OGH 12Os145/21x

OGH12Os145/21x27.1.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Jänner 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Frank in der Strafsache gegen * V* wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und 2 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 21 Hv 94/20x des Landesgerichts Feldkirch, über die von der Generalprokuratur gegen Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Gföller, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0120OS00145.21X.0127.000

 

Spruch:

 

Im Verfahren AZ 21 Hv 94/20x des Landesgerichts Feldkirch verletzen die Durchführung der Hauptverhandlung und Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten am 27. April 2021 § 427 Abs 1 StPO.

Das Abwesenheitsurteil des Landesgerichts Feldkirch vom 27. April 2021, GZ 21 Hv 94/20x‑36, wird aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Landesgericht verwiesen.

 

Gründe:

[1] Im Verfahren AZ 21 Hv 94/20x des Landesgerichts Feldkirch legte die Staatsanwaltschaft Feldkirch * V* eine am 1. September 2020 zum Nachteil von * Z* begangene, als Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und Abs 2 StGB (I./) und Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (II./1./) beurteilte Tat sowie (damit im Zusammenhang stehend) zwei weitere als Vergehen der Körperverletzung nach §§ 15, 83 Abs 1 StGB (II./2./) und als Vergehen der Verleumdung nach § 297 Abs 1 erster Fall StGB (III./) beurteilte Taten zur Last (ON 6).

[2] Gegenstand der kriminalpolizeilichen Vernehmung des V* als Beschuldigter im Ermittlungsverfahren war zwar die zu I./ und II./1./ des Strafantrags dargestellte Tat (ON 2 S 45 ff), informiert wurde er aber lediglich über den „Verdacht auf gefährlichen Drohung“ (ON 2 S 43), ohne auf die Schnittverletzungen des Opfers am Hals einzugehen.

[3] Der vom Landesgericht Feldkirch anberaumten Hauptverhandlung vom 27. April 2021 blieb der Angeklagte fern (ON 35 S 1). Der Einzelrichter des Landesgerichts führte daraufhin die Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durch (ON 35 S 2), erkannte V* anklagekonform schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten (ON 35 S 9 f). Den Einspruch und die (nicht ausgeführte) Berufung des Angeklagten wies das Oberlandesgericht Innsbruck als unzulässig zurück (ON 47).

Rechtliche Beurteilung

[4] Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, wurde im bezeichneten Verfahren das Gesetz verletzt:

[5] Gemäß § 427 Abs 1 StPO setzt die Durchführung der Hauptverhandlung und die Fällung des Urteils in Abwesenheit des Angeklagten – unter anderem – dessen Vernehmung gemäß §§ 164 oder 165 StPO (oder in entsprechender Weise durch eine ausländische Behörde) zum Anklagevorwurf voraus. Nur eine dem Abwesenheitsverfahren vorangegangene, den gesamten Anklagevorwurf erfassende förmliche Vernehmung des Angeklagten trägt dem durch Art 6 MRK auf Verfassungsebene gehobenen Grundsatz des rechtlichen Gehörs hinreichend Rechnung (vgl RIS‑Justiz RS0130532; Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 8). Dieser erfordert die vor Beginn der Vernehmung vorzunehmende Information des Beschuldigten, welcher Tat er verdächtig ist (§ 164 Abs 1 zweiter Satz StPO).

[6] Da es für die Annahme einer Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB durch (hier) eine nach ihrer Bedeutung eine Drohung mit dem Tod darstellende Geste auf den Vorsatz des Täters ankommt (vgl zum Verhältnis der §§ 83, 107 StGB im Fall einer Drohung [hier] zugleich durch Worte und einer unmissverständlichen, zur einer Körperverletzung führenden Geste Schwaighofer in WK² StGB § 107 Rz 18 mwN; vgl zu den unterschiedlichen Formen der Drohung Jerabek/Ropper in WK² StGB § 74 Rz 25), wäre V* eingangs der Vernehmung darüber in Kenntnis zu setzen gewesen, dass er auch der Verwirklichung eines Sachverhalts verdächtig ist, der dem Vergehen der Körperverletzung nach § 83 StGB subsumierbar ist (vgl RIS‑Justiz RS0129629 [T2]; Kirchbacher/Keglevic, WK‑StPO § 164 Rz 14; Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 8; vgl auch § 50 Abs 1 zweiter Satz StPO). Nur so wäre er – im Sinne umfassender Teilhabe am Verfahren (vgl § 6 Abs 2 StPO) – in die Lage versetzt gewesen, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe vollständig zu entkräften (vgl Wiederin, WK‑StPO § 6 Rz 151 und 155 sowie zum verfassungsrechtlichen Kontext Rz 19 f mit Nachweisen aus der Judikatur des EGMR).

[7] Da V* somit hinsichtlich der ihm als Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und Abs 2 StGB (Punkt I./ des Strafantrags) und Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (Punkt II./1./ des Strafantrags) zur Last gelegten Tat nur unvollständig informiert wurde, erfolgte keine von § 427 Abs 1 StPO vorausgesetzte förmliche Vernehmung (§§ 164, 165 StPO) in Ansehung dieser Tat. Selbiges gilt für die beiden anderen Taten, die gar nicht Thema der Befragung waren. Die Durchführung der Hauptverhandlung und die Urteilsfällung in Abwesenheit des Angeklagten gemäß § 427 Abs 1 StPO waren daher nicht zulässig.

[8] Diese Gesetzesverletzung gereicht dem Angeklagten zum Nachteil, sodass sich der Oberste Gerichtshof veranlasst sah (§ 292 letzter Satz StPO), das Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht Feldkirch zu verweisen.

[9] Einer förmlichen Aufhebung (auch) der von dem Urteil rechtslogisch abhängigen Anordnungen, Verfügungen und Beschlüsse bedurfte es nicht (RIS‑Justiz RS0100444; Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 28).

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