OGH 2Ob97/22m

OGH2Ob97/22m6.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende, die Hofräte Dr. Nowotny, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger sowie die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Verlassenschaftssache nach dem am 2. September 2019 verstorbenen *, zuletzt *, wegen Feststellung des Erbrechts zwischen den Antragstellern 1. *, vertreten durch Mag. Stefan Geisler, Mag. Markus Gredler, Rechtsanwälte in Zell am Ziller, 2. *, 3. *, 4. *, Zweit- bis Viertantragsteller vertreten durch Perl Holzer Rechtsanwälte GmbH in Wien, 5. *, vertreten durch DLA Piper Weiss‑Tessbach, Rechtsanwälte GmbH in Wien, 6. *, 7. *, Sechst- und Siebentantragsteller vertreten durch Perl Holzer Rechtsanwalts GmbH in Wien, 8. *, vertreten durch Mag. Dr. Andreas Stranzinger, Rechtsanwalt in Wien, und 9.*, vertreten durch Perl Holzer Rechtsanwalts GmbH in Wien, über die Revisionsrekurse der Zweit- bis Neuntantragsteller gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 30. März 2022, GZ 23 R 94/22d‑79, womit infolge Rekurses der Erstantragstellerin der Beschluss des Bezirksgerichts Tulln vom 7. Februar 2022, GZ 11 A 901/19m‑72, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00097.22M.0906.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Den Revisionsrekursen wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der erstinstanzliche Beschluss wiederhergestellt wird.

Die Erstantragstellerin ist schuldig, den Zweit- bis Viertantragstellern, demSechst- und Siebentantragsteller und der Neuntantragstellerin jeweils 1/6tel der mit 5.820,16 EUR bestimmten Kosten der Rechtsmittelverfahren (darin 970,03 EUR USt) sowie derFünftantragstellerin und dem Achtantragsteller die jeweils mit 5.002,38 EUR bestimmten Kosten der Rechtsmittelverfahren (darin 833,69 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Der 2019 verstorbene Erblasser hinterließ eine letztwillige Verfügung vom 3. 10. 2002, in der er die Erstantragstellerin als seine Lebensgefährtin bezeichnete und zu seiner Alleinerbin einsetzte. Die Zweit- bis Neuntantragsteller sind gesetzliche Erben.

[2] Der Verstorbene und die Erstantragstellerin lernten einander in den 1980er‑Jahren kennen und gingen im Jahr 1997 eine Beziehung ein. Die Erstantragstellerin war weiterhin in Tirol wohnhaft, der Verstorbene in Niederösterreich. Sie besuchten einander in regelmäßigen Abständen und für mehrere Wochen am Stück und verbrachten so insgesamt etwa sechs Monate pro Jahr miteinander. Sie tauschten Zärtlichkeiten aus; zum Geschlechtsverkehr kam es etwa drei Mal. Zwischen ihnen bestand eine tiefe seelische Verbundenheit und ein Zusammengehörigkeitsgefühl.

[3] Im September 2012 unterzog sich der Verstorbene einer Knieoperation. Die Erstantragstellerin plante, sich nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus um ihn zu kümmern und sein Haus in Niederösterreich für einige Wochen zu beziehen. Sie war in der Folge aber nicht in der Lage, den Verstorbenen alleine zu versorgen. Sie fühlte sich mit der Pflege des Verstorbenen überfordert und veranlasste bereits am Tag nach der Entlassung aus dem Krankenhaus eine neuerliche Einweisung und kehrte nach Tirol zurück. Die bereits davor tätige Haushaltshilfe des Verstorbenen organisierte für ihn in der Folge eine 24 Stunden‑Pflege. Ab November 2012 wurde er bis zu seinem Tod auf diesem Weg versorgt; die Erstantragstellerin beteiligte sich daran nicht mehr. Sie leistete auch keinen finanziellen Beitrag dazu. Sie plante auch nicht, den Verstorbenen nach Tirol zu holen. Am 26. 4. 2013 erlitt die Erstantragstellerin selbst einen Schlaganfall und benötigte danach Pflege. Bis zu ihrem Schlaganfall telefonierten der Verstorbene und die Erstantragstellerin beinahe täglich miteinander, danach zeitweise gar nicht und letztlich etwa einmal im Monat. Sie erkundigten sich dabei nach dem wechselseitigen Befinden, wobei sich die Telefonate aufgrund des geistigen Zustands des Verstorbenen immer schwieriger gestalteten. Nach ihrer Abreise im Herbst 2012 kam es lediglich einmal aus Anlass des 80. Geburtstags des Verstorbenen im Jahr 2018 zu einem Treffen der beiden. Der Verstorbene erkannte die Erstantragstellerin dabei zunächst nicht, war dann aber überrascht und erfreut über ihr Kommen. Die Erstantragstellerin empfand weiterhin eine tiefe Verbundenheit zum Verstorbenen.

[4] Die Erstantragstellerin gab eine bedingte Erbantrittserklärung zum gesamten Nachlass ab und berief sich auf das Testament. Sie brachte dazu im Wesentlichen vor, sie sei in aufrechter Lebensgemeinschaft mit dem Verstorbenen gewesen, auch wenn diese sich aufgrund der räumlichen Distanz der Wohnsitze und des Alters der Beteiligten und der jeweiligen Krankheit anders als üblich gestaltet habe. Eine Rückkehr nach Niederösterreich sei der Erstantragstellerin aufgrund ihres eigenen Schlaganfalls nicht möglich gewesen. Die Kontakte hätten sich überdies aufgrund einer sich verschlechternden Demenz des Verstorbenen verringert.

[5] Zweit- bis Neuntantragsteller gaben bedingte Erbantrittserklärungen ab und beriefen sich auf ihr gesetzliches Erbrecht. Sie brachten dazu im Wesentlichen vor, dass die Lebensgemeinschaft zwischen dem Verstorbenen und der Erstantragstellerin im Jahr 2012 geendet habe. Damit sei die letztwillige Verfügung gemäß § 725 ABGB aufgehoben. Das Testament habe ausdrücklich auf die Stellung der Erstantragstellerin als Lebensgefährtin abgezielt.

[6] Das Erstgericht stellte das Erbrecht der Zweit- bis Neuntantragsteller im Ausmaß der jeweiligen Erbantrittserklärungen fest und wies die Erbantrittserklärung der Erstantragstellerin ab. Gemäß § 725 ABGB idF des ErbRÄG 2015 würden mit Auflösung der Ehe, der eingetragenen Partnerschaft oder der Lebensgemeinschaft zu Lebzeiten des Verstorbenen davor errichtete letztwillige Verfügungen, soweit sie den früheren Ehegatten, eingetragenen Partner oder Lebensgefährten betreffen, aufgehoben, es sei denn, der Verstorbene habe ausdrücklich das Gegenteil angeordnet. Die Lebensgemeinschaft zwischen dem Verstorbenen und der Erstantragstellerin sei nach der Operation des Verstorbenen beendet worden. Da der Verstorbene auch nicht ausdrücklich das Gegenteil angeordnet habe, habe das Testament daher als aufgehoben zu gelten.

[7] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Erstantragstellerin Folge, wies die Erbantrittserklärungen der Zweit- bis Neuntantragsteller ab und stellte das Erbrecht der Erstantragstellerin aufgrund des Testaments fest. Das Erstgericht habe die Lebensgemeinschaft nach der Operation im Herbst 2012 als durch die faktischen Gegebenheiten aufgehoben angesehen. Dies reiche aber für die § 725 ABGB zugrundeliegende Vermutung eines stillschweigenden Widerrufs nicht aus. Ein ausdrücklicher Wunsch, die Lebensgemeinschaft zu beenden, ergebe sich aus dem Verhalten des Verstorbenen und der Erstantragstellerin nicht.

[8] Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs dazu fehle, ob die Rechtsfolgen des § 725 ABGB auch bei einer durch faktische Gegebenheiten aufgehobenen Lebensgemeinschaft eintreten und diese Frage über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung habe.

[9] Dagegen richten sich die Revisionsrekurse der Zweit- bis Neuntantragsteller mit dem Antrag auf Abänderung dahin, dass der erstgerichtliche Beschluss wiederhergestellt werde.

[10] Die Erstantragstellerin beantragt in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, die Revisionsrekurse zurückzuweisen, hilfsweise, ihnen nicht Folge zu geben.

[11] Die Revisionsrekurse sind zulässig und im Sinn der Abänderungsanträge auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[12] 1. Aufgrund des Todeszeitpunkts des Erblassers ist § 725 ABGB idF des ErbRÄG 2015 (BGBl I 2015/87) anzuwenden (§ 1503 Abs 7 Z 1 und 2 ABGB). Nach dieser Bestimmung werden mit Auflösung der Ehe, der eingetragenen Partnerschaft oder der Lebensgemeinschaft zu Lebzeiten des Verstorbenen davor errichtete letztwillige Verfügungen, soweit sie den früheren Ehegatten, eingetragenen Partner oder Lebensgefährten betreffen, aufgehoben, es sei denn, dass der Verstorbene ausdrücklich das Gegenteil angeordnet hat.

[13] 2. Der erkennende Fachsenat hat sich in der Entscheidung 2 Ob 173/21m ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt, wann von einer Lebensgemeinschaft iSd § 725 ABGB ausgegangen werden könne und definierte die Lebensgemeinschaft iSd § 725 Abs 1 ABGB wie folgt (Rz 49):

[14] Eine „Lebensgemeinschaft“ iSd § 725 Abs 1 ABGB ist eine eheähnliche Verbindung zwischen zwei Personen, die einerseits in einer seelischen Verbundenheit wurzelt, andererseits in der Regel auch die Merkmale einer Wohn-, Wirtschafts- und Geschlechtsgemeinschaft aufweisen muss. Allerdings müssen im Sinn eines beweglichen Systems nicht stets alle drei vorhanden sein, sondern kann das Fehlen eines Kriteriums durch das Vorliegen der anderen ausgeglichen werden, wobei stets die Umstände des Einzelfalls entscheiden. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, wie der letztwillig Verfügende selbst die von ihm gelebte Beziehung charakterisierte.

[15] 3. Das – von den Vorinstanzen im Sinn dieser Kriterien bejahte – Vorliegen einer Lebensgemeinschaft bis Herbst 2012 wird auch im Revisionsrekursverfahren nicht in Zweifel gezogen; die Revisionsrekurswerber argumentieren damit, dass nach Herbst 2012 die Lebensgemeinschaft aufgelöst war. Das ist ausschließliches Thema des Rechtsmittelverfahrens.

[16] 4. Zur Frage, wann eine Lebensgemeinschaft iSd § 725 ABGB als aufgelöst anzusehen ist, liegt bisher keine Rechtsprechung vor. In der Lehre wird übereinstimmend auf die in diesem Zusammenhang bestehende Unsicherheit hingewiesen (etwa: Tschugguel EAnm zu 2 Ob 192/18a, EF‑Z 2019/130, 229; Bahar EAnm zu 2 Ob 76/21x, AnwBl 2021/329, 682) und zusammengefasst vertreten:

[17] 4.1 Eine Auflösung sei anzunehmen, wenn ein Teil – ohne zwingende Gründe – aus der gemeinsamen Wohnung in Trennungsabsicht ausgezogen sei und noch andere Indizien für die Trennung sprechen, etwa eine Auflösung der gemeinsamen Konten oder ein gerichtliches Auseinandersetzungsverfahren (Welser, Erbrechts-Kommentar § 725 ABGB Rz 3; Deixler‑Hübner in Deixler‑Hübner/Schauer, Erbrecht Neu [2015], 39 und in Barth/Pesendorfer, Praxishandbuch des neuen Erbrechts, 119).

[18] 4.2 Umlauft/Huf in Klang3 § 725 Rz 5 betonen darüber hinaus, dass das Ende der Lebensgemeinschaft in sinngemäßer Anwendung des § 748 Abs 2 nicht zu vermuten sein werde, wenn das Ende der Haushaltsgemeinschaft aus gesundheitlichen Gründen (Pflegebedürftigkeit) erfolge (ähnlich Apathy/Musger in KBB6 § 725 Rz 3). Übereinstimmend wird auch betont, dass diese Sachverhalte bloß Indizien seien und es letztlich bei der Einzelfallentscheidung bleiben müsse (vgl etwa Niedermayr in Schwimann/Kodek 5 § 725 ABGB Rz 4 mwN).

Dazu hat der erkennende Fachsenat erwogen:

[19] 5.1 Wann eine Lebensgemeinschaft als beendet anzusehen ist, lässt sich nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beantworten. Maßgeblich ist mangels eines für deren Beendigung in der Rechtsordnung ausdrücklich vorgesehenen contrarius actus eine Gesamtbeurteilung, in die das Verhalten der Lebensgefährten und das Vorliegen der nach der Rechtsprechung zur Annahme des Vorliegens einer Lebensgemeinschaft herangezogenen Elemente einzufließen hat. Dabei kann im Sinn eines beweglichen Systems der Wegfall eines Elements durch das (weiterhin zu bejahende) Vorliegen eines anderen Elements ausgeglichen werden. Es ist auch darauf Bedacht zu nehmen, aus welchen Gründen ein Element weggefallen ist, muss doch der Wegfall eines Elements nicht zwingend zur Auflösung der Lebensgemeinschaft führen. Dies lässt sich auch aus der § 748 Abs 2 ABGB zu entnehmenden gesetzgeberischen Wertung ableiten, wonach bei Bestehen einer für Lebensgefährten typischen besonderen Verbundenheit das auf erhebliche Gründe zurückzuführende Fehlen einer dauerhaften Wohngemeinschaft der Annahme des Vorliegens einer Lebensgemeinschaft nicht entgegen steht.

[20] 5.2 In dem hier zu beurteilenden Fall existiert ab Herbst 2012 keines der drei eine Lebensgemeinschaft kennzeichnenden Elemente. Die Erstantragstellerin hat den Verstorbenen nach seiner Operation verlassen und sich an seiner Pflege in keiner Art und Weise mehr beteiligt. Sie hat ihn – abgesehen von einem Besuch zu seinem 80. Geburtstag – während der darauffolgenden sieben Jahre bis zu seinem Tod nicht mehr gesehen. Diese Entwicklung war nicht nur gesundheitlichen Gründen geschuldet. Auch wenn es der Erstantragstellerin faktisch nicht möglich war, den Verstorbenen nach der Entlassung aus dem Spital alleine zu versorgen, musste sie ihn nicht unmittelbar danach verlassen. Ihr eigener Schlaganfall ereignete sich erst ein halbes Jahr später; eine davor bestehende Absicht, den Verstorbenen zu sich zu holen oder neuerlich zu ihm zu kommen, hat es nach den Feststellungen nicht gegeben. Auch (zunächst) häufige Telefonate und ein dann sechs Jahre später erfolgter Besuch vermögen daran nichts zu ändern; beides sind keine Kriterien für eine Lebensgemeinschaft. Deren gesonderte Berücksichtigung würde die Grenze zu einer Freundschaft völlig verschwimmen lassen.

[21] 5.3 Zusammengefasst ist daher im konkreten Einzelfall die Lebensgemeinschaft ab Herbst 2012 als beendet zu betrachten, weshalb gemäß § 725 Abs 1 Satz 1 ABGB die letztwillige Verfügung als aufgehoben anzusehen ist und gesetzliche Erbfolge eintritt.

[22] 6. Den Revisionsrekursen der Zweit‑ bis Neuntantragsteller war damit im Sinn der jeweils gestellten Abänderungsanträge Folge zu geben.

[23] 7. Die Anregung der Erstantragstellerin im Rekurs, ein Gesetzesprüfungsverfahren hinsichtlich § 725 ABGB idF des ErbRÄG 2015 beim Verfassungsgerichtshof einzuleiten, war nicht aufzugreifen, weil sich der Verfassungsgerichtshof mit dieser Bestimmung bereits im Erkenntnis vom 27. 6. 2018 befasst hat und dabei zum Ergebnis gelangt ist, dass gegen die Bestimmung keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen (G 409/2017).

[24] 8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 78 iVm § 185 AußStrG. Weder Rekursbeantwortung noch Revisionsrekurs sind verfahrenseinleitende Schriftsätze, der ERV‑Zuschlag beträgt gemäß § 23a RATG damit nur je 2,10 EUR (RS0126594). Eine Pauschalgebühr fällt für Rechtsmittel im Verlassenschaftsverfahren nicht an, weshalb das Kostenverzeichnis der Fünftantragstellerin für den Revisionsrekurs um die verzeichneten Barauslagen zu kürzen war.

Stichworte