OGH 1Ob53/20f

OGH1Ob53/20f30.3.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei L***** M*****, vertreten durch Mag. Herbert Juri und andere Rechtsanwälte in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 19.923,21 EUR sA und Feststellung, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 15. Jänner 2020, GZ 5 R 115/19z‑14, mit dem das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 24. Juni 2019, GZ 77 Cg 1/19x‑10, teilweise bestätigt und teilweise abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:0010OB00053.20F.0330.000

 

Spruch:

I. Die außerordentliche Revision wird mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

II. Im Übrigen, nämlich im Hinblick auf das Teilbegehren von 583,07 EUR sA, werden die Akten dem Erstgericht zurückgestellt.

 

Begründung:

Zu I.:

Die (damals) 6‑jährige und zu 100 % behinderte Klägerin, eine Schülerin einer Volksschule, verbrühte sich vor Unterrichtsbeginn, als sie unter Aufsicht von zwei Lehrerinnen stand, durch einen von einer der Lehrerinnen in den Schulräumlichkeiten aufgestellten Kaffeekocher am Körper und erlitt Verbrennungen.

Beide Vorinstanzen wiesen die auf das Amtshaftungsgesetz gestützten Ansprüche der verletzten Schülerin auf Schmerzengeld, Pflegekosten, Besuchskosten, pauschale Unkosten und Heilungskosten sowie ihr Begehren auf Feststellung der Haftung unter Hinweis auf das umfassende Haftungsprivileg nach § 333 Abs 1 iVm § 335 Abs 3 ASVG iVm § 175 Abs 4 ASVG ab.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands insgesamt 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

1. Gemäß § 175 Abs 4 ASVG wird für den Unfallversicherungsschutz von Schülern und Studenten – und damit für das Haftungsprivileg für den Träger der Ausbildungseinrichtung nach § 335 Abs 3 ASVG – darauf abgestellt, ob sich der Unfall im örtlichen, zeitlichen und ursächlichen Zusammenhang mit der die Versicherung begründenden Schul‑(Universitäts‑)ausbildung ereignet hat. Nach der Grundintention des Gesetzes soll jede Tätigkeit geschützt sein, die sich als Ausübung der Rolle des Schülers oder Studenten darstellt (RIS‑Justiz RS0085063). Ein Schüler steht so lange unter Unfallversicherungsschutz, als er sich im organisatorischen Verantwortungsbereich der von ihm besuchten Schule befindet (RS0085089). Die Frage, ob die von einem Schüler (oder Studenten) konkret verrichtete Tätigkeit vom rollenbezogenen Unfallversicherungsschutz umfasst ist, ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (RS0085063 [T2]).

2. Der örtliche und zeitliche Zusammenhang des Unfalls mit der Schulausbildung der Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht strittig.

Das Berufungsgericht ging ohne Fehlbeurteilung davon aus, dass auch der ursächliche Zusammenhang iSd § 175 Abs 4 ASVG zwischen dem im Klassenraum befindlichen, einen Spalt von 10 bis 15 cm weit geöffneten Schiebeschrank, in dem sich auf Bodenhöhe ein in eine Steckdose eingesteckter Kaffeekocher mit heißem Kaffee, befand, und den von der Klägerin durch das Ziehen am Kabel des Kaffeekochers, wodurch dieser umkippte, dabei durch den ausgeflossenen Kaffee erlittenen Verbrennungen gegeben sei. Das „unfallbringende“ Verhalten sei dem geschützten Bereich zuzurechnen, keinesfalls der Privatsphäre (den eigenwirtschaftlichen Interessen) der Klägerin. Daher liege ein „Schulunfall“ vor, aus dem nur Ansprüche gegenüber dem Sozialversicherungsträger geltend gemacht werden könnten.

Zwar soll Unfallversicherungsschutz nicht bestehen, wenn der geschützte Lebensbereich nur (zufälliger) Schauplatz, nicht aber auch (innere) Ursache des Verletzungsereignisses war (vgl 1 Ob 259/08g = SZ 2009/14), jedoch liegen dafür im vorliegenden Sachverhalt keine Anhaltspunkte vor. Die Klägerin unterstand der Aufsicht der beiden Lehrerinnen mit der von ihnen ausgehenden Autorität und dementsprechender Abhängigkeit. Ihre Verletzung, die sie erlitt, war auch Folge einer durchaus typischen Gefahrenlage während der Aufsicht in der Schule. Dass die Kaffeemaschine von einer der Lehrerinnen privat angeschafft wurde, ändert nichts daran, dass der innere Zusammenhang zur geschützten Tätigkeit bestand, ist doch das unfallauslösende Fehlverhalten der Klägerin einerseits Teil ihrer altersbedingten Unreife und andererseits Ausdruck ihrer Behinderung (vgl dazu Rudolf Müller in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV‑Komm Vor §§ 174‑177 ASVG Rz 41, 66) und steht damit unter Unfallversicherungsschutz. Bestand – wie im vorliegenden Fall – eine Aufsichtspflicht der Lehrerinnen über die klagende Schülerin, hängt der Versicherungsschutz nicht davon ab, ob der Kaffeekocher (wie von der Revisionswerberin behauptet) im Klassenzimmer aus einem „betriebsfremden Motiv“ aufgestellt worden ist. Zudem steht fest, dass es in dieser Schule üblich ist, dass Kaffeekocher in den Klassen stehen. Dass das Berufungsgericht den inneren Zusammenhang des Unfalls mit der schulischen Tätigkeit der Klägerin – und damit einen „Arbeitsunfall“ iSd § 175 Abs 4 ASVG – bejaht hat, was gemäß § 335 Abs 3 ASVG eine Haftung der Beklagten als Schulerhalterin – auch nach dem AHG – ausschließt, ist nicht zu beanstanden.

Zu II.:

In der angefochtenen Entscheidung erklärte das Berufungsgericht, das (zur Gänze klageabweisende) Urteil des Erstgerichts insoweit mit einer „Maßgabe“ zu bestätigen, als es das Klagebegehren im Umfang von 583,07 EUR samt Zinsen (vorprozessuale Kosten) wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs zurückwies.

In ihrem als außerordentliche Revision bezeichneten Rechtsmittel erklärt die Klägerin, das „Urteil“ des Berufungsgerichts vollinhaltlich anzufechten; sie beantragt, das angefochtene „Urteil“ dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren vollinhaltlich stattgegeben werde.

Ungeachtet der Bezeichnung als „Maßgabe‑Bestätigung“ ist der klagezurückweisende Teil der Entscheidung des Berufungsgerichts ein Beschluss iSd § 519 Abs 1 Z 1 ZPO, gegen den ein Rechtsmittel (Rekurs) an den Obersten Gerichtshof jedenfalls zulässig ist. Über einen solchen Rekurs ist in einem zweiseitigen Rekursverfahren zu entscheiden (§ 521a Abs 1 ZPO).

Unschädlich ist auch, dass die Rekursfrist im Fall des § 519 Abs 1 Z 1 ZPO 14 Tage beträgt (§ 521 Abs 1 Satz 1 ZPO). Da eine einheitliche Entscheidungsausfertigung des Berufungsgerichts vorliegt, gilt die längere, vierwöchige Revisionsfrist (RS0002105; RS0041670). Ein allfälliger, in der außerordentlichen Revision enthaltener Rekurs gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO wäre daher rechtzeitig.

Der Inhalt des Rechtsmittels der Klägerin lässt offen, ob sie auch den Zurückweisungsbeschluss des Berufungsgerichts anfechten will. Sie wird vom Erstgericht im Rahmen eines entsprechenden Verbesserungsauftrags zur Klarstellung und gegebenenfalls zur Formulierung geeigneter Rechtsmittelanträge aufzufordern sein. Sollte sich danach ergeben, dass auch die zurückweisende Entscheidung des Berufungsgerichts angefochten wird, wird der Beklagten eine Gleichschrift des Rechtsmittels zuzustellen und der Akt erst nach Ablauf der der Rekursgegnerin offenstehenden Frist für die Rekursbeantwortung wieder vorzulegen sein.

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