OGH 9ObA99/21f

OGH9ObA99/21f25.11.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau und Hon.‑Prof. Dr. Dehn sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Angela Taschek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei * H*, vertreten durch Mag. Wolfgang Kleinhappel, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Land Niederösterreich, *, vertreten durch Mag. Thomas Reisch, Rechtsanwalt in Wien, wegen 147,42 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Mai 2021, GZ 9 Ra 29/21g‑13, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 14. Jänner 2021, GZ 9 Cga 111/19b‑9, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:009OBA00099.21F.1125.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

 

Der Revision der beklagten Partei wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 186,46 EUR (darin 31,08 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Zwischen der Klägerin und der Beklagten besteht ein Dienstverhältnis, das dem NÖ Landesvertragsbedienstetengesetz (NÖ LVBG) unterliegt.

[2] Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt vom 24. 3. 2020 zu WBA5‑I‑2043/338 wurde die Klägerin in Folge eines im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit im Landesklinikum * erfolgten Kontakts mit einem an COVID‑19 erkrankten Patienten vom 19. 3. 2020 bis 2. 4. 2020 in ihrer Wohnung abgesondert. Die Beklagte stellte für diesen Zeitraum die Zahlung der Erschwernis-, Infektions- und Strahlengefährdungszulage in Höhe von insgesamt 147,42 EUR brutto ein.

[3] Die Klägerin begehrte von der Beklagten die Auszahlung dieses Betrags. Sie habe aufgrund des Absonderungsbescheids der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt ihren Dienst nicht verrichten können. Gemäß § 32 Abs 3 Epidemiegesetz 1950 (EpiG) habe sie gegenüber der Beklagten als Dienstgeberin Anspruch auf Fortzahlung des regelmäßigen Entgelts im Sinne des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG). Dieses umfasse auch die vorenthaltenen Zulagen.

[4] Die Beklagte wandte ein, die Zulagen seien nicht Bestandteile des regelmäßigen Entgelts. Im Vertragsbedienstetenrecht gelte – anders als nach dem EFZG – ein eingeschränkter Entgeltbegriff. Die begehrten Sonderzulagen (§ 72 Dienstpragmatik der Landesbeamten 1972 [DPL 1972]) stünden nur bei tatsächlicher Verwendung zu und seien selbst bei Dienstverhinderung durch Krankheit oder Urlaub nicht auszuzahlen, zumal § 40 NÖ LVBG die fortzuzahlenden Zulagen taxativ aufliste.

[5] Das Erstgericht folgte dem Standpunkt der Beklagten und wies das Klagebegehren ab.

[6] Das Berufungsgericht gab der dagegen erhobenen Berufung der Klägerin Folge und änderte das angefochtene Urteil im Sinn einer Klagsstattgabe ab. Die Aufzählung der Zulagen in § 40 NÖ LVBG sei taxativ und umfasse für die Fortzahlungspflicht des Dienstgebers die Erschwernis-, Infektions- und Strahlengefährdungszulage nicht. Beim Vergütungsanspruch des § 32 Abs 3 EpiG handle es sich um einen öffentlich‑rechtlichen Anspruch gegen den Bund, der vom Arbeitgeber abgewickelt werde. Die Höhe des Anspruchs aus § 32 Abs 3 EpiG sei nach dem regelmäßigen Entgelt iSd EFZG zu bemessen. Dies gelte für alle Arbeitnehmer unabhängig davon, welches Arbeits- oder Dienstrecht auf ihr Arbeitsverhältnis Anwendung finde. Die Ausnahmebestimmungen des § 1 Abs 2 bis 4 EFZG seien nicht anzuwenden. Folglich umfasse der Anspruch des § 32 Abs 3 EpiG auch Erschwernis-, Infektions- und Strahlengefährdungszulagen. Für den Vergütungsanspruch des EpiG hätte gemäß § 32 Abs 3 zweiter Satz EpiG zunächst der Arbeitgeber aufzukommen. Im Moment der Leistung ginge der Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers gegen den Bund ex lege auf den Arbeitgeber über. Um das Ziel, dem Arbeitnehmer zu einer raschen Vergütung zu verhelfen, zu verfolgen, sei auch ein selbstständiges Klagerecht der Arbeitnehmer auf Zuhaltung der Abwicklungsverpflichtung durch den Arbeitgeber zu bejahen. Die ordentliche Revision sei zulässig, weil es zur Frage der Durchsetzung von Entgeltfortzahlungsansprüchen gegenüber Dienstgebern im Falle einer nach dem EpiG behördlich verfügten Absonderung des Dienstnehmers noch an Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fehle.

[7] In ihrer dagegen gerichteten Revision beantragt die Beklagte die Abänderung des Berufungsurteils im Sinn einer Klagsabweisung.

[8] Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[9] Die Revision ist zulässig, jedoch nicht berechtigt.

[10] 1. Der geltend gemachte Verfahrensmangel wurde geprüft, liegt jedoch nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Sekundäre Feststellungsmängel sind mit Rechtsrüge geltend zu machen (RS0043304). Das Erstgericht hat die begehrten Feststellungen aber ohnedies seinen Entscheidungsgründen als unstrittig vorangestellt.

[11] 2. Die Beklagte ist zusammengefasst der Ansicht, dass der Entgeltbegriff des EFZG nicht auf Vertragsbedienstete umgelegt werden könne.

[12] § 40 Abs 1 NÖ LVBG („Ansprüche bei Dienstverhinderung“) sieht für den Fall, dass der Vertragsbedienstete nach Antritt des Dienstes durch Unfall oder frühestens 14 Tage nach Dienstantritt durch Krankheit an der Dienstleistung verhindert ist, einen Anspruch auf das Monatsentgelt und bestimmte Zulagen vor, nicht aber die von der Klägerin begehrten Zulagen. Dass es sich hierbei um eine taxative Aufzählung handelt, ist nicht weiter strittig. Die Regelung bezieht sich nur auf den Fall einer Dienstverhinderung durch Unfall oder Krankheit, nicht aber andere Dienstverhinderungsgründe wie eine behördlich angeordnete Absonderung im Sinn des EpiG, auf die sich die Klägerin stützt.

[13] 3. Für diesen Fall enthält § 32 EpiG folgende Regelung:

Vergütung für den Verdienstentgang

§ 32.  (1) Natürlichen und juristischen Personen sowie Personengesellschaften des Handelsrechtes ist wegen der durch die Behinderung ihres Erwerbes entstandenen Vermögensnachteile dann eine Vergütung zu leisten, wenn und soweit

1. sie gemäß §§ 7 oder 17 abgesondert worden sind, oder

2. – 7. …

und dadurch ein Verdienstentgang eingetreten ist.

(2) Die Vergütung ist für jeden Tag zu leisten, der von der in Abs 1 genannten behördlichen Verfügung umfasst ist.

(3) Die Vergütung für Personen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, ist nach dem regelmäßigen Entgelt im Sinne des Entgeltfortzahlungsgesetzes, BGBl. Nr. 399/1974, zu bemessen. Die Arbeitgeber haben ihnen den gebührenden Vergütungsbetrag an den für die Zahlung des Entgelts im Betrieb üblichen Terminen auszuzahlen. Der Anspruch auf Vergütung gegenüber dem Bund geht mit dem Zeitpunkt der Auszahlung auf den Arbeitgeber über. Der für die Zeit der Erwerbsbehinderung vom Arbeitgeber zu entrichtende Dienstgeberanteil in der gesetzlichen Sozialversicherung und der Zuschlag gemäß § 21 des Bauarbeiterurlaubsgesetzes 1972, BGBl. Nr. 414, ist vom Bund zu ersetzen.

(4) …

(5) Auf den gebührenden Vergütungsbetrag sind Beträge anzurechnen, die dem Vergütungsberechtigten wegen einer solchen Erwerbsbehinderung nach sonstigen Vorschriften oder Vereinbarungen sowie aus einer anderweitigen während der Zeit der Erwerbsbehinderung aufgenommenen Erwerbstätigkeit zukommen.

(6) …

(7) …

Frist zur Geltendmachung des Anspruches auf Entschädigung oder Vergütung des Verdienstentganges

§ 33.  Der Anspruch auf Entschädigung gemäß § 29 ist binnen sechs Wochen nach erfolgter Desinfektion oder Rückstellung des Gegenstandes oder nach Verständigung von der erfolgten Vernichtung, der Anspruch auf Vergütung des Verdienstentganges gemäß § 32 binnen sechs Wochen vom Tage der Aufhebung der behördlichen Maßnahmen bei der Bezirksverwaltungsbehörde, in deren Bereich diese Maßnahmen getroffen wurden, geltend zu machen, widrigenfalls der Anspruch erlischt.

...

[14] Dem EpiG ist demnach klar zu entnehmen, dass die Bemessung des für jeden Tag der Absonderung zu leistenden Vergütungsbetrags nach dem regelmäßigen Entgelt im Sinne des EFZG vorzunehmen ist.

[15] 4. Wie schon vom Berufungsgericht zutreffend dargelegt, handelt es sich beim Anspruch nach § 32 EpiG nicht um Entgelt, sondern um eine auf einem öffentlich‑rechtlichen Titel beruhende Entschädigung des Bundes, für die der Arbeitgeber in Vorlage tritt (s VwGH 29. 3. 1984, 84/08/0043; VwGH 24. 6. 2021, Ra 2021/09/0094). Mit dem Verweis auf das EFZG wird insofern kein Entgeltanspruch im engeren Sinn geschaffen, sondern nur eine Regelung für die Bemessung der Höhe der Entschädigung für epidemiebedingte Absonderungszeiten und dergleichen getroffen. Davon werden auch Arbeitsverhältnisse zum Bund, zu einem Land, einem Gemeindeverband, einer Gemeinde ua erfasst, die sonst vom Geltungsbereich des EFZG ausgenommen sind (§ 1 Abs 2 bis 4 EFZG). Es geht in § 32 EpiG also nicht darum, dass die Entschädigungszahlungen demselben Personenkreis zu gewähren sind, der in den Anwendungsbereich des EFZG fällt, sondern darum, eine Vorgabe für die Bemessung der Entschädigung der von § 32 EpiG erfassten Personen zu machen, von denen auch Vertragsbedienstete nicht ausgenommen sind.

[16] 5. Die Beklagte meint dagegen, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass bei epidemiebedingten Entschädigungszahlungen von Vertragsbediensteten oder Beamten das EFZG nicht zu berücksichtigten sei und auch keine planwidrige Lücke vorliege. Derartiges lässt sich den Materialien zur EpiG‑Novelle 1974, mit dem der Vergütungsanspruch nach § 32 leg cit neu geregelt wurde, jedoch nicht entnehmen. Vielmehr wurde festgehalten, dass „im Interesse des Gleichheitsgebotes durch die Neufassung des § 32 eine Entschädigung für alle natürlichen und juristischen Personen sowie für die Personengesellschaften des Handelsrechts vorgesehen werden“ sollte, „die durch eine Erwerbsbehinderung infolge der im Gesetz aufgezählten behördlichen Maßnahmen einen Verdienstentgang erlitten haben“. Damit sollte eine Regelung geschaffen werden, die den zeitgemäßen Bestimmungen des § 52b des Tierseuchengesetzes in der Fassung der Tierseuchengesetznovelle 1974 entspricht (RV 1205 BlgNR XIII. GP  S 3). Hätte der Gesetzgeber die Unanwendbarkeit des § 32 EpiG auf Dienstverhältnisse von Vertragsbediensteten erzielen wollen, wäre zu erwarten gewesen, dass die Geltung des EFZG für die Bemessung der Verdienstentgangsvergütung nicht im Wege eines pauschalen Verweises erfolgt wäre, sondern der öffentliche Dienst davon ausgenommen worden wäre. Zugleich wäre angesichts des Bestrebens nach einer Entschädigung für alle natürlichen Personen (ua) zu erwarten gewesen, dass für den öffentlichen Dienst eine andere Regelung für den Verdienstentgang infolge der im EpiG aufgezählten behördlichen Maßnahmen (und nicht nur, wie in § 40 NÖ LVBG, infolge Unfall oder Krankheit) getroffen worden wäre. Dass dies für ihre Landesvertragsbediensteten der Fall gewesen wäre, behauptet die Beklagte nicht. Die Entschädigungsleistung nach § 32 EpiG ist daher auch im vorliegenden Fall nach dem EFZG zu bemessen.

[17] 6. Die Beklagte bringt auch vor, die verfahrensgegenständlichen Zulagen hätten keine „Entgeltfunktion“ und dienten nicht dazu, regelmäßig gewährt zu werden, sondern entsprächen ihrer Natur nach der Abgeltung der mit dem Dienst verbundenen Gefahren.

[18] Nach den vorstehend genannten Gesetzesmaterialien soll der tatsächlich nachgewiesene Verdienstentgang abgegolten werden (RV 1205 BlgNR XIII. GP  3). Das regelmäßige Entgelt im Sinn des EFZG ist nach dem Ausfallprinzip zu bemessen und daher jenes Entgelt, das dem Arbeitnehmer gebührt hätte, wenn keine Arbeitsverhinderung eingetreten wäre (zum Ausfallsprinzip s RS0058728, zB 9 ObA 121/10z). Der als Berechnungsbasis heranzuziehende Entgeltbegriff ist dabei weit auszulegen. Unter ihm ist nach Lehre und Rechtsprechung jede Art von Leistung zu verstehen, die dem Arbeitnehmer für die zur Verfügungstellung seiner Arbeitskraft gewährt wird. Es kommt auf die Funktion der jeweiligen Leistung als Abgeltung der Arbeitsleistung, nicht aber auf die Bezeichnung, die steuer- oder die sozialrechtliche Beurteilung an. Zulagen sind regelmäßiges Entgelt, insofern sie nicht zur Abdeckung eines mit der Arbeitsleistung zusammenhängenden finanziellen Aufwands des Arbeitnehmers erbracht werden (9 ObA 121/10z, 9 ObA 220/02x). Ob eine bestimmte Leistung des Arbeitgebers unter den Begriff des Entgelts fällt oder aber als Aufwandsentschädigung anzusehen ist, bestimmt sich allein danach, ob und inwieweit sie lediglich der Abdeckung eines konkreten finanziellen Aufwands des Arbeitnehmers dient oder (auch) Gegenleistung für die Bereitstellung seiner Arbeitskraft ist (9 ObA 101/03y). Als Aufwandersatz gelten etwa das Kilometergeld (9 ObA 142/05f), Diäten (9 ObA 8/96) oder eine Schmutzzulage, soweit dadurch ein Mehraufwand für Reinigung abgegolten wird (vgl 9 ObA 54/90). Wird ein Aufwand des Arbeitnehmers überhöht abgegolten, dann handelt es sich nur im Umfang des tatsächlichen Aufwands um Aufwandersatz, darüber hinaus jedoch um Entgelt (9 ObA 121/10z mwN). Da die streitgegenständlichen Erschwernis-, Infektions- und Strahlengefährdungszulagen jedoch keinen finanziellen Aufwand der Arbeitnehmerin abdecken, sind diese regelmäßiges Entgelt im Sinn des EFZG und in weiterer Folge auch iSd § 32 Abs 3 EpiG.

[19] 7. Die Passivlegitimation wird von der Beklagten nicht bestritten.

[20] 8. Zusammenfassend sind schon auch die von der Klägerin geltend gemachten Erschwernis-, Infektions- und Strahlengefährdungszulagen von der Verdienstentgangsvergütung nach § 32 EpiG erfasst. Da sich die Revision der Beklagten danach als unberechtigt erweist, ist ihr keine Folge zu geben.

[21] 9. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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