OGH 13Os10/22b

OGH13Os10/22b22.6.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 22. Juni 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz‑Hummel LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Fischer in der Strafsache gegen * M* wegen des Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung nach § 107b Abs 1, Abs 3a Z 1 und Abs 4 zweiter Fall StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 4. November 2021, GZ 125 Hv 82/21a‑26, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0130OS00010.22B.0622.000

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * M* des Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung nach (richtig) § 107b Abs 1, Abs 3a Z 1 und Abs 4 zweiter Fall StGB schuldig erkannt.

[2] Danach hat er in W* von der Jahresmitte 2016 bis zum 17. April 2021 gegen die unmündige * C* länger als ein Jahr fortgesetzt Gewalt ausgeübt, indem er ihr wiederholt, teils mehrmals die Woche, mit der Faust oder der flachen Hand auf den Kopf oder in den Rücken schlug, ihr einen Hausschuh gegen den Kopf, den Rücken oder den Bauch warf sowie sie gefährlich mit der Zufügung zumindest einer Verletzung am Körper, teils mit dem Tod bedrohte, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen, indem er mehrfach mit einem Küchenmesser in ihre Richtung hantierte und ihr zuletzt am 17. April 2021 ein Küchenmesser wenige Zentimeter vor die Brust hielt.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 3, 5, „9“ und 10 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.

[4] Die Verfahrensrüge (Z 3) behauptet einen Verstoß gegen § 159 Abs 3 StPO, weil die neunjährige Stieftochter des Angeklagten bei ihrer Entscheidung, ob sie das ihr zukommende Entschlagungsrecht nach § 156 Abs 1 Z 1 StPO in der Hauptverhandlung wahrnehmen möchte, vom Vorsitzenden des Schöffengerichts in unzulässiger Weise beeinflusst worden sei.

[5] Dabei räumt die Beschwerde ein, dass diese Zeugin vor Beginn ihrer Vernehmung über das ihr zukommende Aussageverweigerungsrecht informiert worden sei und ausdrücklich auf dessen Wahrnehmung verzichtet habe (ON 25 S 19). Allerdings habe sie über – kurz darauf erfolgte – nochmalige Belehrung, nicht aussagen zu müssen, wobei der Richter erklärte, „schon sehr froh“ zu sein, wenn sie ihm etwas erzähle, ohne neuerlichen ausdrücklichen Verzicht (weiter) ausgesagt (ON 25 S 20).

[6] Solcherart wird eine Nichtigkeit gemäß § 159 Abs 3 erster Satz StPO begründende Vernehmung ohne ausdrücklichen (in Bezug auf eine Vernehmung nicht mehrfach erforderlichen [vgl Kirchbacher/Keglevic, WK‑StPO § 159 Rz 9]) Verzicht auf die Befreiung von der Aussagepflicht nach § 156 Abs 1 Z 1 StPO oder nach einem Widerruf dieses Verzichts (vgl Kirchbacher/Keglevic, WK‑StPO § 159 Rz 13; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 223) nicht behauptet.

[7] In Bezug auf die nach Auffassung des Beschwerdeführers in der kritisierten richterlichen Belehrung liegende Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art 6 MRK) wäre es ihm freigestanden, einer solchen mit entsprechender Antragstellung (als Voraussetzung einer erfolgversprechenden Rüge nach Z 4; vgl Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 222) entgegenzuwirken.

[8] Soweit die Beschwerde Feststellungen zu Intensität und Dauer der Schmerzen vermisst (nominell Z 5 erster Fall, der Sache nach Z 9 lit a), leitet sie nicht methodengerecht aus dem Gesetz ab (RIS‑Justiz RS0116565), weshalb die jeweils festgestellten, mit Misshandlungs‑ und Bedrohungsvorsatz (US 7) teils täglich zugefügten, eingangs zusammenfassend dargestellten Übergriffe (US 5 ff) vom Misshandlungsbegriff des § 107b Abs 2 erster Fall StGB nicht umfasst sein sollten (vgl dazu 13 Os 143/11w,SSt 2011/69;RIS-Justiz RS0127377, Schwaighofer in WK2 StGB § 107b Rz 16).

[9] Gleiches gilt für die Behauptung der Rechtsrüge (Z 9 lit a), die einwendet, das Erstgericht hätte sämtliche Tathandlungen, die bloß kurzzeitig Schmerzen verursachten, „nicht [als] geeignete Tatbegehungshandlung für § 107b StGB ansehen müssen“.

[10] Die Subsumtionsrüge (Z 10) wendet sich gegen die Annahme der Qualifikation des § 107b Abs 4 zweiter Fall StGB und behauptet unter Hinweis auf das In-Kraft-Treten des § 107b Abs 3a Z 1 StGB idF BGBl I 2019/105 mit 1. Jänner 2020 eine verfehlte rechtliche Beurteilung für den vor diesem Zeitpunkt liegenden Tatzeitraum.

[11] Mit dem Einwand, nach demReferat der entscheidenden Tatsachen (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO, US 4) sei die „Gewalt nach § 107b Abs. 3a Z. 1 StGB länger als ein Jahr“ ausgeübt worden, während sich eine „Gewaltausübung für vor dem 1.1.2020 gelegene Tatzeiträume nach § 107b Abs. 3 StGB […] im Urteilsspruch ausdrücklich nicht“ finde, verkennt sie den in den Urteilsfeststellungen gelegenen Bezugspunkt der geltend gemachten materiell-rechtlichen Nichtigkeit (RIS‑Justiz RS0099810).

[12] Im Übrigen ist die Subsumtion des festgestellten Sachverhalts nach § 107b Abs 1, Abs 3a Z 1 und Abs 4 zweiter Fall StGB idgF für den Angeklagten nicht ungünstiger als jene nach dem vom 1. Juni 2009 bis zum 31. Dezember 2019 in Geltung gestandenen § 107b Abs 1, Abs 3 Z 1 und Abs 4 vierter Fall StGB idF BGBl I 2009/40 und solcherart gemäß § 61 zweiter Satz StGB rechtsrichtig erfolgt (zur Zusammenfassung einer Mehrzahl von rechtlich selbständigen Einzeltaten zu einer Subsumtionseinheit nach § 107b StGB siehe eingehend 11 Os 76/21t mwN).

[13] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – gemäß § 285d Abs 1 StPO bereits bei der nichtöffentlichen Beratung sofort zurückzuweisen.

[14] Über die Berufung hat das Oberlandesgericht zu entscheiden (§ 285i StPO).

[15] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Stichworte