OGH 9ObA95/21t

OGH9ObA95/21t15.12.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden,die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenauund den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Prof. Dr. Klaus Mayr (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei K* J*, vertreten durch die Moser Mutz Rechtsanwälte GesbR in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die beklagte Partei Land *, vertreten durch Holzer Kofler Mikosch Kasper Rechtsanwälte OG in Klagenfurt am Wörthersee, wegen 6.626,40 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Mai 2021, GZ 6 Ra 13/21k‑20, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt als Arbeits- und Sozialgericht vom 18. Dezember 2020, GZ 31 Cga 61/20d‑16, nicht Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:009OBA00095.21T.1215.000

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der am * 1969 geborene Kläger schloss mit dem beklagten Land mit Wirkung vom 4. 3. 2002 ein Dienstverhältnis ab. Er wurde (zunächst noch befristet) als Vertragsbediensteter zur Versehung des Dienstes als Pflegehelfer im Klinikum * aufgenommen. Seit elf Jahren ist er nicht mehr in der Pflege, sondern im Krankentransport tätig. Auf dieses privatrechtliche Dienstverhältnis ist das Kärntner Landesvertragsbediensteten-gesetz (K‑LVBG 1994) anwendbar (§ 1 Abs 1 K‑LVBG 1994).

Seine (einschlägigen) Vordienstzeiten stellen sich wie folgt dar:

1. 10. 1987 bis 31. 3. 1988 Präsenzdienst/Bundesheer

7. 6. 1989 bis 9. 6. 1989 Präsenzdienst/Bundesheer

1. 1. 1993 bis 15. 7. 1993 Pflege im Seniorenwohnheim *

1. 8. 1993 bis 15. 12. 1994 Pflege im * Seniorenheim – und Pflegepension *

27. 2. 1995 bis 3. 3. 1995 Präsenzdienst/Bundesheer

14. 8. 1995 bis 30. 6. 2001 Pflege bei *

[2] Am 3. 7. 1995 hat der Kläger die Befähigung und Berechtigung zur Ausübung des Berufs Pflegehelfer erlangt.

[3] Die Beklagte rechnete dem Kläger zu Beginn des Dienstverhältnisses Vordienstzeiten im Ausmaß von eineinhalb Jahren (sechs Monate für den Präsenzdienst und ein Jahr an sonstigen Vordienstzeiten) an. Dementsprechend wurde der Kläger in die Entlohnungsgruppe k 6c, Entlohnungsstufe 1, eingestuft. Der schriftliche Dienstvertrag (Blg ./A § 3; RS0121557 [T3]) hält fest, dass die Festsetzung des Vorrückungsstichtages erst nach Abschluss der Erhebungen hinsichtlich der Vordienstzeiten erfolgen kann.

[4] Der Kläger hat immer nur in Österreich gearbeitet und trägt sich auch nicht mit der Absicht, eine Pflegetätigkeit im Ausland zu verrichten.

[5] Mit Mahnklage vom 8. 7. 2020 begehrt der Kläger von der Beklagten die Zahlung von 6.626,40 EUR sA an Entgeltdifferenzen für die Zeit von Juli 2017 bis Juni 2020, die sich bei vollständiger Anrechnung seiner einschlägigen Vordienstzeiten im Ausmaß von 8 Jahren, 3 Monaten und 16 Tagen ergeben würden. Bei korrekter Einstufung wäre der Kläger derzeit in die Verwendungsgruppe k 6c Gehaltsstufe 18 einzustufen. Die Bestimmung des § 41 K‑LVBG 1994 über die Anrechnung von Vordienstzeiten verstoße gegen den Grundsatz der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Es gebe keine Begründung dafür, warum ein Arbeitnehmer, der seine Tätigkeit als Pflegehelfer bei der Beklagten ausgeübt habe, günstiger einzustufen sei als ein Arbeitnehmer, der seine einschlägige Berufserfahrung außerhalb der Beklagten gesammelt habe. Die Regelung sei daher dazu geeignet, inländische Arbeitnehmer davon abzuhalten, ihren Herkunftsstaat zu verlassen, weil bei einer allfälligen Rückkehr die zwischenzeitig erworbenen Beschäftigungszeiten nicht zur Gänze angerechnet würden. Dass die Anrechnungsbestimmungen im K‑LVBG 1994 keine Anrechnung sämtlicher einschlägiger Vordienstzeiten vorsehe, begründe eine sachlich nicht gerechtfertigte Inländerdiskriminierung.

[6] Die Beklagte bestritt das Klagebegehren, beantragte Klagsabweisung und wendete ein, dass der Kläger zu Beginn des Dienstverhältnisses nach § 41 K‑LVBG 1994 richtig eingestuft worden sei. Die Vordienstzeitenanrechnung sei in Entsprechung der seinerzeit geltenden – dem Unionsrecht entsprechenden – Rechtslage erfolgt. Eine Anrechnung von facheinschlägigen Zeiten sehe das K‑LVBG 1994 nicht vor. Darüber hinaus seien die vom Kläger verrichteten Arbeiten im privaten Pflegebereich für seine nunmehrige Tätigkeit im Krankentransport nicht verwertbar. Bloß nützliche Vordienstzeiten müssten nicht angerechnet werden. Da im Anlassfall kein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliege, sei der Anwendungsbereich von Art 45 AEUV nicht eröffnet. Vorsorglich werde auch der Einwand der Verjährung erhoben.

[7] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. § 41 K‑LVBG 1994 sehe keine Verpflichtung zur Anrechnung facheinschlägiger Vordienstzeiten vor. Eine unterschiedliche Anrechnung von Vordienstzeiten unter Bedachtnahme auf deren Einschlägigkeit zwischen Zeiten, die in einem Dienstverhältnis zu einer inländischen Gebietskörperschaft zurückgelegt worden seien, und sonstigen Zeiten (in der Privatwirtschaft) sei nicht gleichheitswidrig. Da kein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliege, sei der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht eröffnet.

[8] Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung des Klägers nicht Folge. § 41 K‑LVBG 1994 sah und sieht keine explizite Anrechnung facheinschlägiger Vordienstzeiten vor, sondern nur solcher Zeiten, die bei einer inländischen Gebietskörperschaft zurückgelegt worden seien. Zeiten nach § 41 Abs 3 K‑LVBG 1994 (Tätigkeiten, die für die erfolgreiche Verwendung des Vertragsbediensteten von besonderer Bedeutung seien) mache der Kläger nicht geltend. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liege nicht vor, der Anwendungsbereich des Unionsrechts (Art 45 AEUV) sei daher nicht eröffnet. Fragen der Inländerdiskriminierung müssten daher nicht an den VfGH herangetragen werden. Im Übrigen hege der VfGH keine Bedenken gegen die Unterscheidung des Gesetzgebers bei der Anrechnung von Vordienstzeiten unter Bedachtnahme auf deren Einschlägigkeit zwischen Zeiten, die in einem Dienstverhältnis zu einer inländischen Gebietskörperschaft zurückgelegt worden seien, einerseits und sonstigen Zeiten (in der Privatwirtschaft) andererseits.

[9] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision im Hinblick auf den Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 24. 2. 2021, 9 ObA 111/20v, zu.

[10] In seiner dagegen gerichteten Revision beantragt der Kläger die Abänderung des Berufungsurteils im Sinne einer gänzlichen Klagsstattgabe; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[11] Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, die Revision des Klägers zurückzuweisen, in eventu der Revision keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[12] Die Revision ist zulässig und im Sinne des eventualiter gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[13] 1. Die Parteien und Vorinstanzenhaben (erkennbar) ihrer rechtlichen Beurteilung des klagsgegenständlichen Anspruchs die zum Zeitpunkt des Beginns des Dienstverhältnisses geltenden Fassung des K‑LVBG 1994, LGBl 2000/66, zugrunde gelegt. Dieses Gesetz, insbesondere auch die Bestimmungen über die Anrechnung von Vordienstzeiten, wurde bis heute mehrmals novelliert.

[14] 2. Mit der 29. K‑LVBG‑Novelle LGBl 2019/105 wurde (über Initiativantrag) die Bestimmung des § 121 in das K‑LVBG 1994 eingeführt. Sie trat rückwirkend mit 1. 7. 1987 in Kraft (Art VI Abs 1 Z 2) und regelte den Geltungsbereich einzelner Bestimmungen, ua des § 41 dieses Gesetzes. Schon § 121 Abs 2 Satz 1 K‑LVBG 1994 in dieser Fassung sah vor, dass eine Neufestsetzung des Vorrückungsstichtages und der daraus resultierenden entgeltrechtlichen Stellung aufgrund der §§ 41 und 42 des K‑LVBG 1994 in der Fassung des Gesetzes LGBl 2019/60 von Amts wegen ohne unnötigen Aufschub zu erfolgen hat. § 121 leg cit trat aber – teilweise – rückwirkend mit 20. 12. 2019 infolge – rückwirkenden – Inkrafttretens des mit der 32. K‑LVBG‑Novelle LGBl 2021/81 novellierten § 121 Abs 2 und 5 K‑LVBG 1994 mit 21. 12. 2019 außer Kraft.

[15] 3.1. Die bislang letzte Änderung desK‑LVBG 1994 erfolgte mit der 32. K‑LVBG‑Novelle LGBl 2021/81, ausgegeben am 17. 11. 2021. Geändert wurden die Bestimmungen des § 41 Abs 1a (Art II Z 7), § 41 Abs 2 Z 2 und 3 (Art II Z 8), § 41 Abs 2 Z 8 (Art II Z 9), § 41 Abs 2 Z 10 (Art II Z 10), § 41 Abs 8 (Art II Z 11) und dem § 41 wurden die Abs 12 und 13 angefügt (Art II Z 12). Weiters wurde nach § 121 Abs 1 ein neuer Abs 1a eingefügt (Art II Z 47), § 121 Abs 2 erster Satz geändert (Art II Z 48), dem § 121 Abs 2 weitere Bestimmungen angefügt (Art II Z 49) und dem § 121 ein neuer Abs 5 angefügt (Art II Z 50).

[16] 3.2. Nachden Inkrafttretens- und Übergangsbestimmungen treten Art II Z 48, 49, 50 (§ 121 Abs 2 und Abs 5 des K‑LVBG 1994) dieses Gesetzes am 21. 12. 2019 in Kraft (Art VIII Abs 1 Z 2), Art II Z 7 (§ 41 Abs 1a des K‑LVBG 1994) am 1. 7. 1987 (Art VIII Abs 1 Z 6), Art II Z 9 und 10 (§ 41 Abs 2 Z 8 und Z 10 K‑LVBG 1994) am 1. 1. 2022 (Art VIII Abs 1 Z 7) und die übrigen Bestimmungen dieses Gesetzes an dem der Kundmachung dieses Gesetzes folgenden Monatsersten (das ist der 1. 12. 2021) in Kraft. Art VIII Abs 2 bis 10 enthält weitere (Übergangs‑)Bestimmungenim Zusammenhang mit der Neufestsetzung des Vorrückungsstichtages.

[17] 3.3.1. Nach § 121 Abs 1 K‑LVBG 1994 idF LGBl 2021/81 gilt ua die Bestimmung des § 41 dieses Gesetzes idF des Gesetzes LGBl 2019/60 für jene Vertragsbediensteten, die seit 1. 7. 1987 nach dem K‑LVBG 1994, LGBl Nr 73, in ein Dienstverhältnis zum Land Kärnten aufgenommen worden sind. § 41 dieses Gesetzes idF des Gesetzes LGBl 2019/60 tritt für diese Vertragsbediensteten (rückwirkend) mit 1. 7. 1987 in Kraft.

[18] 3.3.2. § 121 Abs 2 Satz 1 K‑LVBG 1994 idF LGBl 2021/81 bestimmt ua – wie schon in der Fassung 2019/105 –, dass eine Neufestsetzung des Vorrückungsstichtages und der daraus resultierenden entgeltrechtlichen Stellung aufgrund des § 41 K‑LVBG 1994 in der Fassung des Gesetzes LGBl 2019/60 von Amts wegen ohne unnötigen Aufschub und nur in denjenigen Fällen zu erfolgen hat, in denen die bestehende entgeltrechtliche Stellung durch den Vorrückungsstichtag bestimmt wird.

[19] 3.3.3. Eine Neufestsetzung des Vorrückungs-stichtages und der daraus resultierenden entgeltrechtlichen Stellung iSd § 121 Abs 2 K‑LVBG 1994 idF LGBl 2021/81 hat bei Vertragsbediensteten, bei welchen eine Festsetzung des Vorrückungsstichtages nach K‑LVBG 1994 idF LGBl 2011/82 auf Antrag bereits erfolgt ist, nicht zu erfolgen (§ 121 Abs 3 K‑LVBG 1994 idF LGBl 2021/81).

[20] 3.4. Mit der 32. K‑LVBG‑Novelle wurde die Besoldungsreform umgesetzt (Erl zur RV zu Zl 01‑VD‑LG‑370/2020‑320).Mit der Novellierung des § 121 Abs 2 leg cit wurde die amtswegige Neufestsetzung des Vorrückungsstichtages auf die Fälle eingeschränkt, in denen die bestehende entgeltrechtliche Stellung durch den Vorrückungsstichtag bestimmt wird. Dies ist etwa bei Bediensteten mit Sonderverträgen nicht der Fall (aaO RV s 10 f).

[21] 4. Gesetze wirken nach § 5 ABGB im Allgemeinen auf abgeschlossene Sachverhalte oder auf vergangene Zeitabschnitte bei Dauerrechtsverhältnissen nicht zurück (9 ObA 64/19f Pkt 3.1. mwN). In Anbetracht der ausdrücklichen – rückwirkend mit 1. 7. 1987 in Kraft getretenen – Regelung des § 121 Abs 1 K‑LVBG 1994 idF LGBl 2021/82 ist auf das mit Wirkung vom 4. 3. 2002 zwischen den Parteien begründete Vertragsbediensteten-verhältnis § 41 K‑LVBG 1994 idF LGBl 2019/60 sowie die – ebenfalls rückwirkend – mit 20. 12. 2019 in Kraft getretene (Neu‑)Regelung des § 121 Abs 2 Satz 1 K‑LVBG 1994 idF LGBl 2021/82 anzuwenden.

[22] 5. Auf eine Änderung der Rechtslage hat das Gericht in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind (RS0031419 [T1]). Da dies hier der Fall ist, ist die neue Rechtslage auch im vorliegenden Verfahren zu beachten.

[23] 6. Nach § 182a ZPO hat das Gericht das Sach- und Rechtsvorbringen der Parteien mit diesen zu erörtern und darf seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur dann stützen, wenn es diese mit den Parteien erörtert und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat (RS0037300 [T46]). Das hat umso mehr bei geänderter Rechtslage zu gelten. Die Parteien müssen Gelegenheit haben, zur neuen Rechtslage ein Vorbringen zu erstatten (RS0037300 [T26]). Daraus folgt, dass das Klagebegehren nach Maßgabe der neuen – im Wesentlichen schon zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung erster Instanz gegoltenen – Rechtslage zum Gegenstand einer Erörterung vor dem Erstgericht zu machen ist (vgl 8 ObA 33/19i; 9 ObA 63/19h; 9 ObA 59/21y Rz 17 ua). Insbesondere wurde bislang mit den Parteien nicht erörtert, welcher Vorrückungsstichtag (wie in § 3 des Dienstvertrags vorgesehen) für den Kläger festgesetzt wurde. Wie bereits dargelegt, war (ist) die Beklagte überdies im Anlassfall dazu verpflichtet, den Vorrückungsstichtag des Klägers neu zu berechnen (§ 121 Abs 2 Satz 1 K‑LVBG 1994). Mit der Aufhebung wird dem Kläger auch die Gelegenheit gegeben, ausgehend von diesem neuen Vorrückungsstichtag die Berechnung des Klagsanspruchs vorzunehmen und damit sein Klagebegehren schlüssig zu stellen.

[24] 7. Erst dann stellt sich die Frage, wie die vom Kläger behaupteten einschlägigen inländischen Vordienstzeiten zu behandeln sind. Eine derartige Anrechnung ist (auch) nach der 32. K‑LVBG‑Novelle nicht vorgesehen (vgl RV S 5 iVm S 3 f).

[25] 8.1. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine Regelung, wonach bei österreichischen Gebietskörperschaften zurückgelegte Vordienstzeiten zur Gänze angerechnet werden, aber eine Anrechnung von bei anderen Arbeitgebern zurückgelegten einschlägigen Vordienstzeiten ausgeschlossen ist, geeignet, Wanderarbeitnehmer, die bei anderen Arbeitgebern eine einschlägige Berufserfahrung erworben haben oder gerade erwerben, davon abzuhalten, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen (EuGH 5. 12. 2013, C‑514/12 , Salzburger Landeskliniken, Rz 28, 35; 8. 5. 2019 C‑24/17 , Österreichischer Gewerkschaftsbund, Rz 82, 92).

[26] 8.2. Dazu ist der Oberste Gerichtshof erst jüngst in seinem Vorlagebeschluss an den VfGH betreffend eine vergleichbare Bestimmung zum Stmk L‑DBR idF LGBl 2003/29 (9 ObA 81/21h Pkt 4.2.) zum Ergebnis gekommen, dass eine gesetzliche Regelung, die gleichartige oder identische (und nicht bloß „schlicht nützliche“) ausländische Vordienstzeiten nicht anrechnet, Wanderarbeitnehmer davon abhalten kann, von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch zu machen. Sie verstoßen gegen Art 45 AEUV und Art 7 Abs 1 der Verordnung (EU) Nr 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (vgl EuGH 5. 12. 2013 C‑514/12 , Salk; EuGH 10. 10. 2019 C‑703/17 , Adelheid Krah/Universität Wien; EuGH 8. 5. 2019 C‑24/17 , Österreichischer Gewerkschaftsbund; vgl auch 9 ObA 40/20b Pkt 3, 4).

[27] 8.3. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts sind diese Beschränkungen daher nicht anzuwenden, sodass Wanderarbeitnehmern im Ergebnis gleichartige oder identische Vordienstzeiten jedenfalls zur Gänze anzurechnen sind, unabhängig davon, bei welchen Arbeitgebern diese Vordienstzeiten zurückgelegt wurden.

[28] 9. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts setzt jedoch – wovon die Vorinstanzen insofern auch zutreffend ausgehen – voraus, dass sich der betroffene Arbeitnehmer auf das Unionsrecht berufen kann. Mangels grenzüberschreitenden Sachverhalts ist der Anwendungsbereich des Unionsrechts dann nicht eröffnet, wenn es um die Anrechnung von in Österreich zurückgelegten Vordienstzeiten inländischer Arbeitnehmer geht (9 ObA 64/19f Pkt 5.3. vom 17. 12. 2019 unter Bezugnahme auf 8 ObA 34/17h Pkt 4.2.; 8 ObA 8/17k Pkt 4.; 9 ObA 81/21h Pkt 4.3.). Solche Arbeitnehmer – wie hier der Kläger – können sich auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts daher nicht berufen.

[29] 10. Damit stellt sich aber – entgegen der Rechtsauffassung der Vorinstanzen – die Frage einer Inländerdiskriminierung. Auch dazu hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 9 ObA 81/21h (Pkt 4.4. mwN) ausführlich Stellung genommen. Danach (zusammengefasst) schließtder Umstand, dass sich ein Inländer nicht unmittelbar auf Art 45 AEUV berufen kann, nicht aus, dass der allfällige Verstoß einer nationalen Regelung gegen das Primärrecht in diesem Fall als Vorfrage für die nach nationalem (Verfassungs‑)Recht zu beurteilende Frage zu prüfen ist, ob ein Inländer durch die weitere Anwendung der nationalen Regelung faktisch schlechter behandelt werden darf als ein EU‑Ausländer, der sich auf die Nichtanwendbarkeit berufen kann. Führt der Anwendungsvorrang des Unionsrechts dazu, dass in Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug (Wander‑)Arbeitnehmern sämtliche einschlägige Vordienstzeiten zur Gänze und ohne quantitative oder formale Einschränkung anzurechnen waren, inländischen Arbeitnehmern demgegenüber die (dort) genannten Einschränkungen aufgebürdet werden, dann scheint eine solche Regelung Sachverhalte ohne Unionsbezug im Verhältnis zu jenen mit einem solchen Bezug zu diskriminieren.

[30] 11. Der Revision des Klägers war daher Folge zu geben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[31] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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