OGH 13Os118/21h

OGH13Os118/21h14.12.2021

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Dezember 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz‑Hummel LL.M. in Gegenwart der Schriftführerin FOI Bayer in der Strafsache gegen Mari* B* und einen Angeklagten wegen Vergehen derKörperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB, AZ 19 U 86/20z des Bezirksgerichts Floridsdorf, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil dieses Gerichts vom 4. Februar 2021 (ON 11) und einen Vorgang erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0130OS00118.21H.1214.000

 

Spruch:

 

In der Strafsache AZ 19 U 86/20z des Bezirksgerichts Floridsdorf verletzen

1) die Verlesung der Protokolle über die Vernehmung der wechselweise Mitbeschuldigten Mari* B* und Marc* B* sowie die Verlesung des Abschlussberichts der Polizeiinspektion Donaufelder Straße vom 15. Juni 2020, in welchem die Aussagen der Genannten festgehalten worden sind, in der am 4. Februar 2021 durchgeführten Hauptverhandlung § 252 Abs 1 StPO iVm § 447 StPO und

2) das Urteil vom 4. Februar 2021 (ON 11) in Ansehung der Angeklagten Mari* B* § 31 StGB.

Dieses Urteil wird aufgehoben und es wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Floridsdorf verwiesen.

 

Gründe:

[1] In der Strafsache AZ 19 U 86/20z des Bezirksgerichts Floridsdorf legte die Staatsanwaltschaft Mari* B* und Marc* B* mit Strafantrag vom 24. Juni 2020 (ON 3) ein am 26. Mai 2020 wechselweise gesetztes und jeweils als Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last.

[2] In der am 4. Februar 2021 in Abwesenheit der beiden – ordnungsgemäß geladenen (ON 8), anwaltlich nicht vertretenen – Angeklagten durchgeführten Hauptverhandlung verlas der Richter des Bezirksgerichts die „Anzeige ON 2“ (ON 10 S 1) und solcherart auch die im Abschlussbericht der Polizeiinspektion Donaufelder Straße enthaltenen Protokolle über die Vernehmung der wechselweise Mitangeklagten (ON 2 S 19 ff, 23 ff, 27 ff und 31 ff) sowie den Abschlussbericht vom 15. Juni 2020, in welchem diese Aussagen festgehalten worden sind (ON 2 S 6).

[3] Mit Abwesenheitsurteil vom selben Tag (ON 11) wurden Mari* B* und Marc* B* jeweils des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt.

[4] Eine Bedachtnahme nach § 31 StGB auf das im Verfahren AZ 56 Hv 11/20a des Landesgerichts für Strafsachen Wien ergangene und in der Hauptverhandlung als ON 5 verlesene (ON 10 S 2) rechtskräftige Urteil der Einzelrichterin dieses Gerichts vom 22. Oktober 2020, mit welchem Mari* B* des Vergehens der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung nach § 287 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war, erfolgte nicht.

[5] Das Abwesenheitsurteil erwuchs unangefochten in Rechtskraft (Zustellnachweise ON 12 S 5 und 7).

Rechtliche Beurteilung

[6] Die Verlesung und die unterbliebene Bedachtnahme auf das rechtskräftige Vor‑Urteil stehen – wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt – mit dem Gesetz nicht im Einklang:

[7] 1) Gemäß § 252 Abs 1 StPO dürfen – soweit hier von Bedeutung – Protokolle über die Vernehmung von Mitbeschuldigten und Zeugen sowie Amtsvermerke und andere amtliche Schriftstücke, in denen Aussagen dieser Personen festgehalten worden sind (dazu Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 30), in der Hauptverhandlung – neben hier nicht relevanten weiteren Ausnahmen vom Grundsatz der Unmittelbarkeit (§ 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO) – nur verlesen werden, wenn Ankläger und Angeklagter einverstanden sind (§ 252 Abs 1 Z 4 StPO).

[8] Da eine solche Zustimmung der beiden Angeklagten wegen deren Abwesenheit nicht vorlag (vgl RIS‑Justiz RS0117012 und RS0099242 [T7]), widersprach die Verlesung der Protokolle über die Aussagen der Mari* B* und des Marc* B*, die – wechselweise – Mitbeschuldigte im Verfahren gegen die jeweils andere Person waren, und die Verlesung des Abschlussberichts vom 15. Juni 2020, in welchem diese Aussagen festgehalten worden sind, in der am 4. Februar 2021 durchgeführten Hauptverhandlung § 252 Abs 1 iVm § 447 StPO.

[9] 2) Wird jemand, der bereits zu einer Strafe verurteilt worden ist, wegen einer anderen Tat verurteilt, die nach der Zeit ihrer Begehung schon in dem früheren Verfahren hätte abgeurteilt werden können, so ist gemäß § 31 Abs 1 erster Satz StGB eine Zusatzstrafe zu verhängen. Die in Ansehung der Angeklagten Mari* B* unterbliebene Bedachtnahme auf das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 22. Oktober 2020, AZ 56 Hv 11/20a, verletzt mit Blick auf den Zeitpunkt der dem Abwesenheitsurteil zugrunde liegenden Tat (26. Mai 2020) somit § 31 Abs 1 StGB.

[10] Da ein aus den aufgezeigten Gesetzesverletzungen resultierender Nachteil für die Verurteilten nicht auszuschließen ist, war deren Feststellung mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO).

Stichworte