OGH 15Os92/20y

OGH15Os92/20y29.9.2020

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. September 2020 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in der Strafsache gegen E* S* wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 9. Juni 2020, GZ 146 Hv 31/19b‑240, nach Anhörung der Generalprokuratur nichtöffentlich gemäß § 62 Abs 1 zweiter Satz OGH‑Geo 2019 den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E129438

 

Spruch:

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde E* S*eines Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 und Abs 3 erster Fall StGB und mehrerer Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB (A./) sowie der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (B./) und der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB (C./) schuldig erkannt.

Danach hat er jedenfalls von Dezember 2013 bis 15. Mai 2014 in W* in unregelmäßigen, manchmal mehrmaligen Angriffen pro Woche

A./ mit der am 21. August 2004 geborenen S* S*, sohin mit einer unmündigen Person, den Beischlaf sowie dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, indem er wiederholt mit seinem Penis vaginal und anal in sie eindrang, sie mit dem Finger vaginal penetrierte und sich von ihr oral befriedigen ließ, wobei die Taten eine schwere Körperverletzung im Sinn einer an sich schweren Gesundheitsschädigung von mehr als 24‑tägiger Dauer, nämlich eine emotionale Störung des Kindesalters im Rahmen einer schweren Belastungsreaktion (F 93, ICD‑10), zur Folge hatte;

B./ von der am 21. August 2004 geborenen S* S*, sohin einer unmündigen Person, eine geschlechtliche Handlung, nämlich die Durchführung des Handverkehrs, an sich vornehmen lassen sowie an Genannter eine geschlechtliche Handlung vorgenommen, in dem er mit seiner Zunge an ihrer Scheide leckte;

C./ durch das zu A./ und B./ geschilderte Verhalten mit seinem am 21. August 2004 geborenen „Wahlkind“ S* S* geschlechtliche Handlungen vorgenommen bzw von dieser an sich vornehmen lassen.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die auf Z 4 des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, die ihr Ziel verfehlt.

Entgegen der Kritik der Verfahrensrüge (Z 4) wurden durch die Abweisung der in der Hauptverhandlung am 9. Juni 2020 (ON 239 S 6 ff) gestellten Beweisanträge Verteidigungsrechte nicht geschmälert.

Soweit die beantragte Zeugin L* T* belegen sollte, dass J* S*, die Mutter der S* S*, zeitlich knapp vor der Anzeigeerstattung umstrittene Finanztransaktionen in die Wege geleitet hatte, ging das Gericht ohnehin davon aus (US 27; § 55 Abs 2 Z 3 StPO). Die anderen angegebenen Beweisthemen, nämlich die Abhaltung – inhaltlich nicht näher konkretisierter – „quasi konspirativer Unterredungen“ der Mutter mit ihrer Tochter sowie Details zu sonstigen familiären Verhältnissen waren bei Anlegung eines realitätsbezogenen Maßstabs nicht geeignet, eine erfolgversprechende Bereicherung der zur Wahrheitsfindung führenden Prämissen erwarten zu lassen (RIS‑Justiz RS0107445, RS0116987). Dass es im Tatzeitraum bloß ein einziges Kindermädchen gegeben habe, hat J* S* im Übrigen – entgegen dem Antragsvorbringen – gar nicht behauptet (ON 197 S 32).

Gleichfalls nicht auf eine erhebliche Tatsache gerichtet war der Antrag auf Vernehmung des Zeugen V* S*, der zum Beweis geführt wurde, dass ein vom Opfer geschildertes – nicht anklagegegenständliches – Skype‑Videotelefonat mit ihm nicht stattgefunden habe.

Weiters stellte der Beschwerdeführer den Antrag auf neuerliche kontradiktorische Vernehmung der S* S*. Zur kontradiktorischen Vernehmung dieser Zeugin im Ermittlungsverfahren (ON 92; § 165 StPO) war der Verteidiger, der daran auch teilnahm (ON 92 S 1), geladen worden (ON 1 S 57), nicht aber der Beschuldigte, der zu diesem Zeitpunkt aufgrund einer Festnahmeanordnung und eines Europäischen Haftbefehls weltweit zur Fahndung ausgeschrieben war (ON 18, 19, 21, 25). Das von der Rüge vorgebrachte Argument, der Beschwerdeführer hätte zur Vernehmung zu eigenen Handen geladen werden müssen (vgl aber § 83 Abs 4 StPO), geht daher von vorneherein ins Leere.

Gemäß § 49 Z 10 StPO hat der Beschuldigte das Recht, an einer kontradiktorischen Vernehmung von Zeugen und Mitbeschuldigten teilzunehmen. Ihm ist die Gelegenheit zu geben, sich an der Vernehmung zu beteiligen und Fragen zu stellen (§ 165 Abs 2 StPO).

Diese Gelegenheit besteht für den Beschuldigten auch dann, wenn zunächst nur sein Verteidiger beigezogen wird, denn dieser kann die Ladung oder Vorführung seines Mandanten verlangen (13 Os 20/00; Kirchbacher, WK‑StPO § 165 Rz 1), was vorliegend nicht geschehen ist. Der Antrag auf neuerliche kontradiktorische Vernehmung wurde daher– da Verteidigungsrechte nicht geschmälert wurden – zu Recht abgewiesen (vgl überdies § 197 Abs 1 StPO). Im Übrigen enthielt der Antrag auch kein Vorbringen dazu, inwiefern sich die Ablehnung der Durchführung einer neuerlichen Vernehmung auf die Verteidigungsrechte des Angeklagten auswirken könnte.

Der Antrag auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit der Aussage der S* S* konnte zum einem schon deshalb abgewiesen werden, weil er nicht erkennen ließ, weshalb diese (und ihre gesetzliche Vertreterin) die Zustimmung zu ihrer Begutachtung erteilen werde (RIS‑Justiz RS0118956). Zum anderen ist die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen Aufgabe des erkennenden Gerichts und Hilfestellung durch einen Sachverständigen dabei nur in jenen Ausnahmefällen erforderlich, in denen objektive Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung, eine Entwicklungsstörung oder einen geistigen Defekt vorhanden sind, wobei die Störungen erheblich sein und dem Grad des § 11 StGB nahekommen oder gegen die allgemeine Wahrnehmungs‑ oder Wiedergabefähigkeit oder gegen die Aussageehrlichkeit des Zeugen schlechthin sprechen müssen (RIS‑Justiz RS0120634 [T2, T4], RS0097733; Hinterhofer, WK‑StPO § 126 Rz 10 ff). Ein solches Gutachten ist dann geboten, wenn durch Beweisergebnisse belegte Anhaltspunkte für eine nicht realitätsorientierte Aussage, insbesondere etwa für eine Beeinflussung des Aussageverhaltens von Unmündigen oder psychisch kranken Personen vorliegen. Solche gewichtigen Anhaltspunkte für fremdsuggestive Einflüsse auf das Tatopfer vermochte der Antrag mit eigenständigen Erwägungen zum Beweiswert der Aussage der Zeugin S* sowie dem Verweis auf zwei im Auftrag der Verteidigung lediglich auf Aktenbasis erstellte psychologische Stellungnahmen (ON 234) nicht darzulegen (vgl im Übrigen die Ausführungen der kinderpsychiatrischen Sachverständigen, die keine Hinweise auf eine Manipulation durch die Mutter fand; ON 197 S 53 ff).

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung sogleich zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus sich die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung ergibt (§ 285i StPO).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte