OGH 10ObS116/93

OGH10ObS116/9314.10.1993

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Kropfitsch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Ehmayr als weitere Richter sowie durch die fachkundigen Laienrichter Fritz Stejskal (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr.Peter Fischer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtsrechtssache der klagenden Partei Gisela W*****, ohne Beschäftigung, ***** vertreten durch Dr.Reinhard Tögl und Dr.Nicoletta Wabitsch, Rechtsanwälte in Graz, wider die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist-Straße 1, wegen Weitergewährung der Berufsunfähigkeitspension, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 18.März 1993, GZ 7 Rs 135/92-19, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 16.September 1992, GZ 33 Cgs 101/92-15, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur Verhandlung und Entscheidung an das Prozeßgericht erster Instanz zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten erster Instanz.

Text

Begründung

Die am 29.9.1942 geborene Klägerin erlernte keinen Beruf, arbeitete einige Jahre in der Schuherzeugung, anschließend als Verkäuferin und Bürokraft und seit 1984 bei der Bundespolizeidirektion G***** als Raumpflegerin (Vertragsbedienstete). Am 28.3.1990 wurde bei ihr eine Rotationsosteotomie des rechten Oberschenkels durchgeführt. Aufgrund der damals bestandenen gesundheitsbedingten Einschränkungen wurde der Klägerin ab 1.Jänner 1990 die Berufsunfähigkeitspension zuerkannt. Nach dem der damaligen gerichtlichen Entscheidung zugrundegelegten Sachverständigengutachten war die Osteotomie des rechten Oberschenkels noch nicht knöchern konsolidiert, das rechte Bein noch nicht ohne Stützkrücken belastbar. Der Klägerin war keinerlei geregelte Arbeit zumutbar.

Mit Bescheid vom 10.4.1992 entzog ihr die Beklagte die Berufsunfähigkeitspension mit Ablauf des Mai 1992.

Das Erstgericht wies die dagegen erhobene, auf Weitergewährung der Berufsunfähigkeitspension ab 1.6.1992 gerichtete Klage ab. Es stellte fest, daß im Vergleich zu dem orthopädischen Vorgutachten nunmehr die seinerzeitige intertrochantäre Umstellungsosteotomie knöchern durchgebaut, das Osteosynthesematerial entfernt und die rechte untere Extremität voll belastbar sei. Aufgrund der wesentlichen Besserung seien der Klägerin leichte und mittelschwere Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen unter Einhaltung der gesetzlich vorgesehenen Arbeitszeiten und Ruhepausen zumutbar. Arbeiten in und aus gebückter sowie vorgeneigter, stehender und sitzender Zwangsarbeitshaltung seien sachgerecht zu verteilen und auf ein Drittel eines Arbeitstages zu beschränken. Das Heben und Tragen leichter Lasten sei im vollen Umfang, mittelschwerer Lasten für die Hälfte eines Arbeitstages möglich. Ununterbrochenes Arbeiten im Stehen oder Gehen dürfe die Dauer von einer Stunde nicht überschreiten, anschließend müsse eine Arbeitsverrichtung im Sitzen von mindestens einer halben Stunde möglich sein. Tätigkeiten an laufenden Maschinen und Geräten sowie an exponierten Stellen seien möglich, nicht aber Arbeiten unter zeitlicher Belastung, die in ihrem Arbeitstempo Akkord- oder Fließbandarbeiten entsprechen. Es seien zwei bis drei Krankenstände in Summe von 4 Wochen jährlich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Dieser Zustand gelte ab 1.6.1992. Aufgrund dieses Leistungskalküls könne die Klägerin zwar ihre zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Raumpflegerin nicht mehr verrichten, wohl aber könne sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch auf die Tätigkeit einer Portierin, Telefonistin, Aufseherin, Gardrobierin oder Kassierin im Einzelhandel verwiesen werden.

Nach einem Sturz am 25.6.1992 habe die Klägerin eine suspekte Läsion des vorderen Kreuzbandes rechts, eine knöcherne Absprengung des rechten Keilbeines I. sowie eine knöcherne Absprengung des linken Fersenbeines erlitten. Durch diesen Sturz sei ein Knorpelschaden wieder aufgetreten, es liege eine Chondromalazia der rechten Kniescheibe vor, die operativ korrigiert werden müsse. Derzeit sei die Klägerin berufsunfähig, wobei jedoch die Einschränkung aufgrund der Operation und Wiederherstellung unter 6 Monaten sein werde.

Das Erstgericht folgerte aus diesem Sachverhalt, daß gegenüber dem Gewährungsgutachten eine wesentliche Besserung eingetreten und die Klägerin nicht mehr berufsunfähig sei. Was die nunmehr festgestellte Chondromalazia betreffe, sei darauf zu verweisen, daß dieses Leiden eine unter 6 Monate liegende Berufsunfähigkeit nach sich ziehe, sodaß die gemäß § 271 Abs.1 Z 2 ASVG geforderten Umstände nicht vorliegen würden.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Es stehe unbekämpft fest, daß die Klägerin ab 1.6.1992 wieder berufsfähig gewesen sei. Die auf den Sturz vom 25.6.1992 zurückzuführende Chondromalazia der rechten Kniescheibe und dadurch bedingte nach den Feststellungen zeitlich beschränkte Arbeitsunfähigkeit könnte ab der 27.Woche einen Anspruch auf Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension begründen. Eine vorübergehende Pension habe dennoch nicht zugesprochen werden können, da zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz am 16.9.1992 die 27.Woche noch nicht begonnen hatte, sodaß ein Pensionsanspruch nicht fällig gewesen sei (gemeint: der Versicherungsfall noch nicht eingetreten sei).

Die Revision der Klägerin ist im Sinne ihres hilfsweise gestellten Aufhebungsantrages berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 99 ASVG ist eine laufende Leistung zu entziehen, wenn die Voraussetzungen des Anspruches auf sie nicht mehr vorhanden sind und der Anspruch nicht bereits ohne weiteres Verfahren erlischt. Der Leistungsentzug nach § 99 Abs.1 ASVG setzt eine wesentliche, entscheidende Veränderung in den Verhältnissen voraus, wobei für den anzustellenden Vergleich die Verhältnisse im Zeitpunkt der Leistungszuerkennung mit den Verhältnissen im Zeitpunkt des Leistungsentzuges in Beziehung zu setzen sind. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse kann unter anderem in der Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen oder geistigen Zustandes oder in einer Besserung der Arbeitsfähigkeit infolge Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand liegen. Ist der Leistungsbezieher durch diese Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt wieder einsetzbar, ist auch der Entzug einer Pension aus dem Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit sachlich gerechtfertigt. Nicht gerechtfertigt ist ein Leistungsentzug, wenn nachträglich festgestellt wird, daß Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben (SSV-NF 4/149 mwN ua). Bei dieser Prüfung sind die Leidenszustände zu beurteilen, die zum Zeitpunkt der Leistungsgewährung bestanden. Hat sich in diesem Bereich durch eine Besserung des Gesundheitszustandes eine wesentliche Änderung ergeben, die den Leistungswerber instandsetzen würde, nunmehr wieder einer geregelten Beschäftigung nachzugehen, so ist der Anspruch neu zu beurteilen, um zu prüfen, ob ausgehend vom derzeitigen Zustand unter Berücksichtigung allfällig zwischenzeitig hinzugetretener Leiden die Voraussetzungen für die Pensionsleistung wegen geminderter Arbeitsfähigkeit weiter vorliegen. Den Versicherungsträger trifft dabei die objektive Beweislast dafür, daß eine rechtlich relevante Besserung des bei Gewährung der Leistung bestandenen Zustands eingetreten ist. Ist dies erwiesen, so trifft den Leistungswerber die objektive Beweislast dafür, daß ungeachtet der eingetretenen Besserung etwa bedingt durch zwischenzeitig neu eingetretene Leidenszustände oder aus anderen Gründen die Voraussetzungen für den Anspruch nach wie vor bestehen (SSV-NF 6/7).

Im vorliegenden Fall steht fest, daß die Klägerin bei Gewährung der Berufsunfähigkeitspension zu keinerlei geregelter Arbeit befähigt war. Ebenso ist aber erwiesen, daß unter Berücksichtigung eines zwischenzeitig hinzugetretenen Leidens, nämlich die Chrondromalazia der rechten Kniescheibe, die Klägerin auch derzeit nicht arbeitsfähig ist. Andererseits hatte sich der Gesundheitszustand bei Entziehung der Leistung (mit Ablauf des Mai 1992) so erheblich gebessert, daß die Klägerin - und zwar bis zu ihrem Unfall am 25.6.1992 - wieder arbeitsfähig wurde. Der allgemeine Grundsatz, daß ein Antrag auf Weitergewährung einer gemäß § 99 ASVG wegen Wiederherstellung oder Besserung des körperlichen und/oder geistigen Zustandes des Anspruchsberechtigten entzogenen Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension nicht geeignet ist, einen neuen Stichtag im Sinne des § 223 Abs 2 ASVG auszulösen (SSV-NF 6/19), kann in einem solchen Fall nicht gelten. Tritt nach Besserung des Gewährungszustandes, der eine Entziehung der Leistung rechtfertigt, also nach dem Zeitpunkt der Entziehung, aber noch während des infolge einer Bescheidklage geführten Verfahrens erster Instanz ein neues Leiden auf, das den zunächst gebesserten Zustand wieder verschlechtert, dann handelt es sich um keine Frage der "Weitergewährung" der entzogenen Leistung, sondern um eine "Neugewährung" oder "Wiedergewährung" mit einem neuen Stichtag. Entsteht nämlich der Anspruch auf eine Pension erst während des auf Grund des Leistungsantrages eingeleiteten Verfahrens, dann wird dadurch ein neuer Stichtag ausgelöst (vgl SSV-NF 3/134 und 4/129). Daß die Klägerin die "Weitergewährung" der entzogenen Leistung und nicht die "Neugewährung" begehrt und die Beklagte auch über die Gewährung der Leistung zu einem späteren Stichtag nicht mittels Bescheides entschieden hat, ist kein Hindernis für eine Sacherledigung. Nach dem Grundsatz, daß der Gesundheitszustand des Klägers bis zum Schluß der Verhandlung erster Instanz "aufzubuchen" ist (vgl § 86 ASGG; dazu Feitzinger-Tades, ASGG Anm 2 zu § 86; Kuderna 433 Erl 3 zu § 86; SSV-NF 3/134 mwN), bedurfte es keines neuen Leistungsantrages, sondern das auf Weitergewährung der entzogenen Leistung gerichtete Klagebegehren (mit der Behauptung, die Entziehung sei nicht gerechtfertigt gewesen) enhält - als logisches Substrat - das Eventualbegehren auf Wiedergewährung der Pensionsleistung, sollte die Entziehung doch berechtigt gewesen sein, inzwischen aber die Voraussetzung für eine Neugewährung vorliegen. Wie lange die zwischenzeitige Besserung anhielt, ist dabei bedeutungslos. Jede andere Auslegung würde unnötigen Formalismus bedeuten und vom Kläger verlangen, daß er ungeachtet des wegen Weitergewährung der entzogenen Leistung anhängigen Verfahrens vorsorglich einen neuen Leistungsantrag beim Pensionsversicherungsträger stellen müßte oder daß er für längere Zeit an sich berechtigte Leistungen mangels rechtzeitiger Antragstellung nicht erhielte.

Wurde also eine Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension zunächst zu Recht entzogen, tritt aber dann während des Gerichtsverfahrens wegen einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes von neuem der Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit ein (§ 223 Abs 1 Z 2 lit a oder b ASVG), dann ist das Klagebegehren ab einem neuen Stichtag berechtigt, wenn die Voraussetzungen der §§ 254 Abs 1 oder 271 Abs 1 ASVG vorliegen. Der Oberste Gerichtshof hat allerdings wiederholt ausgesprochen, daß dann, wenn die Arbeitsfähigkeit durch zumutbare Behandlungen innerhalb von 6 Monaten wiederhergestellt ist, das Begehren auf Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension abzuweisen ist, während bei einer erst nach längerer Zeit wieder bestehenden Arbeitsfähigkeit die Gewährung einer befristeten Berufsunfähigkeitspension in Betracht kommt (SSV-NF 5/17, 29 ua).

Die erstgerichtliche Feststellung, daß die derzeit bestehende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin aufgrund einer Operation und Wiederherstellung in weniger als 6 Monaten wegfallen werde, ist nicht ausreichend. Wie die Revisionswerberin hervorhebt, ist zunächst entscheidend, ob der im Ersturteil nicht näher beschriebene operative Eingriff zur Korrigierung der Chondromalazia der Klägerin überhaupt zumutbar ist oder die Grenze des Zumutbaren überschreitet. Dies kann jeweils nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles entschieden werden, wobei insbesondere auf die mit der Maßnahme verbundenen Gefahren, die Erfolgsaussichten der Operation, die Schwere des Eingriffs und seine Folgen unter Berücksichtigung auch einer erforderlichen Nachbehandlung sowie die

damit verbundenen Schmerzen Bedacht zu nehmen ist (SSV-NF 4/23 = SZ

63/32 = JBl 1990, 734 = DRdA 1991, 236 = ZAS 1992, 90). Erst nach

Klärung der Frage der Zumutbarkeit der Operation kann entschieden werden, ob bei der Klägerin dauernde Berufsunfähigkeit (nämlich bei Nichtzumutbarkeit dieser Operation) oder eine zeitlich beschränkte, Krankenstand begründende Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Diese Frage wurde aber bisher in keiner Weise erörtert. Liegt dauernde Berufsunfähigkeit der Klägerin vor, dann ist ihrem Klagebegehren teilweise (ab dem 1.7.1992) stattzugeben, das Mehrbegehren für den davorliegenden Zeitraum 1. bis 30.6.1992 hingegen abzuweisen. Ist die Operation als unzumutbar anzusehen, liegt aber dennoch bloß vorübergehende Berufsunfähigkeit vor, weil eine Besserung des Leidens in Zukunft - auch ohne Operation - wieder abzusehen ist, dann gebührt die Leistung erst ab Beginn der 27.Woche ihres Bestandes, weil erst dann der Versicherungsfall eingetreten ist (§ 223 Abs 1 Z 2 lit b ASGG). Erweist sich allerdings, daß die Operation zumutbar ist, wird zu prüfen sein, wann die Arbeitsfähigkeit der Klägerin wiederhergestellt worden wäre, wenn sie nach Ablauf der von der Rechtsprechung eingeräumten Überlegungsfrist von vier Wochen versucht hätte, in die allgemeine Gebührenklasse einer für sie mit Rücksicht auf ihren Wohnort in Betracht kommenden öffentlichen Krankenanstalt aufgenommen zu werden (siehe dazu SSV-NF 6/13 mwN). Wäre die Wiederherstellung der Berufsfähigkeit innerhalb von sechs Monaten möglich gewesen, ist das gesamte Klagebegehren abzuweisen. Die erstgerichtlichen Feststellungen hiezu sind unpräzis und lassen nicht erkennen, ob die soeben dargelegten Grundsätze angewendet wurden. Die aufgezeigten Feststellungsmängel führen daher zu einer Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und zur Rückverweisung der Sozialrechtssache an das Prozeßgericht erster Instanz.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs.1 ZPO iVm § 2 Abs.1 ASGG.

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