ist nach dem Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (Montrealer Übereinkommen, MÜ) zu beurteilen. Die Anwendbarkeit dieses Übereinkommens ergibt sich daraus, dass der Abgangs- und der Bestimmungsort des Fluges in verschiedenen Vertragsstaaten lagen (Vereinigtes Königreich, Österreich), sodass eine internationale Beförderung iSv Art 1 MÜ vorliegt.
[14] 4.2. Das Montrealer Übereinkommen wurde am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 in ihrem Namen genehmigt. Es ist (daher) integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung, weswegen der Europäische Gerichtshof berufen ist, im Wege der Vorabentscheidung über seine Auslegung zu entscheiden (EuGH Rs C‑6/14 , Wucher Helicopter GmbH).
[15] 4.3. Strittig ist die Auslegung der folgenden Bestimmungen des Montrealer Übereinkommens:
Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.
Bei der Beförderung von Reisenden, Reisegepäck und Gütern kann ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, sei es dieses Übereinkommen, ein Vertrag, eine unerlaubte Handlung oder ein sonstiger Rechtsgrund, nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind; die Frage, welche Personen zur Klage berechtigt sind und welche Rechte ihnen zustehen, wird hierdurch nicht berührt. Bei einer derartigen Klage ist jeder eine Strafe einschließende, verschärfte oder sonstige nicht kompensatorische Schadenersatz ausgeschlossen.
[16] 4.4. Nach österreichischem Recht haftet der Schädiger bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch für die Folgen rein psychischer Beeinträchtigungen, wenn diese Krankheitswert aufweisen, also behandlungsbedürftig sind (OGH 2 Ob 99/95; 1 Ob 91/99k). Das gilt insbesondere für eine behandlungsbedürftige posttraumatische Belastungsstörung (OGH 2 Ob 120/02i). In diesem Fall hat der Schädiger nach allgemeinen Grundsätzen sowohl die materiellen Schäden (insbesondere die Heilungskosten) zu ersetzen als auch ein angemessenes Schmerzengeld zur Abgeltung des immateriellen Schadens zu zahlen.
[17] 5. Zur ersten Vorlagefrage:
[18] 5.1. Art 17 Abs 1 MÜ sieht (in der deutschen Fassung) den Ersatz jenes Schadens vor, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder „körperlich verletzt“ wird. Diese „Körperverletzung“ wird in den (dem Gericht zugänglichen) authentischen Sprachfassungen des Übereinkommens als „bodily injury“, „lésion corporelle“ und „lesión corporal“ bezeichnet. Frage 1 ist darauf gerichtet, ob dieser Begriff auch psychische Beeinträchtigungen erfasst, die zwar Krankheitswert haben, aber nicht Folge einer Verletzung des Körpers im engeren Sinn sind.
[19] 5.2. Art 17 Abs 1 MÜ stimmt, soweit hier relevant, im Wesentlichen mit Art 17 des Warschauer Abkommens zur Vereinheitlichung von Regeln über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (in der Folge: WA) überein.
[20] (a) Das ergibt sich zwar nicht aus der (nicht authentischen) deutschen Fassung von Art 17 WA, die wie folgt lautet:
„Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet, körperlich verletzt oder sonst gesundheitlich geschädigt wird, wenn der Unfall, durch den der Schaden verursacht wurde, sich an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.“
[21] Die Bezugnahme auf eine „gesundheitliche Schädigung“ legt nahe, dass Art 17 WA neben „körperlichen Verletzungen“ im engeren Sinn auch sonstige „Gesundheitsschäden“ erfasste, worunter auch rein psychische Schäden mit Krankheitswert verstanden werden konnten. Auf dieser Grundlage wird im deutschsprachigen Schrifttum argumentiert, dass Art 17 Abs 1 MÜ, der nur auf Körperverletzungen abstellt, deutlich enger formuliert sei, woraus auf die Nichtersatzfähigkeit rein psychischer Schäden geschlossen werden müsse (so etwa Schmid/Giemulla in Frankfurter Kommentar zum Luftverkehrsrecht [Stand 2014] Art 17 MÜ Rz 4; Führich in Führich/Staudinger, Handbuch des Reiserechts8 [2019] § 37 Rz 24).
[22] (b) Diese Argumentation übersieht jedoch, dass die authentischen Fassungen von Art 17 WA keinen Hinweis darauf bieten, dass ein über eine „bodily injury“ („lésion corporelle“, „lesión corporal“) hinausgehender Schaden ersetzt werden konnte. Vielmehr hatte diese Bestimmung als weiteren Haftungsgrund das „wounding“ („blessure“, „herida“), also die „Verwundung“ des Reisenden genannt. Dieser Begriff war offenkundig enger als der Begriff „bodily injury“ („lésion corporelle“, „lesión corporal“) und daher von diesem umfasst. Weshalb die nicht authentische deutsche Fassung von Art 17 WA auf eine Übersetzung von „wounding“ verzichtet und neben der „Körperverletzung“ den weiteren Begriff der „Gesundheitsschädigung“ eingeführt hatte, ist nicht nachvollziehbar.
[23] (c) Art 17 Abs 1 MÜ unterscheidet sich daher von den authentischen Fassungen von Art 17 WA nur dadurch, dass der Begriff „wounding“ weggefallen ist. Dadurch wurde der Anwendungsbereich dieser Bestimmung aber nicht eingeschränkt. Denn der Begriff „wounding“ war in Art 17 WA als Unterfall der „bodily injury“ zu verstehen und daher in Wahrheit überflüssig; sein Wegfall führt daher zu keiner Änderung der Bedeutung. Aus dem Vergleich der deutschen Sprachfassungen von Art 17 WA und Art 17 Abs 1 MÜ kann daher – entgegen der im Schrifttum vertretenen Auffassung (oben [a]) – keinesfalls eine Einschränkung des Anwendungsbereichs von Art 17 Abs 1 MÜ abgeleitet werden (weiteres zur Entstehungsgeschichte von Art 17 Abs 1 MÜ unten 5.4.).
[24] 5.3. Rechtsprechung aus dem Bereich des Common Law und die überwiegende deutschsprachige Lehre sprechen für eine enge Auslegung.
[25] (a) Angesichts des – wie dargestellt – im Kern unveränderten Wortlauts kann für die Auslegung von Art 17 Abs 1 MÜ grundsätzlich auf die Rechtsprechung zu Art 17 WA zurückgegriffen werden. Diese nimmt, ausgehend von der Entscheidung des US Supreme Court in der Sache Eastern Airlines, Inc. v. Floyd vom17. 1. 1991 (https://caselaw.findlaw.com/us-supreme-court/499/530.html ),überwiegend an, dass der Begriff „Körperverletzung“ rein psychische Schäden – also solche, die nicht Folge einer Körperverletzung im engeren Sinn sind – nicht erfasst (Nachweise bei Löw, Die Haftung der Fluggesellschaft für Personenschäden, ZVR 2020, 120 [121], sowie bei Reuschle, Montrealer Übereinkommen2 [2011] Art 17 Rz 11). Das gilt insbesondere für posttraumatische Belastungsstörungen, die sich nicht körperlich auswirken (House of Lords 28. 2. 2002, King v. Bristow Helicopter Ltd, https://publications. parliament.uk/pa/ld200102/ldjudgmt/jd020228/king-1.htm).
[26] (b) Obwohl diese Entscheidungen praktisch ausschließlich aus dem Bereich des Common Law stammen, folgt ihnen auch das überwiegende deutschsprachige Schrifttum. Es nimmt ebenfalls an, dass rein psychische Schäden nach Art 17 Abs 1 MÜ nicht zu ersetzen sind (vgl nur Jahnke, Haftung im internationalen Luftverkehr [2008] 308 ff; Löw, ZVR 2020, 121; Reuschle, Montrealer Übereinkommen2 [2011] Art 17 Rz 11). Begründet wird dies vor allem mit dem Wortlaut der Bestimmung und mit deren vermeintlicher Einschränkung gegenüber Art 17 WA durch den Wegfall des Begriffs „Gesundheitsschädigung“ (dazu aber oben 5.2.). Andere Autoren bejahen demgegenüber die Haftung für rein psychische Beeinträchtigungen, wenn das im nationalen Recht vorgesehen ist (Schmid/Giemulla in Frankfurter Kommentar zum Luftverkehrsrecht [Stand 2014] Art 17 MÜ Rz 4; wohl auch Führich in Führich/Staudinger, Handbuch des Reiserechts8 [2019] § 37 Rz 24; noch weitergehend Stefula, Schadenersatz für Passagiere im Luftfahrtgesetz [2001] 166 ff [jedenfalls Ersatzfähigkeit bei manifestem Krankheitswert])
[27] 5.4. Die Auffassung, dass Art 17 Abs 1 MÜ rein psychische Beeinträchtigungen nicht erfasse, ist jedenfalls nicht zwingend.
[28] (a) Dies folgt zunächst aus einer genaueren Betrachtung der Entstehungsgeschichte von Art 17 Abs 1 MÜ (dazu näher Jahnke, Haftung 299 ff): Im Vorentwurf für das Übereinkommen war vorgesehen gewesen, in die Haftungsbestimmung auch den Begriff der „mental injury“ aufzunehmen. Darüber wurde in der Diplomatischen Konferenz zwar keine Einigkeit erzielt. Die Konferenz hielt aber fest, dass der Begriff „bodily injury“ in das Übereinkommen aufgenommen worden sei
„on the basis of the fact that in some States damages for mental injuries are recoverable under certain circumstances, that jurisprudence in this area is developping and that it is not intended to interfere with this development, having regard to jurisprudence in areas other than international carriage by air […]“ (zitiert bei Jahnke, Haftung 304).
[29] Die Konferenz ließ die Frage daher in Wahrheit offen; es wurde letztlich der Rechtsprechung überlassen, den Begriff „bodily injury“ auszulegen (Jahnke, Haftung 304). Die Entstehungsgeschichte der Regelung steht daher einem weiteren Verständnis des Begriffs „Körperverletzung“ nicht entgegen. Andererseits kann aus den Erwägungen der diplomatischen Konferenz aber wohl nicht abgleitet werden, dass diese Frage nach dem (sonst) anwendbaren Recht zu beurteilen wäre (so aber anscheinend Führich in Führich/Staudinger, Handbuch des Reiserechts8 [2019] § 37 Rz 24). Einheitsrecht ist grundsätzlich einheitlich auszulegen; ein Rückverweis auf nationales Recht ist im Zweifel nicht anzunehmen.
[30] (b) Auch zu Art 17 Abs 1 MÜ ist anerkannt, dass psychische Schäden, die sich auch körperlich manifestieren, ersatzfähig sein können. Unstrittig ist das für körperliche Folgeschäden (vgl King v. Bristow Helicopter Ltd, n° 20: Schlaganfälle, Frühgeburten oder Magengeschwüre aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung). Darüber hinaus kann aber auch die Auffassung vertreten werden, dass als körperliche Manifestation schon Symptome der psychischen Schädigung ausreichen, die deren Krankheitswert belegen; im konkreten Fall also die Schlaf- und Konzentrationsstörungen, die plötzlichen Weinanfälle, die starke Müdigkeit und das Stottern der Klägerin. Entscheidend ist nach dieser Auffassung nicht das Ausmaß der physischen Symptome, sondern der (auch) dadurch erbrachte Nachweis, dass die behauptete psychische Beeinträchtigung nicht bloß vorgetäuscht ist, sondern tatsächlich vorliegt und Krankheitswert hat (Stefula, Schadenersatz 166 ff).
[31] (c) Ebenfalls für die weite Auslegung spricht, dass auch bei (vordergründig) rein „psychischen“ Störungen der Stoffwechsel von bestimmten Neurotransmittersystemen verändert ist (Paulitsch/Karwautz, Grundlagen der Psychiatrie2 [2019] 68), also insofern – ganz abgesehen von den oben genannten Symptomen – auch körperliche Auswirkungen im engeren Sinn vorliegen, die durch den Unfall verursacht wurden. Für posttraumatische Belastungsstörungen wurde dies in einer rezenten Studie nachgewiesen (Xiaorui Su et al, Abnormal metabolite concentrations and amygdala volume in patients with recent-onset posttraumatic stress disorder, Journal of Affective Disorders, Dec 2018; 241: 539-545; referiert in Deutsches Ärzteblatt 2019, 231, www.aerzteblatt.de/archiv/207148/Neurophysiologie-Gehirnveraenderungen-durch-Traumata ). Die Abgrenzung zwischen körperlichen Schäden im engeren Sinn und psychischen Beeinträchtigungen mit Krankheitswert verliert damit jede sachliche Rechtfertigung. Auch das spricht dafür, Art 17 Abs 1 MÜ auch bei (im konkreten Fall unzweifelhaft vorliegenden) psychischen Beeinträchtigungen mit Krankheitswert anzuwenden.
[32] (d) Die Ersatzfähigkeit psychischer Schäden sollte auch nicht davon abhängen, ob sie für sich alleine auftreten oder als Folge einer – wenn auch nur geringfügigen – Körperverletzung im engeren Sinn, die auch zu körperlichen Schmerzen geführt hat (OGH 5 Ob 34/18p). Letzteres hat die Klägerin hier nicht behauptet, sodass davon auszugehen ist, dass sie keine solche Verletzung erlitten hat. Es kann aber nach Ansicht des vorlegenden Gerichts keinen tragfähigen Unterschied begründen, ob sie beim Unfall auch eine (leichte) Körperverletzung im engeren Sinn erlitten hat oder ob sie insofern aufgrund eines glücklichen Zufalls unbeschädigt davongekommen ist. Entscheidend für ihren Anspruch sind die psychischen Folgen des Unfalls, die sich körperlich manifestieren und deren Ursache jedenfalls in der Sphäre der Beklagten liegt.
[33] 5.5. Aufgrund dieser Erwägungen neigt das vorlegende Gericht zu einer weiten Auslegung von Art 17 Abs 1 MÜ. Auch (objektivierte) psychische Störungen mit Krankheitswert sollten als Körperverletzung im Sinn von Art 17 Abs 1 MÜ angesehen werden. Zweifellos ist aber auch die gegenteilige Auffassung vertretbar. Der Europäische Gerichtshof wird daher um Klärung dieser Frage ersucht.
[34] 6. Zur zweiten Vorlagefrage:
[35] 6.1. Erfasst Art 17 Abs 1 MÜ rein psychische Beeinträchtigungen nicht, so stellt sich die Frage, ob ein Ersatzanspruch nach dem anwendbaren nationalen Recht begründet werden kann. Die Anwendbarkeit österreichischen Rechts ist insofern zwischen den Parteien nicht strittig; sie ergibt sich (mangels behaupteter Rechtswahl) je nach Qualifikation des Anspruchs aus Art 4 Abs 2 iVm Art 23 Abs 1 Rom II-VO (gewöhnlicher Aufenthalt beider Parteien in Österreich) oder Art 5 Abs 2 Rom I-VO (gewöhnlicher Aufenthalt der Klägerin und Bestimmungsort in Österreich).
[36] 6.2. Nach österreichischem Recht bestünde der Anspruch zu Recht. Allerdings sieht Art 29 MÜ vor, dass „bei der Beförderung von Reisenden […] ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, […] nur unter den Voraussetzungen und mit den Beschränkungen geltend gemacht werden [kann], die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind“. Zu dieser Regelung werden im deutschsprachigen Schrifttum zwei Auffassungen vertreten. Nach der „Verdrängungslösung“ schließt Art 29 MÜ Schadenersatzansprüche aufgrund anderer Rechtsgrundlagen von vornherein aus (Schmid/Giemulla in Frankfurter Kommentar zum Luftverkehrsrecht [Stand 2014] Art 29 MÜ Rz 2); nach der „Rahmenlösung“ bestehen die Anspruchsgrundlagen des MÜ neben jenen des nationalen Rechts; letztere werden zwar den „Voraussetzungen und Beschränkungen“ des Übereinkommens unterworfen, sind aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen (Reuschle, Montrealer Übereinkommen2 [2011] Art 29 Rz 6 f).
[37] 6.3. Wird angenommen, dass Art 17 Abs 1 MÜ die Haftung für Personenschäden aufgrund von Unfällen beim Betrieb des Luftfahrzeugs umfassend regelt, führt (bei Verneinung von Vorlagefrage 1) auch die „Rahmenlösung“ nicht zur Anwendung des nationalen Rechts. Denn in diesem Fall wäre eine der im Übereinkommen vorgesehenen „Voraussetzungen“ für die Haftung, nämlich das Vorliegen einer Körperverletzung im engeren Sinn, nicht erfüllt. Nationales Recht könnte daher nur dann angewendet werden, wenn das Übereinkommen dahin auszulegen wäre, dass es Schäden aufgrund rein psychischer Beeinträchtigungen von vornherein nicht erfasst. Das ist offenkundig die Auffassung der Klägerin. Sie liegt wohl auch jener Ansicht zugrunde, wonach psychische Störungen mit Krankheitswert dann zu ersetzen sind, wenn sie nach dem anwendbaren nationalen Recht unter den Begriff der „Körperverletzung“ fallen (Schmid/Giemulla in Frankfurter Kommentar zum Luftverkehrsrecht [Stand 2014] Art 17 MÜ Rz 4).
[38] 6.4. Diese Auffassung hätte allerdings den Nachteil, dass der Umfang der Haftung für Personenschäden, die durch einen Unfall im Sinn von Art 17 Abs 1 MÜ verursacht wurden, vom Inhalt des anwendbaren nationalen Rechts abhinge. Das liefe dem Zweck des Übereinkommens, einen einheitlichen Haftungsrahmen zu schaffen, zuwider. Zudem ist die Prämisse, dass das Übereinkommen rein psychische Folgen von Unfällen von vornherein nicht erfasse, fragwürdig. Denn Art 17 Abs 1 MÜ kann – bei Verneinung von Vorlagefrage 1 – durchaus so verstanden werden, dass Personenschäden aufgrund eines Unfalls eben nur dann zu ersetzen sind, wenn sie zum Tod oder zu einer Körperverletzung im engeren Sinn führen.
[39] 6.5. Diese Erwägungen sprechen dagegen, einen Anspruch nach nationalem Schadenersatzrecht zuzulassen, wenn Art 17 Abs 1 MÜ einen solchen nicht vorsieht. Da aber eine andere Auslegung von Art 29 MÜ nicht ganz ausgeschlossen ist, wird der Europäische Gerichtshof auch um Klärung dieser Frage ersucht.
[40] 7. Aussetzung des Verfahrens:
[41] Bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist das Verfahren über die Revision der Klägerin auszusetzen.
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