OGH 15Os124/20d

OGH15Os124/20d30.12.2020

Der Oberste Gerichtshof hat am 30. Dezember 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in der Strafsache gegen M* M* wegen des Verbrechens des Mordes nach §§ 15, 75 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom 8. September 2020, GZ 601 Hv 3/20g‑117, nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH‑Geo 2019) den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E130401

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil wurde M* M* des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 und Abs 2 erster und vierter Fall StGB (A./I./), des Verbrechens des Mordes nach §§ 15, 75 StGB (A./II./) sowie des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall StGB (B./) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er in Wien

A./ in der Nacht vom 10. auf den 11. Oktober 2019 N* G*

I./ mit Gewalt zur Duldung einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung genötigt, indem er sie packte, biss, kratzte, ihr vielfach wuchtig mit der Faust ins Gesicht schlug, den Mund zuhielt und sie heftig mit einer Fernbedienung vaginal sowie auf nicht mehr feststellbare Weise anal penetrierte, wobei die Tat eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) zur Folge hatte, nämlich einen Bruch des Nasenbeins mit knöcherner Eindrückung und Verschiebung, einen Bruch der Nasenscheidewand, eine Schädelprellung mit Blutunterlaufungen der Augenoberlider und Augenunterlider, Blutunterlaufungen und Schürfungen der Mittelgesichtsregion und der Wangen mit Hinweisen auf einen Bruch der rechten inneren Kieferhöhlenwand samt Blutung in die Kieferhöhle, eine Prellung des Mundes mit Schleimhauteinrissen im Bereich der Unterlippe und des Mundwinkels, Hautabschürfungen am Kinn, eine Prellung und Blutunterlaufung hinter der rechten Ohrmuschel, eine Prellung des rechten Ohres mit Einblutung in das rechte Trommelfell, Blutunterlaufungen am Hals, kratzerartige Hautabschürfungen an der rechten seitlichen Brustwand, eine Bisswunde über der Brustwirbelsäule, Blutunterlaufungen und Hautabschürfungen der Becken- und Gesäßregion, einen vier Zentimeter langen Einriss der Scheide im hinteren Anteil, hämorrhoidale Blutungen in den Enddarm und Hautabschürfungen der rechten Hand und des Handgelenks, und die vergewaltigte Person durch die Tat in besonderer Weise erniedrigt wurde;

II./ dadurch zu töten versucht, dass er es unterließ (§ 2 StGB), ihr die zur Abwendung des Todes erforderliche und geeignete ärztliche Hilfe zukommen zu lassen, obwohl er zufolge einer ihn treffenden besonderen Verpflichtung durch die Rechtsordnung, nämlich seines gefahrbegründenden Vorverhaltens, dazu verhalten war, indem er im Anschluss an die in A./I./ beschriebene Handlung die unbekleidete und von ihm schwer verletzte N* G* am Rücken aus der Wohnung auf die Straße schliff, auf der Fahrbahn zwischen zwei parkenden Fahrzeugen ablegte und wegging, wobei sie aufgrund der Blutung in den Nasen-Rachenraum im Minutenbereich erstickt wäre, wäre sie nicht von einem zufällig vorbeikommenden Passanten aufgefunden und im Rahmen von Erste-Hilfe-Maßnahmen versorgt worden;

B./ am 11. Oktober 2019 die Polizeibeamten Z* Gr* und P* S* mit Gewalt an seiner Festnahme zu hindern versucht, indem er mehrere Fußtritte und Faustschläge gegenüber den Polizeibeamten setzte und sich mit voller Kraft aus seiner Fixierung zu lösen versuchte.

[3] Die Geschworenen haben die drei anklagekonform gestellten Hauptfragen bejaht und die jeweils entsprechende Zusatzfrage nach Zurechnungsunfähigkeit (§ 11 StGB) verneint. Eventualfragen nach dem Verbrechen der absichtlichen schweren Körperverletzung (§ 87 Abs 1 StGB; zu A./I./) und der schweren Körperverletzung (§ 84 Abs 4 StGB; zu A./I./) sowie nach dem Vergehen der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung im Zustand voller Berauschung (§ 287 Abs 1 StGB; zu A./I./ und II./ und B./) blieben demgemäß unbeantwortet.

Rechtliche Beurteilung

 

[4] Dieses Urteil bekämpft der Angeklagte mit einer auf Z 6, 8 und 12 des § 345 Abs 1 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde; diese verfehlt ihr Ziel.

[5] Mit der Fragenrüge (Z 6) kritisiert der Beschwerdeführer eine seiner Ansicht nach nicht ausreichend „deutliche Bezeichnung“ der Hauptfrage 2 (§§ 15, 75 StGB; A./II./), weil der (zumindest bedingte) Vorsatz in Bezug auf das Vorliegen einer tatbestandsgemäßen Situation (Vorliegen einer die Erfolgsabwendungspflicht begründenden Situation; vgl Hilf in WK2 StGB § 2 Rz 42, 136) nicht darin aufgenommen worden sei.

[6] Sie lässt dabei aber eine Darlegung vermissen, weshalb die sowohl dem Text der §§ 15, 75 StGB entsprechende (§ 312 Abs 1 StPO) als auch die einzelnen (objektiven) Tatbestandsmerkmale des § 2 StGB umfassende Formulierung („vorsätzlich zu töten versucht, indem er es unterließ, ihr die zur Abwendung des Todes erforderliche Hilfe zukommen zu lassen …, wobei sie … im Minutenbereich erstickt wäre“) nicht unmissverständlich auch die erforderliche subjektive Tatseite zum Ausdruck bringen sollte (§ 7 Abs 1 StGB; zur Subintelligierung des bedingten Vorsatzes vgl RIS-Justiz RS0113270).

[7] Soweit die Fragenrüge (Z 6) eine Eventualfrage nach dem Vergehen des Imstichlassen eines Verletzten „iSd § 94 StGB“ reklamiert, macht sie – entgegen den Anforderungen der Prozessordnung – nicht klar, weshalb die vom Sachverständigen festgestellte mittelgradige Berauschung des Angeklagten und der Umstand, dass das Opfer nicht bewusstlos war, sondern – vom Angeklagten wahrgenommen – geschrien habe (Zeuge R*; ON 105 S 59), ernstzunehmende Indizien für die begehrte Eventualfrage darstellen sollten (RIS-Justiz RS0100860 [T1]).

[8] Eine prozessordnungsgemäße Ausführung der Instruktionsrüge (Z 8) verlangt den Vergleich der tatsächlich erteilten Rechtsbelehrung mit dem nach § 321 Abs 2 StPO erforderlichen Inhalt und die darauf gegründete deutliche und bestimmte Darstellung der behaupteten Unrichtigkeit der den Geschworenen zuteil gewordenen juristischen Information (RIS‑Justiz RS0119549). Dabei ist zu beachten, dass sämtliche nach §§ 321, 323 Abs 1 und 327 Abs 1 StPO zu den beschriebenen Inhalten erteilten Belehrungen eine Einheit bilden, die nur als Ganzes betrachtet richtig oder unrichtig sein kann.

[9] Soweit die Rüge eine Belehrung zur objektiven Zurechenbarkeit des (ohnehin nicht eingetretenen) Erfolgs und zur Erkennbarkeit der Gefährdungssituation (zu A./II./) einfordert, geht sie nicht von der Gesamtheit der Rechtsbelehrung aus, die sowohl zur objektiven Zurechenbarkeit des Erfolgs (S 8 f) als auch zum Tatbildirrtum (S 7 f) und zur Begehung durch Unterlassung (S 11 f iVm 16 ff) die entsprechenden Informationen enthält. Das Vorbringen, „andernfalls ist es nicht auszuschließen, dass die Geschworenen das Vorliegen eines Tatbildirrtums bejaht hätten“, verbleibt im Bereich der Spekulation.

[10] Weshalb die Passage der Rechtsbelehrung, wonach die Geschworenen die Hauptfrage 2 jedenfalls zu beantworten hätten (S 25 der Belehrung), unrichtig sein soll, bleibt unklar. Denn in dem von der Beschwerde angesprochenen Fall fehlender Garantenstellung („keine Pflicht zur Rettung“) wäre die Hauptfrage 2 schlicht zu verneinen gewesen.

[11] Die Subsumtionsrüge (Z 12) strebt (zu A./II./) eine Verurteilung nach dem „Tatbestand des § 94 StGB“ an, geht dabei aber nicht – wie dies bei der Geltendmachung materiell‑rechtlicher Nichtigkeit notwendig ist (RIS-Justiz RS0099810, RS0101527) – von der Gesamtheit der im Wahrspruch der Geschworenen getroffenen Feststellungen aus, wonach der Angeklagte N* G* vorsätzlich zu töten versucht hat, indem er es unterließ, ihr die zur Abwendung des Todes erforderliche und geeignete ärztliche Hilfe zukommen zu lassen (US 5). Von der durch die Geschworenen konstatierten subjektiven Tatseite ist auch umfasst, dass der Angeklagte die Gefahr des Todeseintritts durch Ersticken erkannt hat. Das weitere Vorbringen der Beschwerde, dass dies „nicht der Fall gewesen“ sei bzw es „keinerlei Beweisergebnisse dafür“ gebe, bekämpft lediglich die den Geschworenen vorbehaltene Beweiswürdigung nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht zulässigen Berufung wegen Schuld.

[12] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§§ 285d Abs 1, 344 StPO).

[13] Aus deren Anlass überzeugte sich der Oberste Gerichtshof – ebenfalls im Einklang mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – von einer dem Schuldspruch wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 und Abs 2 erster und vierter Fall StGB (A./I./) anhaftenden, vom Angeklagten nicht geltend gemachten Nichtigkeit (§ 345 Abs 1 Z 12 StPO).

[14] Eine schwere Verletzungsfolge erfassende Erfolgsqualifikation tritt gegenüber einem vorsätzlichen – auch nur versuchten (RIS-Justiz RS0126577; Ratz in WK2 StGB Vor §§ 28–31 Rz 51) – Tötungsdelikt im Fall gleich hoher oder geringerer Strafdrohung aufgrund stillschweigender Subsidiarität zurück, womit Letzteres nur mit dem Grundtatbestand der erfolgsqualifizierten strafbaren Handlung konkurriert.

[15] Da nach dem Wahrspruch zur Hauptfrage 2 ein einheitliches Tatgeschehen, bei welchem die zusammentreffenden Taten – bei identem Angriffsobjekt – in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen, vorgelegen hat, ist von Subsidiarität der Erfolgsqualifikation des § 201 Abs 2 erster Fall StGB (A./I./) gegenüber §§ 15, 75 StGB (A./II./) auszugehen (vgl 15 Os 147/14b). Die Unterstellung der Tat auch unter den ersten Fall des § 201 Abs 2 StGB erfolgte daher rechtsfehlerhaft.

[16] Zu einem amtswegigen Vorgehen (§ 290 Abs 1 StPO) sah sich der Oberste Gerichtshof nicht veranlasst, weil die unrichtige Subsumtion nicht den anzuwendenden Strafrahmen betrifft und die solcherart rechtsfehlerhafte (§ 345 Abs 1 Z 13 StPO) aggravierende Wertung der mehrfachen Qualifikation nach § 201 Abs 2 StGB (US 9) vom Oberlandesgericht im Rahmen der ihm zukommenden Entscheidung über die Berufung (§§ 285i, 344 StPO) Rechnung getragen werden kann (RIS-Justiz RS0090885, RS0112518; Ratz, WK-StPO § 290 Rz 29). An die verfehlte Subsumtion ist es dabei nicht gebunden (RIS-Justiz RS0118870).

[17] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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