European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00076.22Y.0530.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Die Streitteile schlossen 2016 einen auf fünf Jahre befristeten und österreichischem Recht unterliegenden Vertragshändlervertrag ab, mit dem dieKlägerin das ausschließliche Recht zum Vertrieb der Vertragsprodukte der Beklagten (in erster Linie Handschuhe für den Winter) in Italien erhielt. Mit Schreiben vom 30. 9. 2019 erklärte die Beklagte die außerordentliche Kündigung des Vertrags, weil die vertraglich vereinbarten Kündigungsgründe des (qualifizierten) Zahlungsverzugs und des „Rückgangs der Stückzahl“ verwirklicht seien.
[2] Die Vorinstanzen wiesen das auf Schadenersatz und Provisionsentgang gestützte Zahlungsbegehren ab und gingen vom Vorliegen einer wirksamen außerordentlichen Kündigung aus.
[3] Die Klägerin zeigt in ihrer außerordentlichen Revisionkeine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf:
Rechtliche Beurteilung
[4] 1. Allgemeine Geschäftsbedingungen bzw Vertragsformblätter iSd § 879 Abs 3 ABGB liegen nach der Rechtsprechung dann nicht vor, wenn die Vertragsbedingungen zwischen den Vertragsparteien im Einzelnen ausgehandelt wurden (RS0123499 [T2]). Von einer individuellen Vereinbarung kann in Abgrenzung von einem Formularvertrag nur gesprochen werden, wenn der Geschäftspartner auch hinsichtlich des Vertragsinhalts eine Gestaltungsfreiheit zur Wahrung eigener berechtigter Interessen hat; wenn und soweit es ihm also möglich war, die inhaltliche Ausgestaltung der Vertragsbedingungen zu beeinflussen. Sein Vertragspartner muss daher zu einer Abänderung des von ihm verwendeten Textes erkennbar bereit gewesen sein (3 Ob 189/19v Punkt 2.2. mwN).
[5] Es steht fest, dass die im Vertragsentwurf der Beklagten vorgesehene einjährige Laufzeit über Wunsch der Klägerin auf fünf Jahre verlängert wurde und die Klägerin „im Gegenzug“ den „Auflösungsvarianten“ zustimmte. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass im Hinblick auf die „Stückzahlklausel“ der Anwendungsbereich des § 879 Abs 3 ABGB wegen Vorliegens einer im Einzelnen ausgehandelten Bestimmung nicht eröffnet ist, stellt auf Basis dieser Feststellung keine im Einzelfall aufzugreifende Fehlbeurteilung dar.
[6] 2. Dass im Zeitpunkt der Kündigungserklärung ein Rückgang der von der Klägerin bei der Beklagten bestellten Stückzahl um mehr als 40 % gegenüber der Vorperiode vorlag, zieht die Klägerin im Revisionsverfahren nicht (mehr) in Zweifel. Sie argumentiert jedoch, dass die Kündigungserklärung nicht unverzüglich erfolgt und die außerordentliche Kündigung damit unwirksam sei.
[7] 2.1. Wichtige Gründe, die die vorzeitige Auflösung eines Dauerschuldverhältnisses rechtfertigen, müssen nach der Rechtsprechung bei sonstigem Verlust unverzüglich geltend gemacht werden. Bei langer Duldung des den Auflösungsgrund bildenden Sachverhalts kann nämlich ein stillschweigender Verzicht nach § 863 ABGB angenommen werden, wenn das Zuwarten mit der Auflösungserklärung unter Umständen erfolgt, aus denen mit Überlegung aller Umstände kein vernünftiger Grund daran zu zweifeln übrig bleibt, dass der Sachverhalt nicht mehr als wichtiger Auflösungsgrund geltend gemacht werden soll (RS0131588). Ob die Auflösungserklärung unverzüglich erfolgte, kann nur nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls beurteilt werden (RS0111862 [T3]).
[8] 2.2. Im erstinstanzlichen Verfahren hat die Klägerin eine Verfristung der Kündigung wegen Rückgangs der Stückzahl nicht konkret behauptet, sondern stand vielmehr auf dem – im Revisionsverfahren nicht mehr aufrecht erhaltenen – Standpunkt, sie hätte die Vorgaben zur Stückzahl bis Jahresende 2019 noch erreichen können. Ihre nunmehrige Argumentation, die Beklagte habe das Nichterreichen der Vorgaben zur Stückzahl bereits Ende Mai 2019 als unverrückbar annehmen müssen, entfernt sich von diesem Vorbringen und ist auch von den Feststellungen nicht gedeckt. Nach diesen konnten zwar Bestellungen für die kommende Wintersaison nach dem 15. 3. aufgrund der produktionsbedingten Vorlaufzeit grundsätzlich nur mehr nach Verfügbarkeit abgearbeitet werden, wobei die Streitteile die „Vororderperiode“ im Jahr 2019 bis Ende Mai verlängerten. Allerdings hatte die Klägerin in den Vorjahren noch bis Ende September Aufträge in relevantem Umfang erteilt und die Beklagte diese auch erfüllt.
[9] Da bei Beurteilung der Unzumutbarkeit der Aufrechterhaltung des Vertragsverhältnisses das Gesamtverhalten des Vertragspartners eine wesentliche Rolle spielt (RS0108379 [T13]), ist es jedenfalls vertretbar, wenn das Berufungsgericht auch berücksichtigte, dass die Beklagte zwischen Mai und September 2019 wiederholt massive, teilweise beinahe sechs Monate erreichende Zahlungsrückstände der Klägerin beanstandete.
[10] Die Annahme des Berufungsgerichts, dass die Klägerin nicht berechtigt darauf vertrauen durfte, die Beklagte werde von den vertraglich vereinbarten Gründen zur außerordentlichen Kündigung keinen Gebrauch machen (vgl 7 Ob 17/18b Punkt 6.), stellt vor diesem Hintergrund keine im Einzelfall aufzugreifende Überschreitung des Beurteilungsspielraums dar.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)