OGH 1Ob151/22w

OGH1Ob151/22w14.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder 1. C* S*, geboren * 2019, und 2. C* S*, geboren * 2021, wegen Entziehung der Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Landes Salzburg * als Kinder‑ und Jugendhilfeträger gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 14. Juli 2022, GZ 21 R 91/22m‑104, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00151.22W.0914.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Nach § 181 Abs 1 ABGB kann das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Kindeswohl gefährden, die Obsorge dem bisherigen Berechtigten ganz oder teilweise entziehen und dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger übertragen (§ 211 ABGB) oder sonst zur Sicherung des Kindeswohls geeignete sichernde oder unterstützende Maßnahmen treffen. Eine Änderung der Obsorgeverhältnisse ist nur als ultima ratio unter Anlegung eines strengen Maßstabs zulässig und sie darf nur insoweit angeordnet werden, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung notwendig ist (3 Ob 122/21v; vgl RS0048712). Bei der Anordnung von Maßnahmen im Sinn des § 181 Abs 1 ABGB ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Familienautonomie zu berücksichtigen (RS0048736 [T3]).

[2] Ob die Voraussetzungen für eine Obsorgeübertragung erfüllt sind und eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und begründet in der Regel keine erhebliche Rechtsfrage (vgl RS0115719 [T16]).

[3] 2. Die jüngere Tochter erlitt, wahrscheinlich im Rahmen eines Schütteltraumas, Serienrippenbrüche der 4.–7. rechten Rippe im hinteren Bereich, Einblutungen in den Bindehäuten beider Augen sowie Prellmarken/Einblutungen am Brustkorb rechts und am rechten Ober‑ und Unterarm aufgrund einer massiven Krafteinwirkung auf ihren Brustkorb durch einen Erwachsenen. Fest steht, dass der Verursacher dieser schweren Verletzungen des Kindes aus dem Kreis der Eltern sowie Großeltern stammt; wer aus diesem Kreis tatsächlich verantwortlich ist, konnte nicht festgestellt werden.

[4] Die Vorinstanzen haben die Rechtsprechung berücksichtigt, dass jedenfalls bei besonders schwerer Misshandlung nicht erst die erwiesene Mitwirkung eines Elternteils daran einen Grund für die Entziehung der Obsorge darstellt, sondern – zur Vermeidung einer extremen Gefährdung eines Minderjährigen – schon ein qualifizierter, auch durch umfassende Beweisaufnahmen nicht auszuräumender Verdacht (RS0047973 [T3, T5]). Sie kamen jedoch aufgrund des einmaligen Vorfalls, der sich vorher und nachher nicht mehr wiederholte (die jüngere Tochter wohnt seit Ende Juli 2021 wieder im Haushalt des Vaters, in den die Mutter im Dezember 2021 zurückkehrte), dem hohen Stellenwert der beiden Kinder für die Eltern und ihrer sehr feinfühligen Zugangsweise, dem altersentsprechenden Bindungs‑ und Beziehungsverhalten der Kinder zu ihren Eltern und dem Fehlen von Hinweisen auf eventuelle Traumata zur Erkenntnis, dass eine Entziehung der Obsorge dem Kindeswohl im konkreten Einzelfall nicht (mehr) gerecht wäre. Das Erstgericht hat den Eltern und Großeltern umfangreiche Auflagen erteilt, die sie nicht bekämpften und woraus sich – nach Ansicht des Rekursgerichts – deren Kooperationsbereitschaft ergäbe. Seit Erlassung des erstinstanzlichen Beschlusses wurden monatlich kinderärztliche Bestätigungen vorgelegt, die keine Auffälligkeiten ergaben. Die Eltern sowie sämtliche Großeltern haben ein Anti‑Agressionstraining absolviert, die Eltern besuchten zusätzlich regelmäßig die Erziehungsberatung. Zwar trifft es zu, dass die therapeutisch ambulante Familienbetreuung von dieser Einrichtung bis zur Entscheidung des Strafgerichts – jüngst wurde das strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen die Mutter von der Staatsanwaltschaft eingestellt – ausgesetzt wurde, jedoch liegen bis auf die einmalige schwere Misshandlung der jüngeren Tochter keine Anhaltspunkte für eine weiterhin bestehende Gefährdung des Kindeswohls vor, sodass bei einer Gesamtbetrachtung der konkreten Situation die Entscheidung der Vorinstanzen, eine Entziehung der Obsorge der Eltern sei nicht (mehr) gerechtfertigt, vertretbar erscheint.

[5] 3. Feststellungen des Erstgerichts (hier zum Fehlen von Anzeichen für ein „Münchhausen‑by‑proxy‑Syndrom“ bei den Eltern und zur Verursachung der Verschiebung der Bruchenden nicht durch eine weitere Misshandlung, sondern durch das Tragen im Tragetuch) kann der Oberste Gerichtshof, der auch im Außerstreitverfahren nur Rechts- und nicht Tatsacheninstanz ist (RS0006737; RS0007236), nicht überprüfen. Das Rekursgericht hat sich mit den dagegen gerichteten Argumenten des Revisionsrekurswerbers ausführlich auseinandergesetzt; ein Mangel des Rekursverfahrens oder Aktenwidrigkeiten liegen nicht vor.

[6] Mängel des Verfahrens erster Instanz, die ausnahmsweise zur Wahrung des Kindeswohls aufzugreifen wären (RS0050037 [T4]), zeigt der Revisionsrekurswerber, der die eingeholten Sachverständigengutachten für unzureichend erachtet und eine „vertiefende sachverständige Begutachtung durch einen Fachpsychiater“ moniert, nicht auf.

Stichworte