European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0140OS00129.21H.1122.000
Spruch:
***** S***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.
Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.
Gründe:
[1] Im von der Staatsanwaltschaft Wien zu AZ 202 St 64/21v gegen ***** S***** wegen des Verdachts des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen geführten Ermittlungsverfahren wurde der Genannte nach gerichtlicher Bewilligung (ON 20 S 4) aufgrund einer auf den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 170 Abs 1 Z 4 StPO gestützten Festnahmeanordnung der Staatsanwaltschaft (ON 20) am 2. September 2021 festgenommen (ON 23 S 1). Mit Beschluss vom 4. September 2021 verhängte das Landesgericht für Strafsachen Wien die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO (ON 29).
[2] Der gegen beide Beschlüsse erhobenen Beschwerde gab das Oberlandesgericht Wien mit dem angefochtenen Beschluss nicht Folge und setzte die Untersuchungshaft aus dem vom Erstgericht herangezogenen Haftgrund mit Wirksamkeit bis zum 6. Dezember 2021 fort (ON 53). Dabei ging es vom dringenden Verdacht aus, dass ***** S***** in W*****
I./ von Mai 2019 bis 24. April 2021 jeweils in einer Vielzahl von Angriffen
A./ Handlungen, die geeignet sind, die sittliche, seelische oder gesundheitliche Entwicklung von Personen unter 16 Jahren zu gefährden, vor einer unmündigen Person, und zwar ***** K*****, vornahm, um sich dadurch geschlechtlich zu erregen, indem er
1./ dem Genannten wiederholt Pornofilme vorführte, in denen Personen beim Geschlechtsverkehr und sonstigen geschlechtlichen Handlungen zu sehen waren;
2./ dem Genannten zu einem noch festzustellenden Zeitpunkt eine „pornografische Darstellung minderjähriger Personen“, und zwar einen animierten Comic-Pornofilm, in dem Männer beim Geschlechtsverkehr und sonstigen geschlechtlichen Handlungen mit zwei Kindern zu sehen waren, vorführte;
3./ wiederholt vor dem Genannten bis zum Samenerguss masturbierte;
B./ den unmündigen K***** dazu verleitete, eine geschlechtliche Handlung an sich selbst vorzunehmen, um sich dadurch geschlechtlich zu erregen, indem die beiden über Aufforderung des Beschuldigten 50 Mal gemeinsam masturbierten, wobei der Beschuldigte K***** während des Masturbierens beobachtete und ihm Anweisungen erteilte;
C./ am unmündigen K***** in 70 Angriffen außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen vornahm, indem er in 20 Angriffen seinen Penis mit zwei Fingern betastete, um ihn abzumessen, dem Genannten zumindest einmal ein Kondom über dessen Penis zog und in weiteren 50 Angriffen den Handverkehr an ihmdurchführte;
II./ am 24. April 2021 an oder von dem unmündigen K*****
A./ den Oralverkehr, sohin eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung, unternahm;
B./ außer dem Fall des § 206 StGB eine geschlechtliche Handlung an sich vornehmen ließ, indem er den Genannten im Anschluss an die zu Punkt II./A./ genannte Handlung aufforderte, ihm jetzt auch „etwas Gutes zu tun“, woraufhin der Genannte am Beschuldigtenden Handverkehr bis zum Samenerguss durchführte;
III./ durch die in Punkt I./B./, I./C./ und II./ genannten Handlungen mit einer minderjährigen Person, die seiner Aufsicht (als Nachhilfelehrer) unterstand, unter Ausnützung seiner Stellung gegenüber dieser Person, mehrfach geschlechtliche Handlungen vornahm oder von einer solchen Person an sich vornehmen ließ und, um sich geschlechtlich zu erregen und zu befriedigen, diese dazu verleitete, eine geschlechtliche Handlung an sich selbst vorzunehmen;
IV./ durch die in I./A./2./ genannte Tathandlung eine „pornografische Darstellung minderjähriger Personen“ (vgl aber Hinterhofer, SbgK § 207a Rz 43; Philipp in WK² StGB § 207a Rz 8) einem anderen vorführte.
[3] Das Beschwerdegericht subsumierte dieses Verhalten mehreren Vergehen der sittlichen Gefährdung von Personen unter 16 Jahren nach § 208 Abs 1 StGB (I./A./), jeweils mehreren Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 2 (I./B./) und § 207 Abs 1 StGB (I./C./ und II./B./), einem Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (II./A./), mehreren Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 2 StGB (III./) und einem Vergehen der pornografischen Darstellung Minderjähriger nach § 207a Abs 1 Z 2 StGB (IV./).
Rechtliche Beurteilung
[4] Gegen diesen Beschluss richtet sich die Grundrechtsbeschwerde des ***** S*****, die nicht im Recht ist.
1. Zum behaupteten Verstoß gegen das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen:
[5] Der Oberste Gerichtshof prüft im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit hinsichtlich der den Gerichten zukommenden Aufgaben (§ 1 Abs 1 GRBG) nach Maßgabe eigener Beweiswürdigung auch, ob diese alles ihnen Mögliche zur Abkürzung der Haft unternommen haben; eine ins Gewicht fallende Säumigkeit in Haftsachen kann somit auch ohne Verletzung des § 173 Abs 1 zweiter Satz StPO grundrechtswidrig im Sinne einer Verletzung der §§ 9 Abs 2 und 177 Abs 1 StPO sein (RIS‑Justiz RS0120790; Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 177 Rz 4 mwN; Kier in WK² GRBG § 2 Rz 17).
[6] Die Haftbeschwerde des Beschuldigten langte am 13. September 2021 beim Landesgericht für Strafsachen Wien ein (ON 41). Nach Beischaffung des sich bei der Staatsanwaltschaft befindlichen Ermittlungsakts mit Verfügung vom 14. September 2021 (ON 1.37) ordnete das Landesgericht für Strafsachen Wien am 17. September 2021 dessen Vorlage an das Beschwerdegericht an (ON 1.41), wo er am 20. September 2021 einlangte (ON 44). Nach Wahrung der Anhörungs- und Äußerungsrechte gemäß §§ 24, 89 Abs 1 StPO entschied das Oberlandesgericht am 6. Oktober 2021, somit 16 Tage nach Einlangen des Akts. Eine ins Gewicht fallende Verzögerung durch das Erstgericht oder das erstmals mit der Haftfrage befasste und zur Neubeurteilung derselben verpflichtete Oberlandesgericht ist entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht zu erblicken.
2. Zur der Sache nach allein zum Vorliegen von Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO vorgebrachten Kritik:
[7] Die rechtliche Annahme einer der in § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren prüft der Oberste Gerichtshof im
Grundrechtsbeschwerdeverfahren (nur) dahin, ob sie aus den vom Oberlandesgericht in Anschlag gebrachten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich (mit anderen Worten als nicht oder nur offenbar unzureichend begründet [vgl dazu RIS‑Justiz RS0118317]) angesehen werden müsste (RIS‑Justiz RS0117806; Kier in WK² GRBG § 2 Rz 49).
[8] Das Beschwerdegericht stützte seine Überzeugung vom Vorliegen des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO auf (nach der Verdachtslage) den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu K***** auf subtile Weise im Zuge von Nachhilfeunterricht und dessen Ausnützen zur Tatbegehung, die Steigerung der Intensität der Eingriffe in die sexuelle Integrität des K*****, die Inkaufnahme eines beträchtlichen Entdeckungsrisikos, das Bestehen eines Bedürfnisses nach sexuellen Kontakten zu Unmündigen in der hier in Rede stehenden Art und Weise und die aus der Einstellung des Beschuldigten zum Umgang eines 9‑Jährigen mit pornografischen Filmen erschlossenen Persönlichkeitsdefizite (BS 8 f) sowie auf den Fortbestand der in der jederzeitigen Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit neuen potentiellen Opfern bestehenden Verhältnisse, unter denen die dem Beschuldigten angelasteten Taten begangen worden sein sollen (BS 10).
[9] Vergleichsbasis der Willkürprüfung sind – mit Blick auf § 173 Abs 2 StPO, der nur verlangt, dass die angenommenen Haftgründe auf bestimmten Tatsachen beruhen – allein die der Prognoseentscheidung tatsächlich zugrunde gelegten Tatsachen (RIS‑Justiz https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0120458&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False ). Darauf nimmt die Grundrechtsbeschwerde mit der Behauptung, dass die vom Beschwerdegericht angenommene Prognose das Vorliegen von Verfahrensergebnissen für die erfolgte Kontaktaufnahme zu anderen Opfern voraussetze, nicht Rücksicht. Des Weiteren zieht sie aus dem Umstand, dass die Mutter des Opfers den Beschuldigten – trotz seiner zunächst erfolgten Interessenbekundung – zum Nachhilfeunterricht erst überreden musste, lediglich andere Schlüsse als das Oberlandesgericht (BS 10), ohne Willkür der Begründung aufzuzeigen.
[10] Soweit sich das Vorbringen – auch im Hinblick auf die Festnahme – gegen den erstgerichtlichen Beschluss richtet, verfehlt die Grundrechtsbeschwerde ihren in der Entscheidung über die Haft durch das Beschwerdegericht gelegenen gesetzlichen Bezugspunkt (RIS‑Justiz RS0061078). Mit der Behauptung einer Verletzung der Unschuldsvermutung (vgl Art 6 Abs 2 MRK) spricht der Beschwerdeführer keine Garantie des Grundrechts auf persönliche Freiheit an (vgl RIS‑Justiz RS0121606) und verlässt damit den Anfechtungsrahmen des ergriffenen Rechtsbehelfs (§ 1 Abs 1 GRBG, Kier in WK2 GRBG § 2 Rz 40 und 46).
[11] Die Grundrechtsbeschwerde war daher ohne Kostenausspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.
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