OGH 8ObA83/20v

OGH8ObA83/20v23.10.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Herbert Böhm (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei V***** H*****, vertreten durch Dr. Peter Wallnöfer, Mag. Eva Suitner, Bsc, MMMag. Nadja Auer, Rechtsanwälte in Innsbruck, gegen die beklagte Partei C***** F***** GmbH, *****, vertreten durch Körber-Risak Rechtsanwalts GmbH in Wien, wegen Feststellung (Interesse 29.596,98 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Teilurteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 2. Juli 2020, GZ 13 Ra 13/20i‑17, mit dem das Teilurteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. Dezember 2019, GZ 46 Cga 78/19z‑7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:008OBA00083.20V.1023.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Die Beklagte, die – im Revisionsverfahren unstrittig – mindestens 300 Mitarbeiter beschäftigt, kündigte das Arbeitsverhältnis des 1973 geborenen Klägers am 30. 9. 2019 zum 31. 1. 2020. Insgesamt löste sie innerhalb von 30 Tagen 10 Arbeitsverhältnisse auf, ohne eine Anzeige nach § 45a Abs 1 AMFG zu erstatten. Von den gekündigten Arbeitnehmern hatten sieben das 50. Lebensjahr bereits vollendet.

Das Erstgericht wies das mit § 45a Abs 5 AMFG begründete, auf Feststellung des aufrechten Bestehens des Arbeitsverhältnisses des Klägers über den 31. 1. 2020 hinaus gerichtete (Teil‑)Klagebegehren ab.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte die ordentliche Revision für nicht zulässig.

Die gleichzeitige Kündigung von jüngeren Arbeitnehmern und solchen, die das 50. Lebensjahr bereits vollendet haben, habe nicht zur Folge, dass die in § 45a Abs 1 Z 4 AMFG normierte Anzeigepflicht und die Kündigungsbeschränkung nach Abs 5 leg cit auf alle anzuwenden wären. Eine extensive Auslegung dieser Bestimmung lasse sich weder aus ihrem Wortlaut noch aus dem Gesetzeszweck und arbeitsmarktpolitischen Überlegungen ableiten. Eine meldepflichtige Anzahl gemäß § 45a Abs 1 Z 1 bis 3 AMFG sei mit den strittigen Kündigungen nicht erreicht worden.

In seiner außerordentlichen Revision führt der Kläger aus, der Anwendungsbereich des § 45a Abs 5 AMFG sei in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung unter den im Verfahren wesentlichen Aspekten noch nicht behandelt worden. Darüber hinaus lägen zu vergleichbaren Sachverhalten divergente Entscheidungen des Berufungsgerichts vor, die eine Klärung der Rechtsfrage durch den Obersten Gerichtshof erforderlich machen würden.

1. Eine Revision gegen das Urteil des Berufungsgerichts ist gemäß § 502 Abs 1 ZPO nur zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts abhängt, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zukommt, etwa weil das Berufungsgericht von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abweicht oder eine solche Rechtsprechung fehlt oder uneinheitlich ist.

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor (vgl 9 ObA 74/20b).

Rechtliche Beurteilung

2. Gemäß § 45a Abs 1 Z 4 AMFG (die Z 1 bis 3 leg cit sind nach dem Sachverhalt nicht einschlägig) haben Arbeitgeber die nach dem Standort des Betriebs zuständige regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice durch schriftliche Anzeige zu verständigen, wenn sie beabsichtigen, Arbeitsverhältnisse von mindestens fünf Arbeitnehmern, die das 50. Lebensjahr vollendet haben, innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen aufzulösen.

Nach § 45a Abs 3 AMFG hat die Anzeige Angaben über die Gründe für die beabsichtigte Auflösung der Arbeitsverhältnisse und den Zeitraum, in dem diese vorgenommen werden soll, die Zahl und die Verwendung der regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer, die Zahl und die Verwendung der von der beabsichtigten Auflösung der Arbeitsverhältnisse voraussichtlich betroffenen Arbeitnehmer, das Alter, das Geschlecht, die Qualifikationen und die Beschäftigungsdauer der voraussichtlich betroffenen Arbeitnehmer, weitere für die Auswahl der betroffenen Arbeitnehmer maßgebliche Kriterien sowie die flankierenden sozialen Maßnahmen zu enthalten. Der Betriebsrat ist nachweislich zu konsultieren.

Gemäß § 45a Abs 5 AMFG sind „Kündigungen, die eine Auflösung von Arbeitsverhältnissen im Sinne des Abs 1 bezwecken“ , rechtsunwirksam, wenn sie 1. vor Einlagen der in Abs 1 genannten Anzeige bei der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice, oder 2. nach Einlagen der Anzeige innerhalb der 30‑tägigen Frist ohne vorherige Zustimmung der Landesgeschäftsstelle ausgesprochen werden.

3. Die aus diesen gesetzlichen Grundlagen abgeleitete Rechtsansicht des Berufungsgerichts entspricht dem Gesetz. Die in der Revision geforderte Ausdehnung der Rechtsfolge des § 45a Abs 5 AMFG auf alle anderen im selben Zeitraum mit einer anzeigepflichtigen Massenkündigung nach Abs 1 Z 4 leg cit ausgesprochenen Kündigungen findet im Wortlaut dieser Bestimmung auch bei weiter Auslegung keine Deckung.

Die Bestimmung des § 45a Abs 4 AMFG erfasst Kündigungen, die eine Auflösung von „Arbeitsverhältnissen im Sinne des Abs 1“ leg cit bezwecken. Es handelt sich dabei entweder um Arbeitsverhältnisse, die zusammen einen bestimmten Schwellenwert übersteigen, oder solche, von denen mindestens fünf über 50‑jährige Arbeitnehmer betroffen sind. Mit dieser mit der Novelle BGBl 502/1993 eingeführten Bestimmung wurden gemeinsam mit Novellierungen etwa des § 105 ArbVG und des ALVG spezifische Regelungen für die Gruppe der über 50‑jährigen Arbeitnehmer geschaffen.

Die Kündigung des Klägers erfüllte weder die Kriterien der § 45a Abs 1 Z 1 bis 3 noch der Z 4, weil weder die Gesamtzahl der Auflösungen im Betrieb der Beklagten die Schwelle der Anzeigepflicht erreicht, noch der Kläger das 50. Lebensjahr bereits vollendet hat. Sein Arbeitsverhältnis war in keiner möglichen Variante ein Arbeitsverhältnis gemäß § 45a Abs 1 AMFG und unterlag damit nicht den Bestimmungen der weiteren Absätze.

4. Die Revision stellt dieses Auslegungsergebnis auch nicht begründet in Frage, vielmehr strebt sie mit teleologischen Überlegungen zum Zweck des § 45a AMFG eine ausdehnende Interpretation im Weg der Analogie an. Gegen das Ergebnis des Berufungsgerichts, das hier mit ausführlicher Begründung eine analogiefähige planwidrige Gesetzeslücke verneint hat, vermag die Revision jedoch keine Argumente ins Treffen zu führen, die Anlass für eine Korrektur dieser Rechtsansicht bieten würden.

Es trifft zu, dass die Zielsetzung des Gesetzes darin liegt, der Arbeitsmarktverwaltung in den definierten, besonders herausfordernden Situationen Zeit zur Prüfung von arbeitsmarktpolitischen Lösungsmöglichkeiten zu geben (vgl RIS‑Justiz RS0110347). Diese Zielsetzung ändert aber nichts daran, dass der Gesetzgeber sich dazu entschlossen hat, feste numerische Schwellenwerte für die Verständigungspflicht und die daran anknüpfenden Rechtsfolgen zu normieren. Es kann ihm nicht unterstellt werden, dabei die einer solchen Regelungstechnik stets immanente Möglichkeit von Grenzfällen übersehen zu haben, die zwar ebenfalls von Zweck und Ziel der Bestimmung, aber nicht von ihrem Wirkungsbereich erfasst sind.

Es ist der Revision zuzugestehen, dass die gleichzeitige Kündigung einer nur wenig unter den jeweiligen Schwellenwerten liegenden Anzahl von Personen und/oder von mehr als fünf knapp unter 50‑jährigen Arbeitnehmern das Arbeitsmarktservice vor eine nicht weniger schwierige Aufgabe stellen wird, als die im Gesetz geregelten Fälle, trotzdem wäre eine solche Kündigung, vorbehaltlich der § 45a Abs 1 Z 1 bis 3 AMFG, nach dem klaren Gesetzeswortlaut nicht anzeigepflichtig.

Den Gerichten ist es verwehrt, im Wege einer weitherzigen Interpretation offenkundige rechtspolitische Aspekte zu berücksichtigen, die den Gesetzgeber bisher nicht veranlasst haben, eine Gesetzesänderung vorzunehmen.

5. Für die vorliegende Rechtssache ist auch die in der Revision zitierte Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zu 9 ObA 146/98f (RS0110349) nicht einschlägig. Der in dieser Entscheidung, der eine Massenkündigung im Sinne des § 45a Abs 1 Z 1 bis 3 AMFG zugrunde lag, formulierte Rechtssatz, dass der Kündigungsvorgang nach erfolgter Bekanntgabe der Absicht nach § 45a Abs 1 AMFG im Hinblick auf die in Abs 5 leg cit normierte Folge als Einheit anzusehen sei, bezieht sich auf Auflösungserklärungen, die von einer bereits erstatteten Anzeige umfasst waren. Dem Arbeitgeber ist es demnach verwehrt, nach Bekanntgabe der beabsichtigten Auflösung einer anzeigepflichtigen Anzahl von Arbeitsverhältnissen mit der vorzeitigen Kündigung eines unter der Schwelle der Anzeigepflicht liegenden Teils dieser Personen innerhalb der 30‑tägigen Frist für diese den Kündigungsschutz zu unterlaufen.

Im Unterschied zu den Tatbeständen des § 45a Abs 1 Z 1 bis 3 AMFG, bei denen es nur auf die Anzahl der betroffenen Arbeitsverhältnisse ankommt und ab Erreichen des Schwellenwerts daher jede einzelne Kündigung gleichermaßen zählt, bedarf es zur Anwendung des Tatbestands der Z 4 des zusätzlichen Merkmals der erreichten Altersgrenze. Andere Auflösungen sind von diesem Tatbestand nicht betroffen. Erst wenn durch die beabsichtigte Beendigung der Arbeitsverhältnisse von über 50‑jährigen und jüngeren Arbeitnehmern insgesamt auch der Schwellenwert nach Z 1 bis 3 überschritten wird, erstreckt sich der daraus abzuleitende Kündigungsschutz auch auf die von Z 4 allein nicht erfassten Personen. Eine zeitliche Streuung von Kündigungen mit dem Effekt, dass das Erreichen des Schwellenwerts verhindert wird, ist dem Arbeitgeber nämlich grundsätzlich nicht verwehrt (RS0125464).

6. Mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO war die Revision zurückzuweisen.

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