OGH 9Nc29/22x

OGH9Nc29/22x10.8.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende sowie den Hofrat und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer und Hon.‑Prof. Dr. Dehn in der Rechtsache der klagenden Parteien 1. *, 2. *, 3. *, 4. *, vertreten durch Skribe Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei * Inc, *, vertreten durch Jarolim Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 2.400 EUR sA, über den Ordinationsantrag der klagenden Parteien (§ 28 JN), in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0090NC00029.22X.0810.000

 

Spruch:

Als örtlich zuständiges Gericht wird das Bezirksgericht Schwechat bestimmt.

 

Begründung:

[1] Die in Wien ansässigen Kläger erhoben mit ihrer am 5. 7. 2021 beim Bezirksgericht Schwechat eingebrachten Klage gegenüber der Beklagten, einem kanadischen Flugunternehmen, Entschädigungsansprüche nach der Fluggastrechte-Verordnung (Verordnung [EG] 261/2004). Die Beklagte habe den bei ihr für den 6. 7. 2018 gebuchten Flug von Venedig nach Toronto (Vorflug 6. 7. 2018: Wien‑Schwechat – Venedig; Folgeflug 6. 7. 2018: Toronto – Havanna) weniger als zwei Wochen vor dem planmäßigen Abflugszeitpunkt annulliert.

[2] Zur Zuständigkeit des Bezirksgerichts Schwechat werde in eventu beantragt, der Oberste Gerichtshof möge eine Ordination des Rechtsstreits an dieses (§ 28 JN) vornehmen.

[3] Das Bezirksgericht Schwechat sprach mit Beschluss vom 21. 7. 2021 aus, örtlich unzuständig zu sein.

[4] In ihrem dagegen gerichteten Rekurs wiederholten die Kläger in eventu den Ordinationsantrag unter Verweis auf den Sitz der Beklagten in Kanada. Es wäre von einer übermäßigen Erschwernis für Verbraucher auszugehen, wenn sie ihre Rechte nur in einem Drittstaat wahrnehmen könnten und nicht innerhalb der EU.

[5] Die Beklagte beantragte in ihrer (in der Rekursbeantwortung enthaltenen) Stellungnahme die Zurück‑, in eventu Abweisung des Ordinationsantrags. Die Ticketkosten seien ohnehin bereits vor Klagseinbringung erstattet worden. Es sei aber auch nicht ersichtlich, weshalb die Rechtsverfolgung in Kanada nicht zumutbar sein solle. Die Kläger hätten nicht begründet, aus welchem Grund kanadische Gerichte die Anwendbarkeit der VO (EG) 261/2004 ablehnen würden. Überdies enthielten die kanadischen fluggastrechtlichen Bestimmungen deutlich höhere Entschädigungssummen.

[6] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Kläger keine Folge.

[7] Der Akt wurde dem Obersten Gerichtshof zur Entscheidung über den Ordinationsantrag vorgelegt.

Rechtliche Beurteilung

[8] 1. Die Bestimmung des § 101a JN idF BGBl I 2022/61, wonach für Klagen nach der Fluggastrechte-Verordnung (Verordnung [EG] Nr 261/2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung [EWG] Nr 295/91, ABl Nr L 046 vom 17. 2. 2004 S 1, in der Fassung der Berichtigung ABl Nr L 119 vom 7. 5. 2019 S 202) auch das Gericht zuständig ist, in dessen Sprengel der Abflugs‑ oder Ankunftsort liegt, ist hier nicht anzuwenden. Die Klagseinbringung erfolgte nicht nach dem 30. April 2022 (§ 123 Abs 2 Z 1 JN idF BGBl I 2022/61).

[9] 2. Die Voraussetzungen für eine Ordination durch den Obersten Gerichtshof sind gegeben.

[10] Für den Fall, dass für eine bürgerliche Rechssache die Voraussetzungen für die örtliche Zuständigkeit eines inländischen Gerichts nicht gegeben oder nicht zu ermitteln sind, bestimmt § 28 Abs 1 JN, dass der Oberste Gerichtshof aus den sachlich zuständigen Gerichten eines zu bestimmen hat, welches für die fragliche Rechtssache als örtlich zuständig zu gelten hat, wenn Österreich aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrags zur Ausübung von Gerichtsbarkeit verpflichtet (Z 1) oder der Kläger österreichischer Staatsbürger ist oder seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz im Inland hat und im Einzelfall die Rechtsverfolgung im Ausland nicht möglich oder unzumutbar wäre (Z 2) oder die inländische Gerichtsbarkeit, nicht aber ein örtlich zuständiges Gericht vereinbart worden ist (Z 3).

[11] 3.  Die Fluggastrechte-Verordnung, auf die sich die Kläger berufen, ist Bestandteil des europäischen Unionsrechts. Für dieses gilt der Grundsatz der effektiven Umsetzung („effet utile“; dazu EuGH C‑76/90 ; 2 Ob 243/12t), der ebenfalls dafür spricht, (jedenfalls) Fluggästen, die aufgrund eines Beförderungsvertrags mit einem Flugunternehmen mit Sitz in einem Drittstaat von einem in der Europäischen Union liegenden Flughafen abfliegen (sollten), die Geltendmachung und Durchsetzung von in der Verordnung begründeten Ansprüchen nicht zu erschweren. Nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung ist daher in diesem Fall ein inländisches Gericht als zuständig zu bestimmen (vgl 6 Nc 1/19b; 6 Nc 1/22g; RS0132702 [insb T2, T9, T10]), zumal die Beklagte hier auch nicht dargelegt hat, dass ein sie betreffendes kanadisches Urteil in Österreich anerkannt würde und vollstreckbar wäre.

[12] 4. Für die Auswahl des zu ordinierenden Gerichts (in örtlicher Hinsicht) enthält § 28 JN zwar keine ausdrücklichen Vorgaben; es ist dabei jedoch auf die Kriterien der Sach‑ und Parteinähe sowie der Zweckmäßigkeit Bedacht zu nehmen (RS0106680 [T13]). Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hat eine Zuweisung der Sache an das Bezirksgericht Schwechat zu erfolgen, lag doch der erste Abflugort dieses offenkundig als Einheit gebuchten Fluges (s dazu EuGH vom 7. 4. 2022, Rs C‑561/20 United Airlines ErwGr 29 mwN) im vorliegenden Fall in dessen Sprengel (vgl auch 6 Nc 1/19b; 6 Nc 1/22g).

[13] 5. Ein Kostenersatz findet im Ordinationsverfahren nicht statt (RS0114932).

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