OGH 10ObS76/20d

OGH10ObS76/20d28.7.2020

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr.

 Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Angela Taschek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache des Klägers J*****, vertreten durch Rudek‑Schlager Rechtsanwälte KG in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich‑Hillegeist‑Straße 1, wegen Rehabilitationsgeld, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 27. April 2020, GZ 10 Rs 23/20f‑59, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:010OBS00076.20D.0728.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

Sind die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine laufende Leistung nicht mehr vorhanden, so ist die Leistung zu entziehen, wenn der Anspruch nicht bereits ohne weiteres Verfahren erlischt (§ 99 Abs 1 ASVG).

Nach § 99 Abs 3 Z 1 lit a ASVG wird die Entziehung einer Leistung (hier des Rehabilitationsgeldes) mit dem Ablauf des Kalendermonats, der auf die Zustellung des Bescheides folgt, wirksam, wenn der Entziehungsgrund in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustands der anspruchsberechtigten Person liegt.

Dem Kläger wurde das Rehabilitationsgeld mit Bescheid der beklagten Pensionsversicherungsanstalt vom 7. 3. 2018 wegen einer Verbesserung seines Gesundheitszustands und seiner Leistungsfähigkeit zum 30. 4. 2018 entzogen. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen trat diese Besserung aber erst einige Monate später während des erstinstanzlichen Verfahrens (im September 2018) ein. Die Vorinstanzen stellten deshalb den Anspruch auf das Rehabilitationsgeld nur bis 30. 9. 2018 als berechtigt fest und wiesen das auf Weitergewährung der Leistung über den 30. 4. 2018 hinaus gerichtete Klagebegehren erst ab dem 1. 10. 2018 ab. Nach Meinung des Klägers, der in seiner außerordentlichen Revision die teilweise Abweisung seines Klagebegehrens bekämpft, soll das Rehabilitationsgeld iSd § 99 Abs 3 Z 1 lit a ASVG frühestens ab dem Zeitpunkt der Zustellung des Urteils im sozialgerichtlichen Verfahren entzogen werden können.

 Der bekämpfte Bescheid ist – wie der Kläger in der außerordentlichen Revision selbst ausführt – durch die Einbringung der Klage nach § 71 Abs 1 Satz 1 ASGG außer Kraft getreten. Das Gericht hatte ein eigenes Verfahren durchzuführen, aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen neu zu entscheiden und die bis zum Schluss der Verhandlung erster Instanz eingetretenen Sachverhaltsänderungen zu berücksichtigen (RIS‑Justiz RS0053868; RS0106394).

Nach dem Grundsatz, dass der Gesundheitszustand einer versicherten Person bis zum Schluss der Verhandlung erster Instanz „aufzubuchen“ ist (10 ObS 116/93 SSV‑NF 7/92), kommt es nach der Rechtsprechung auch dann zu einem Leistungsentzug, wenn die Voraussetzungen des § 99 Abs 1 ASVG erst während des gerichtlichen Verfahrens auf Weitergewährung der entzogenen Leistung eintreten und die bekämpfte Entziehung durch den Versicherungsträger (noch) nicht gerechtfertigt war (10 ObS 188/04a SSV‑NF 20/13, RS0120568: möglicher Entzug einer Berufsunfähigkeitspension bei einer erst während des erstinstanzlichen Verfahrens erfolgten Verletzung der Mitwirkungspflicht). In dem zu 10 ObS 116/93 SSV‑NF 7/92 entschiedenen Fall hatte der Versicherungsträger die Berufsunfähigkeitspension wegen einer Verbesserung des Zustands zunächst zu Recht entzogen. Es trat aber während des gerichtlichen Verfahrens erster Instanz eine unfallbedingte Verschlechterung ein, die eine Gewährung der entzogenen Leistung (ausgelöst durch einen neuen Stichtag: RS0083653 [T1]) rechtfertigte.

§ 99 Abs 3 Z 1 lit a ASVG regelt nach seinem Wortlaut, ab welchem Zeitpunkt die Entziehung einer Leistung wirksam wird, und stellt dabei auf die Tatsache der Zustellung des Bescheides im Verwaltungsverfahren ab. Wann diese erfolgt, ist zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides noch nicht bekannt. § 99 Abs 3 Z 1 lit a ASVG schreibt dem Versicherungsträger nicht vor, die künftige Wirksamkeit des ausgesprochenen Leistungsentzugs zum Inhalt des Bescheides zu machen.

Folgt man der Auffassung des Revisionswerbers müsste das Gericht dem Begehren auf Weitergewährung der entzogenen Leistung zur Gänze stattgeben, wenn der Grund für die Entziehung zwar zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung noch nicht verwirklicht war, aber während des sozialgerichtlichen Verfahrens erster Instanz eintrat. Dieses Ergebnis widerspricht eindeutig dem in der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vertretenen Grundsatz, dass das Gericht nach Durchführung eines eigenen Verfahrens zu entscheiden und dabei die bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz eingetretenen Sachverhaltsänderungen zu berücksichtigen hat.

Für die Relevanz des Bestellungszeitpunkts eines Bescheides oder einer gerichtlichen Entscheidung bleibt daher im sozialgerichtlichen Verfahren kein Raum, sondern es kommt auf die Tatsachenlage zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung in erster Instanz an.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte