OGH 9ObA59/21y

OGH9ObA59/21y24.6.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisions- und Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Bernhard Gruber (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Helmut Frick (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Dr. D***** W*****, vertreten durch Dr. Martin Riedl, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Stadt Wien, 1082 Wien, Rathausstraße 4, vertreten durch Dr. Gustav Teicht, Dr. Gerhard Jöchl Rechtsanwälte Kommandit‑Partnerschaft in Wien, wegen 47.646,23 EUR brutto sA und Feststellung (11.000 EUR), über die Revisionen und Rekurse der klagenden Partei (Revisionsinteresse: 42.409,37 EUR; Rekursinteresse: 5.000 EUR) und der beklagten Partei (Revisionsinteresse: 5.236,86 EUR; Rekursinteresse: 6.000 EUR) gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. September 2015, GZ 10 Ra 57/15y‑17, mit dem das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 10. April 2015, GZ 33 Cga 97/14x‑11, teilweise bestätigt, teilweise abgeändert und teilweise aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:009OBA00059.21Y.0624.000

 

Spruch:

I.  Das unter der AZ 9 ObA 96/20p unterbrochene Rechtsmittelverfahren wird fortgesetzt.

II.  Den Revisionen der klagenden und beklagten Partei wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Den Rekursen der klagenden und beklagten Partei wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rekurs- und Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] I. Zuletzt wurde das Revisions- und Rekursverfahren mit Beschluss vom 21. 10. 2020, AZ 9 ObA 96/20p, bis zur Neufestsetzung der besoldungsrechtlichen Stellung der Klägerin gemäß § 18 Abs 4 VBO 1995 idF 4. Dienstrechts-Novelle 2019, LGBl 2019/63, unterbrochen und ausgesprochen, dass das Rechtsmittelverfahren nur über Antrag einer der Parteien fortgesetzt wird.

[2] Mit Schriftsatz der Klägerin vom 10. 5. 2021, in dem diese erklärt, dass die Beklagte nunmehr mit Mitteilung vom 25. 2. 2021 die Berechnung des Vergleichsstichtags vorgenommen habe, beantragt die Klägerin die Fortsetzung des unterbrochenen Verfahrens. Die Beklagte trat in ihrer Stellungnahme vom 1. 6. 2021 der Fortsetzung des Verfahrens nicht entgegen. In der Sache verwies sie auf die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen.

[3] II.  Die am ***** 4. 1961 geborene Klägerin steht seit 1. 2. 2011 als Vertragsbedienstete nach dem Gesetz über das Dienstrecht der Vertragsbediensteten der Gemeinde Wien (Vertragsbedienstetenordnung 1995 – VBO 1995) in einem privatrechtlichen Dienstverhältnis zur Beklagten. Sie absolvierte ein Bundesrealgymnasium und maturierte am 6. 6. 1979.

[4] Bei der Berechnung ihres Vorrückungsstichtags wurden ihr Vordienstzeiten im Ausmaß von 18 Jahren, 6 Monaten und 20 Tagen für die Vorrückung angerechnet, sodass ihr Vorrückungsstichtag mit 12. 7. 2010 errechnet und im Dienstvertrag festgehalten wurde. Demgemäß wurde die Klägerin bei Dienstantritt in das Gehaltsschema IV KAV, Verwendungsgruppe A3, Gehaltsstufe 10, mit nächster Vorrückung am 1. 8. 2012, eingestuft. Aufgrund ihrer Ernennung zur Oberärztin rückte die Klägerin im Juli 2012 in die 11. Gehaltsstufe und im August 2012 in die 12. Gehaltsstufe vor. Die Zeiten der Schulausbildung vor Vollendung des 18. Lebensjahres und die Zeiten der (einschlägigen) Tätigkeit in der Privatwirtschaft wurden der Klägerin nicht angerechnet, Zeiten der Schulausbildung nach der Vollendung des 18. Lebensjahres und die Zeiten der (einschlägigen) Tätigkeit für eine Gebietskörperschaft hingegen schon. Einen Antrag auf Neufestsetzung des Vorrückungsstichtags stellte die Klägerin nicht.

[5] Die Klägerin begehrt mit ihrem Leistungsbegehren (Punkt 1) 47.646,23 EUR brutto sA an Gehaltsdifferenzen für den Zeitraum 1. 2. 2011 bis 30. 11. 2014. Ihre Feststellungsbegehren beinhalten die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, zum einen der Klägerin auch weiterhin Bezüge in jener Höhe zu bezahlen, die sich daraus ergebe, dass im Rahmen des Vertragsbedienstetenverhältnisses alle Vordienstzeiten bestehend aus Zeiten des Schulbesuchs, des Studiums und der Dienstverhältnisse nicht nur zu Gebietskörperschaften, sondern auch in der Privatwirtschaft ab 1. 7. 1976 voll angerechnet werden, dies dem obigen Leistungsbegehren entsprechend, und dass daran anknüpfend eine Vorrückung in die Gehaltsstufe 2 nach zwei Jahren in der Gehaltsstufe 1 zugrunde gelegt wird (Punkt 2) und zum anderen das Ausmaß des Erholungsurlaubs dem Punkt 2 entsprechend anzupassen (Punkt 3). Ihre Begehren begründete sie damit, dass im Verhältnis zu Tätigkeiten bei Gebietskörperschaften gleichartige Tätigkeiten anzurechnen seien, weil diese gleichermaßen der Berufsvorbereitung dienten; ein Ausschluss der Anrechnung würde der Freizügigkeit der Arbeitnehmer widersprechen. Die Nicht-Anrechnung von Vordienstzeiten vor Vollendung des 18. Lebensjahres sei altersdiskriminierend.

[6] Die Beklagte bestritt die Klagebegehren unter Hinweis auf die Unionsrechtskonformität der angewandten Bestimmungen. Im Übrigen sei zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung die neue, durch das LGBl Wien 2015/28 geänderte, Rechtslage anzuwenden, derzufolge alle vor dem 1. 8. 2015 eingetretenen Bediensteten der Beklagten mit diesem Zeitpunkt in das neue Besoldungssystem übergeleitet worden seien. Die Bestimmungen über die Vordienstzeitenanrechnung in der Fassung vor dieser Novelle seien daher nicht mehr anzuwenden.

[7] Das Erstgericht gab den Klagebegehren – nach Schluss der mündlichen Verhandlung am 4. 3. 2015 – vollinhaltlich statt. Es beurteilte den Ausschluss der Anrechnung von Zeiten vor Vollendung des 18. Lebensjahres im Anschluss an die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Hütter als altersdiskriminierend. Die Novelle LGBl Wien 2011/10 enthalte zwar eine Neuregelung, begründe aber weiterhin eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung aufgrund des Alters und sei daher ebenfalls nicht anzuwenden. Im Anschluss an die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache SALK liege in der unterschiedlichen Anrechnung von Dienstzeiten bei einer Gebietskörperschaft und anderen Dienstzeiten eine Ungleichbehandlung, die auch zur Anrechnung dieser anderen Dienstzeiten führe.

[8] Das Berufungsgericht gab der dagegen von der Beklagten erhobenen Berufung teilweise Folge, bestätigte die Entscheidung des Erstgerichts in Bezug auf das Zahlungsbegehren im Ausmaß von 5.236,86 EUR brutto sA und wies die Mehrbegehren auf Zahlung weiterer 42.409,37 EUR brutto sA sowie auf Feststellung der Haftung der Beklagten für die Bezüge unter Berücksichtigung sämtlicher Vordienstzeiten der Klägerin, soweit es sich auf den Zeitraum ab 1. 8. 2015 bezieht, ab. Im Übrigen, also soweit sich das Feststellungsbegehren auf die Haftung der Beklagten für den Zeitraum bis 31. 7. 2015 und auf die Anpassung des Urlaubsanspruchs der Klägerin bezieht, hob es das Ersturteil auf und verwies die Rechtssache insoweit zur ergänzenden Verhandlung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Auch das Berufungsgericht vertrat die Ansicht, dass die bis zur Wiener Dienstrechtsnovelle 2015 (LGBl Wien 2015/28) geltende Rechtslage alters-diskriminierend gewesen sei. Diese Neuregelung folge allerdings dem Beispiel des Bundes und sei am Vorbild des deutschen Modells ausgerichtet, das der EuGH im Ergebnis als unionsrechtskonform beurteilt habe. Mangels Anordnung einer Rückwirkung dieser Novelle seien der Klägerin daher bis zum Inkrafttreten derselben jene Vorteile zu gewähren, die sie bei diskriminierungsfreier Rechtslage im Hinblick auf die Berücksichtigung von Schulzeiten vor der Vollendung des 18. Lebensjahres erlangt hätte. Daher seien die Schulzeiten der Klägerin ab Erfüllung der Schulpflicht bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres – 1. 7. 1976 bis 6. 4. 1979 – anzurechnen gewesen, also zusätzlich zwei Jahre, neun Monate und sechs Tage. Da nach Inkrafttreten der Neuregelung kein Anspruch auf Entlohnungsdifferenzen mehr bestehe, sei das sich auf Zeiträume danach beziehende Zahlungsbegehren abzuweisen. Mit diesem Tag sei auch das rechtliche Interesse der Klägerin an der Feststellung einer Verpflichtung zur Leistung von Differenzansprüchen weggefallen. Die Berücksichtigung von Studienzeiten im höheren Ausmaß als dies von der Beklagten bereits geschehen sei, sei gesetzlich nicht vorgesehen. Das Feststellungsbegehren beziehe sich pauschal auf „alle Zeiten“ (ua) des Studiums, sodass es nicht erkennen lasse, für welchen Zeitraum die Klägerin über das von der Beklagten berücksichtigte Ausmaß hinaus die Anrechnung von Studienzeiten begehre, sodass eine Konkretisierung erforderlich sei. Eine Benachteiligung von Wanderarbeitnehmern – und dadurch eine Beschränkung der Freizügigkeit – liege nicht vor, weil Dienstzeiten von EWR‑Bürgern in einem anderen Land des EWR gleichermaßen wie Dienstzeiten bei inländischen Gebietskörperschaften angerechnet würden. Eine Inländerdiskriminierung liege nicht vor, weil die Klägerin nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs aus der unterschiedlichen Berücksichtigung von Dienstzeiten bei einer Gebietskörperschaft und bei privaten Dienstgebern keine Ansprüche ableiten könne.

[9] Das Berufungsgericht ließ sowohl die Revision als auch den Rekurs gegen die Berufungsentscheidung zu, weil Rechtsprechung zur Unionsrechtskonformität, zur Rechtswegzulässigkeit und zum Inkrafttreten der Novelle LGBl Wien 2015/28 nicht vorliege.

[10] Mit ihrer gegen den klagsabweisenden Teil der Berufungsentscheidung gerichteten Revision und ihrem gegen den aufhebenden Teil der Berufungsentscheidung gerichteten Rekurs strebt die Klägerin die vollinhaltliche Klagsstattgabe an.

[11] Die Beklagte ficht mit ihrer Revision den klagsstattgebenden Teil der Berufungsentscheidung und mit ihrem Rekurs den aufhebenden Teil der Berufungsentscheidung an und begehrt dessen Abänderung im Sinne einer gänzlichen Klagsabweisung.

[12] Beide Parteien haben jeweils Rechtsmittelbeantwortungen zu den Rechtsmitteln des Gegners erstattet. Die Klägerin beantragt darin, der Revision und dem Rekurs der Beklagten nicht Folge zu geben, die Beklagte beantragt, die Revision und den Rekurs der Klägerin zurückzuweisen, hilfsweise diesen Rechtsmitteln keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13] Die Rechtsmittel der Parteien sind zulässig.

[14] Mit der 4. Dienstrechtsnovelle 2019, LGBl Wien 2019/63, ausgegeben am 13. 12. 2019, mit der die die Behandlung von Vordienstzeiten betreffenden Regelungen unter anderem in der DO 1994, der BO 1994 und der VBO 1994 geändert wurden, wurde die in Wien durch die Dienstrechts-Novelle 2015 geschaffene Rechtslage in Anlehnung an die neue – infolge der Entscheidung des EuGH 8. 5. 2019, C‑24/17, Österreichischer Gewerkschaftsbund im Zuge der 2. Dienstrechts-Novelle 2019 des Bundes, BGBl 2019/58, geschaffene – Bundesrechtslage grundlegend überarbeitet. Damit wurde das Ziel verfolgt, altersdiskriminierende Regelungen vollständig zu beseitigen und die aus der Verletzung des Grundsatzes der Freizügigkeit der Arbeitnehmer resultierenden Maßnahmen zu beseitigen (Erläuternde Bemerkungen zum Gesetzesentwurf Beilage 36/209, 1).

[15] Art I (DO 1994) und Art III (VBO 1995) der 4. Dienstrechts-Novelle 2019 traten mit dem der Kundmachung folgenden Tag, Art II (BO 1994) mit 1. 1. 2004 in Kraft (Art VI Z 1 und 2).

[16] Auf eine Änderung der Rechtslage hat das Gericht in jeder Lage des Verfahrens Bedacht zu nehmen, sofern die neuen Bestimmungen nach ihrem Inhalt auf das in Streit stehende Rechtsverhältnis anzuwenden sind (RS0031419 [T1]; 8 ObA 33/19i; 9 ObA 63/19h ua). Da dies hier der Fall ist, ist die neue Rechtslage auch im vorliegenden Verfahren zu beachten.

[17] Nach § 182a ZPO hat das Gericht das Sach- und Rechtsvorbringen der Parteien mit diesen zu erörtern und darf seine Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte, die eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es diese mit den Parteien erörtert und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat (RS0037300 [T46]). Das hat umso mehr bei geänderter Rechtslage zu gelten. Die Parteien müssen Gelegenheit haben, zur neuen Rechtslage ein Vorbringen zu erstatten (RS0037300 [T26]). Daraus folgt, dass das Klagebegehren nach Maßgabe der neuen Rechtslage zum Gegenstand einer Erörterung vor dem Erstgericht zu machen ist (vgl 8 ObA 33/19i; 9 ObA 63/19h ua). Überdies muss der Klägerin Gelegenheit gegeben werden, die ihrer Ansicht nach (im Fortsetzungsantrag behauptete) unrichtige Berechnung der Vordienstzeiten durch die Beklagte im gerichtlichen Verfahren geltend zu machen (vgl § 18 Abs 5 VBO 1995 idF der 4. Dienstrechts-Novelle 2019, LGBl 2019/63). Auch die Beklagte hat dann Gelegenheit, den Inhalt ihrer Mitteilung vom 25. 2. 2021 und ihrer Stellungnahme vom 1. 6. 2021 in das Verfahren einzubringen.

[18] Den Revisionen der Parteien war daher im Ergebnis Folge zu geben und die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurückzuverweisen. Im Übrigen werden die Parteien mit ihren Rekursen auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen.

[19] Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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