OGH 10ObS52/22b

OGH10ObS52/22b24.5.2022

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Wolfgang Kozak (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*, vertreten durch die Strohmayer Heihs Strohmayer Rechtsanwälte OG in St. Pölten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Ehm und Mag. Thomas Mödlagl, Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung von Schwerarbeitszeiten, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 24. Februar 2022, GZ 7 Rs 115/21 i‑29, mit dem die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Arbeits- und Sozialgericht vom 6. Juli 2021, GZ 29 Cgs 78/20a‑25, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00052.22B.0524.000

 

Spruch:

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und die Rechtssache zur Entscheidung über die Berufung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Begründung:

[1] Mit Bescheid vom 17. Jänner 2020 stellte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt fest, dass der am 2. November 1960 geborene Kläger zum Feststellungszeitpunkt 1. Februar 2020 insgesamt 503 Beitragsmonate der Pflichtversicherungs‑Erwerbstätigkeit und neun Ersatzmonate, insgesamt 512 Versicherungsmonate erworben habe, lehnte aber die „Anerkennung“ von Schwerarbeitszeiten im Zeitraum von 1. Juni 2002 bis 31. Dezember 2019 ab.

[2] Mit seiner dagegen gerichteten Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass die von ihm im Zeitraum von 1. Juni 2002 bis 31. Dezember 2019 erworbenen Beitragsmonate der Pflichtversicherung Schwerarbeitsmonate seien.

[3] Das Erstgericht stellte fest, dass von den vom Kläger im Zeitraum von 1. Juni 2002 bis 31. Dezember 2019 insgesamt erworbenen Beitragsmonaten der Pflichtversicherung die Monate November 2004, Jänner 2006, März 2006, Juli 2006, September 2006, Juni 2007, April 2009 und April 2013 (insgesamt acht Monate) als Schwerarbeitsmonate iSd § 4 Abs 3 APG/§ 607 Abs 14 ASVG iVm § 1 Abs 1 Z 4 der SchwerarbeitsV zu qualifizieren seien, und wies das darüber hinausgehende Feststellungsbegehren ab.

[4] Das Berufungsgericht wies die gegen den klagsstattgebenden Teil des Urteils gerichtete Berufung der Beklagten zurück, weil die Feststellung von acht Schwerarbeitsmonaten auch in Zukunft keinen Anspruch des Klägers auf Schwerarbeiterpension begründen könne und die Beklagte deshalb nicht beschwert sei.

[5] Mit ihrem – vom Kläger beantworteten – Rekurs richtet sich die Beklagte gegen die Zurückweisung ihrer Berufung und beantragt die gänzliche Abweisung der Klage.

Rechtliche Beurteilung

[6] Der Rekurs ist zulässig (§ 519 Abs 1 Z 1 ZPO) und berechtigt.

[7] 1. Nach § 247 Abs 2 ASVG hat der leistungszuständige Pensionsversicherungsträger die Schwerarbeitszeiten iSd § 607 Abs 14 ASVG und § 4 Abs 3 APG festzustellen, wenn der Versicherte dies frühestens zehn Jahre vor Vollendung des (frühestmöglichen) Anfallsalters nach § 607 Abs 12 ASVG oder § 4 Abs 3 APG beantragt und aufgrund der bisher erworbenen Versicherungsmonate anzunehmen ist, dass die Voraussetzungen einer abschlagsfreien Pension nach § 607 Abs 14 ASVG oder § 4 Abs 3 APG vor Erreichen des Regelpensionsalters (§ 253 ASVG: Vollendung des 65. Lebensjahres) erfüllt werden.

[8] 2. Um im Fall von Schwerarbeit die Vergünstigung einer abschlagsfreien Pension vor Erreichen des Regelpensionsalters in Anspruch nehmen zu können, müssen nach § 607 Abs 14 ASVG und § 4 Abs 3 APG mindestens 120 Schwerarbeitsmonate innerhalb der letzten 240 Kalendermonate vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2 ASVG) erworben werden. Diese Voraussetzung kann der Kläger bis zur Vollendung seines 65. Lebensjahres am 2. November 2025 nicht mehr erfüllen, auch wenn das Erstgericht acht Schwerarbeitsmonate in den Jahren 2002 bis 2019 festgestellt hat.

[9] 3. Das Rechtsschutzbedürfnis ist eine Voraussetzung der Rechtsmittelzulässigkeit (RS0043815). Eine Beschwer liegt nur vor, wenn der Rechtsmittelwerber ein Bedürfnis auf Rechtsschutz gegenüber der angefochtenen Entscheidung hat (RS0041746). Dies erfordert grundsätzlich sowohl eine formelle Beschwer, das heißt, dass die Entscheidung von dem ihr zugrunde liegenden Sachantrag des Rechtsmittelwerbers abweicht, als auch eine materielle Beschwer, die dann vorliegt, wenn die (materielle oder prozessuale) Rechtsstellung des Rechtsmittelwerbers durch die Entscheidung beeinträchtigt wird, diese also für ihn ungünstig ausfällt (RS0041868 [T3]; RS0118925). Hingegen fehlt das für die Zulässigkeit des Rechtsmittels erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Entscheidung nur mehr theoretisch-abstrakte Bedeutung zukäme, zumal es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanzen ist, über bloß theoretisch bedeutsame Fragen abzusprechen (RS0002495).

[10] 4. Die Feststellung von Versicherungs‑ und Schwerarbeitszeiten nach § 247 ASVG hat zur Folge, dass die erworbenen Zeiten bindend festgestellt werden und daher einem künftigen Leistungsverfahren ohne weitere Prüfung zugrundezulegen sind, wodurch es sich bei diesem Feststellungsverfahren um einen vorgezogenen Teil des Leistungsverfahrens handelt (RS0084976). Die Feststellung des Erstgerichts, dass der Kläger acht Schwerarbeitsmonate erworben habe, hat deshalb zur Folge, dass die Beklagte in einem künftigen Leistungsverfahren diese Schwerarbeitszeiten nicht mehr bestreiten kann, wodurch in ihre prozessuale Rechtsstellung eingegriffen wurde (10 ObS 12/22w). Richtig ist zwar, dass die vom Erstgericht festgestellten Schwerarbeitsmonate nach derzeitiger Rechtslage keine Pensionsansprüche des Klägers begründen können, doch ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Rechtslage ändert.

[11] 5. Das Berufungsgericht hat sich auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu 10 ObS 97/21v gestützt, in der einem Versicherten, der mit seiner Berufung die Feststellung von zwölf Schwerarbeitsmonaten begehrte, die Beschwer abgesprochen wurde, weil er die Mindestzahl von 120 Schwerarbeitsmonaten bis zum Regelpensionsalter nicht mehr erreichen konnte. Diese Entscheidung betraf aber einen Fall, in dem das Erstgericht dem Versicherten diese zwölf Schwerarbeitsmonate ohnehin zugebilligt, das Feststellungsbegehren jedoch mangels Feststellungsinteresses abgewiesen hatte, wodurch – anders als im vorliegenden Fall – gerade keine bindende Feststellung über das Vorliegen von Schwerarbeitszeiten getroffen wurde.

[12] 6. Da die Feststellung von Schwerarbeitszeiten zu einer Bindung des Versicherungsträgers im Hinblick auf künftige Leistungsansprüche führt, ist eine Beschwer auch dann anzunehmen, wenn die festgestellten Schwerarbeitszeiten nach geltender Rechtslage keine Leistungsansprüche des Versicherten begründen können (10 ObS 12/22w), weshalb das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten nicht mangels Beschwer zurückweisen hätte dürfen.

[13] 7. Der Vorbehalt der Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens beruht auf § 52 Abs 1 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG.

Stichworte