OGH 10ObS38/22v

OGH10ObS38/22v28.7.2022

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dora Camba (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Alexander Leitner (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*, vertreten durch Dr. Ernst Summerer, Rechtsanwalt in Retz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung von Schwerarbeitszeiten, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. Dezember 2021, GZ 8 Rs 113/21 b‑55, mit dem die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Korneuburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 14. Juni 2021, GZ 7 Cgs 29/18w‑50, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00038.22V.0728.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung über die Berufung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Begründung:

[1] Mit Bescheid vom 23. Jänner 2018 stellte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt fest, dass der am 8. Dezember 1960 geborene Kläger zum Feststellungszeitpunkt 1. Jänner 2018 insgesamt 473 Beitragsmonate der Pflichtversicherung‑Erwerbstätigkeit und 25 Ersatzmonate, insgesamt somit 498 Versicherungsmonate erworben habe, lehnte aber die Anerkennung von Schwerarbeitszeiten im Zeitraum von 1. Juli 2001 bis 31. Oktober 2017 ab.

[2] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass die von ihm im Zeitraum von 1. Juli 2001 bis 31. Oktober 2017 erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung Schwerarbeitsmonate seien.

[3] Das Erstgerichtstellte fest, dass von den vom Kläger im Zeitraum von 1. Juli 2001 bis 31. Oktober 2017 erworbenen Beitragsmonaten der Pflichtversicherung die Monate Jänner und November 2002, Jänner, Februar, Juni, Oktober und Dezember 2003, Jänner und September 2005, Jänner, Februar und Oktober 2007, Oktober 2008, Jänner, Juni und Dezember 2009, November 2011, Juni 2013, Februar und Mai 2015 sowie Februar und Dezember 2016 (insgesamt 22 Monate) Schwerarbeitsmonate sind. Das darüber hinausgehende Feststellungsbegehren wies es ab.

[4] Das Berufungsgericht wies die gegen den klagestattgebenden Teil dieses Urteils gerichtete Berufung der Beklagten zurück, weil die Feststellung von 22 Schwerarbeitsmonaten auch in Zukunft keinen Anspruch des Klägers auf Schwerarbeiterpension begründen könne und deswegen nicht nur für den Kläger, sondern auch die Beklagte bedeutungslos sei. Die Beklagte sei durch die angefochtene Entscheidung daher nicht materiell beschwert.

[5] Mit ihrem – vom Kläger beantworteten – Rekurs richtet sich die Beklagte gegen die Zurückweisung ihrer Berufung und beantragt die gänzliche Abweisung der Klage.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der Rekurs ist zulässig (§ 519 Abs 1 Z 1 ZPO) und berechtigt.

[7] 1. Nach § 247 Abs 2 ASVG hat der leistungszuständige Pensionsversicherungsträger die Schwerarbeitszeiten iSd § 607 Abs 14 ASVG und § 4 Abs 3 APG festzustellen, wenn der Versicherte dies frühestens zehn Jahre vor Vollendung des (frühestmöglichen) Anfallsalters nach § 607 Abs 12 ASVG oder § 4 Abs 3 APG beantragt und aufgrund der bisher erworbenen Versicherungsmonate anzunehmen ist, dass die Voraussetzungen einer abschlagsfreien Pension nach § 607 Abs 14 ASVG oder § 4 Abs 3 APG vor Erreichen des Regelpensionsalters (§ 253 ASVG: Vollendung des 65. Lebensjahres) erfüllt werden.

[8] 2. Um im Fall von Schwerarbeit die Vergünstigung einer abschlagsfreien Pension vor Erreichen des Regelpensionsalters in Anspruch nehmen zu können, müssen nach § 607 Abs 14 ASVG und § 4 Abs 3 APG mindestens 120 Schwerarbeitsmonate innerhalb der letzten 240 Kalendermonate vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2 ASVG) erworben werden. Diese Voraussetzung kann der Kläger bis zur Vollendung seines 65. Lebensjahres am 8. Dezember 2025 nicht mehr erfüllen, auch wenn das Erstgericht im Zeitraum von 1. Juli 2001 bis 31. Oktober 2017 insgesamt 22 Schwerarbeitsmonate festgestellt hat.

[9] 3. Das Rechtsschutzbedürfnis ist eine Voraussetzung der Rechtsmittelzulässigkeit (RS0043815). Eine Beschwer liegt nur vor, wenn der Rechtsmittelwerber ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat (RS0041746). Dies erfordert grundsätzlich sowohl eine formelle Beschwer, das heißt, dass die Entscheidung von dem ihr zugrunde liegenden Sachantrag des Rechtsmittelwerbers abweicht, als auch eine materielle Beschwer, die dann vorliegt, wenn die (materielle oder prozessuale) Rechtsstellung des Rechtsmittelwerbers durch die Entscheidung beeinträchtigt wird, diese also für ihn ungünstig ausfällt (RS0041868 [T3]; RS0118925). Hingegen fehlt das für die Zulässigkeit des Rechtsmittels erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Entscheidung nur mehr theoretisch-abstrakte Bedeutung zukäme, zumal es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen ist, über bloß theoretisch bedeutsame Fragen abzusprechen (RS0002495).

[10] 4. Die Feststellung von Versicherungs‑ und Schwerarbeitszeiten nach § 247 ASVG hat zur Folge, dass die erworbenen Zeiten bindend festgestellt werden und daher einem künftigen Leistungsverfahren ohne weitere Prüfung zugrundezulegen sind, wodurch es sich bei diesem Feststellungsverfahren um einen vorgezogenen Teil des Leistungsverfahrens handelt (RS0084976). Die Feststellung des Erstgerichts, dass der Kläger 22 Schwerarbeitsmonate erworben habe, hat deshalb zur Folge, dass die Beklagte in einem künftigen Leistungsverfahren diese Schwerarbeitszeiten nicht mehr bestreiten kann, wodurch in ihre prozessuale Rechtsstellung eingegriffen wurde (10 ObS 52/22b; 10 ObS 12/22w). Richtig ist zwar, dass die vom Erstgericht festgestellten Schwerarbeitsmonate nach derzeitiger Rechtslage keine Pensionsansprüche des Klägers begründen können, doch ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Rechtslage ändert.

[11] 5. Das Berufungsgericht hat sich auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu 10 ObS 97/21v gestützt, in der einem Versicherten, der mit seiner Berufung die Feststellung von zwölf Schwerarbeitsmonaten begehrte, die Beschwer abgesprochen wurde, weil er die Mindestzahl von 120 Schwerarbeitsmonaten bis zum Regelpensionsalter nicht mehr erreichen konnte. Diese Entscheidung betraf aber einen Fall, in dem das Erstgericht dem Versicherten diese zwölf Schwerarbeitsmonate zwar zugebilligt, das Feststellungsbegehren jedoch mangels Feststellungsinteresses abgewiesen hatte, wodurch – anders als im vorliegenden Fall – gerade keine bindende Feststellung über das Vorliegen von Schwerarbeitszeiten getroffen wurde.

[12] 6. Da die Feststellung von Schwerarbeitszeiten zu einer Bindung des Versicherungsträgers im Hinblick auf künftige Leistungsansprüche führt, ist eine Beschwer auch dann anzunehmen, wenn die festgestellten Schwerarbeitszeiten nach geltender Rechtslage keine Leistungsansprüche des Versicherten begründen können (10 ObS 52/22b; 10 ObS 12/22w). Das Berufungsgericht hätte demgemäß die Berufung der Beklagten nicht mangels Beschwer zurückweisen dürfen.

[13] 7. Der Vorbehalt der Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

Stichworte