OGH 2Ob136/19t

OGH2Ob136/19t22.10.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden und den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei R***** L*****, vertreten durch Mag. Alexander Doerge, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagten Parteien 1. Verlassenschaft nach dem am ***** 2018 verstorbenen A***** T*****, und 2. V*****Aktiengesellschaft, *****, beide vertreten durch Mag. Michael Tinzl und andere Rechtsanwälte in Innsbruck, wegen 22.930,90 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 8.000 EUR), über die Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 13. Mai 2019, GZ 4 R 43/19h‑34, womit infolge Berufung der beklagten Parteien das Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 29. Jänner 2019, GZ 6 Cg 128/17k‑27, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0020OB00136.19T.1022.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagten Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der klagenden Partei die mit 1.898,17 EUR (darin 316,36 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Am 10. 3. 2017 um ca 13:35 Uhr ereignete sich in Innsbruck in der Reichenauer Straße auf Höhe einer Hauseinfahrt ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker und Halter eines Kleinkraftrades und der mittlerweile verstorbene A***** T***** (in der Folge: Erstbeklagter) als Lenker und Halter eines bei der zweitbeklagten Partei haftpflichtversicherten PKW beteiligt waren. Dabei wurde der Kläger am rechten Knie verletzt.

Die Reichenauer Straße verläuft an der Unfallstelle geradlinig. Sie war zur Unfallszeit mittels doppelter Sperrlinie in zwei Fahrbereiche für entgegengesetzte Fahrtrichtungen geteilt, die im Bereich der Hauseinfahrt unterbrochen war. Weitere Bodenmarkierungen waren auf der 6,6 m breiten Fahrbahnhälfte des Klägers nicht vorhanden. An deren rechten Fahrbahnrand parkten im Straßenverlauf sowohl vor als auch nach der Hauseinfahrt vereinzelt PKW.

Der Erstbeklagte befuhr die Reichenauer Straße in nordöstlicher Richtung und wollte nach links in die besagte Hauseinfahrt abbiegen. Er setzte den Blinker, musste aber wegen Gegenverkehrs anhalten. Der Lenker eines ihm entgegenkommenden PKW hielt an, um ihm das Linksabbiegen zu ermöglichen, weshalb sich hinter dem entgegenkommenden PKW eine Fahrzeugkolonne bildete. Der Erstbeklagte fuhr wieder los, um das Abbiegemanöver zu vollenden. Als er den (in dessen Fahrtrichtung) rechts neben der Kolonne vorbeifahrenden Kläger sah, reagierte er sofort durch eine Vollbremsung, wodurch er sein Fahrzeug zum Stillstand brachte. Zwischen diesen beiden Stillstandpositionen hatte der Erstbeklagte eine Strecke von 8 m zurückgelegt.

Der Kläger hatte rechts neben den angehaltenen Fahrzeugen ausreichend Platz vorgefunden, um mit einem Seitenabstand von ca 1 bis 1,5 m an ihnen vorbeizufahren. Sowohl vor als auch nach der Hauseinfahrt stand ihm dafür ein mindestens 2 m breiter freier Fahrstreifen zur Verfügung. Auch der Kläger reagierte auf die erste mögliche Wahrnehmbarkeit des Beklagtenfahrzeugs sofort durch eine Vollbremsung. Noch vor dem Zusammenstoß kam er zu Sturz und kollidierte rutschend mit der Fahrzeugfront des im Kollisionszeitpunkt bereits wieder stehenden Beklagtenfahrzeugs. Die Kollisionsstelle lag auf Höhe der Hauseinfahrt ca 3 m von der Bordsteinkante entfernt. Der Erstbeklagte hätte den Unfall vermeiden können, wenn er ein Vorbeifahrmanöver in Betracht gezogen hätte und sich im Rahmen des Abbiegevorgangs schrittweise unter mehrmaligem Anhalten bis zur Erlangung ausreichender Sicht vorgetastet hätte.

Der Kläger begehrte den Ersatz seines Schadens und erhob ein Feststellungsbegehren. Er sei an der stehenden Kolonne rechtmäßig vorbeigefahren. Das Alleinverschulden treffe den Lenker des Beklagtenfahrzeugs, der den auf dem rechten Fahrstreifen befindlichen Kläger übersehen und zu einer Vollbremsung veranlasst habe, wodurch der Kläger zu Sturz gekommen sei.

Die beklagten Parteien wendeten das Alleinverschulden des Klägers ein, der die vor ihm fahrenden Fahrzeuge mit zumindest relativ überhöhter Geschwindigkeit überholt habe. Er habe überdies ein fahrtechnisch nicht notwendiges Vollbremsmanöver eingeleitet und sei deshalb zu Sturz gekommen. Selbst wenn der Kläger berechtigt gewesen wäre, die Fahrbahn zwischen geparkten Fahrzeugen zu nutzen, sei er nicht äußerst rechts gefahren, wodurch die Kollision vermieden worden wäre.

Das Erstgericht folgte dem Standpunkt des Klägers und gab dem Klagebegehren im Wesentlichen statt. Nur ein geringes Zahlungsmehrbegehren wurde abgewiesen. Der Erstbeklagte habe den Vorrang des Klägers verletzt, dem zum Vorbeifahren an der stehenden Kolonne ein eigener freier Fahrstreifen zur Verfügung gestanden sei. Die – rückschauend betrachtet – unrichtige Reaktion auf die plötzlich auftretende Gefahr sei dem Kläger nicht als Mitverschulden anzurechnen.

Das von den beklagten Parteien angerufene Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil, sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands insgesamt 30.000 EUR nicht übersteige und ließ die ordentliche Revision zu. Es führte aus, der Kläger sei nach § 17 Abs 1 StVO berechtigt gewesen, auf dem rechten Fahrstreifen seiner Fahrbahnhälfte an der stehenden Kolonne vorbeizufahren. Ein „Vorschlängeln“ iSd § 12 Abs 5 StVO oder eine in § 18 Abs 3 StVO genannte Verkehrssituation seien nicht gegeben gewesen. Da der Erstbeklagte sich trotz Sichtbehinderung nicht in den Fahrstreifen des Klägers vorgetastet habe, habe er den Vorrang des Klägers verletzt. Ihn treffe daher das Alleinverschulden am Verkehrsunfall.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage, ob ein Fahrstreifen diese Eigenschaft verliere, wenn am rechten Fahrbahnrand vereinzelt Fahrzeuge abgestellt seien, nicht vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobene Revision der beklagten Parteien ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

Die vom Berufungsgericht als erheblich erachtete Rechtsfrage stellt sich im vorliegenden Fall nicht. Auch sonst zeigt die Revision keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO auf:

1. Nach § 17 Abs 4 StVO darf an gemäß § 18 Abs 3 StVO anhaltenden Fahrzeugen (unter anderem) nur dann vorbeigefahren werden, wenn wenigstens zwei Fahrstreifen für die betreffende Fahrtrichtung vorhanden sind. Dieses Erfordernis wird nur durch ein gemäß § 18 Abs 3 StVO angehaltenes Fahrzeug ausgelöst, nicht aber durch ein freiwillig unter Vorrangverzicht angehaltenes Fahrzeug (vgl RS0074258; RS0074220). Darüber hinaus sind Haus‑ oder Grundstückseinfahrten oder die übrigen in § 19 Abs 6 StVO beispielsweise angeführten Verkehrsflächen keine Querstraßen iSd § 18 Abs 3 StVO (8 Ob 41/84 ZVR 1985/41; RS0074394). Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass § 17 Abs 4 StVO im vorliegenden Fall nicht anzuwenden sei, ist daher nicht zu beanstanden und wirft keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

2. Auch die gesetzlichen Voraussetzungen des § 12 Abs 5 StVO lagen nicht vor. Das Berufungsgericht hat die Zulässigkeit des Vorbeifahrens daher nach § 17 Abs 1 StVO geprüft und bejaht. Eine korrekturbedürftige Fehlbeurteilung ist ihm auch dabei nicht unterlaufen:

Nach den Feststellungen stand dem Kläger ein mindestens 2 m breiter freier Fahrstreifen zur Verfügung, was in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für ein zulässiges Vorbeifahrmanöver (jedenfalls) eines einspurigen Fahrzeugs bereits als ausreichend erachtet wurde (2 Ob 5/90; vgl ferner 2 Ob 81/01b; RS0053076). Die weitere Rechtsansicht des Berufungsgerichts, der Kläger habe keine relativ überhöhte Geschwindigkeit eingehalten, bleibt in der Revision unbekämpft. Auch insoweit zeigen die beklagten Parteien somit keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

3. Das Berufungsgericht hat auch einen unfallskausalen Verstoß des Klägers gegen das Rechtsfahrgebot verneint. Die in der Revision dazu angestellten Erwägungen gehen nicht von den getroffenen Feststellungen über die Fahrlinie des Klägers und die Kollisionsposition des Beklagtenfahrzeugs aus. Aufgrund der Feststellungen über die Breite des dem Kläger zur Verfügung stehenden Fahrstreifens und den Seitenabstand von 1 bis 1,5 m zu der links von ihm befindlichen Fahrzeugkolonne sowie unter Berücksichtigung der Breite seines Kleinkraftrads und des Umstands, dass der Kläger zu den vor und nach der Hauseinfahrt am rechten Fahrbahnrand vereinzelt geparkten Fahrzeugen ebenfalls einen angemessenen Seitenabstand einhalten musste, begegnet die zweitinstanzliche Beurteilung auch in diesem Punkt keinen Bedenken, sodass ein korrigierendes Eingreifen des Obersten Gerichtshofs nicht erforderlich ist.

4. Auf ein Verschulden des Klägers wegen einer den Sturz auslösenden Fehlreaktion haben sich die beklagten Parteien in ihrer Berufung nicht mehr gestützt. Die allseitige Überprüfung des Berufungsurteils durch den Obersten Gerichtshof beschränkt sich jedoch auf jene Umstände, die Gegenstand des Berufungsverfahrens gewesen sind (2 Ob 175/17z; RS0043573 [T41 und T43]).

5. Angesichts der zur Verfügung stehenden restlichen Fahrbahnbreite zwischen den angehaltenen Fahrzeugen des Gegenverkehrs und dem Fahrbahnrand durfte der Erstbeklagte nicht darauf vertrauen, dass dort keine anderen Verkehrsteilnehmer fahren würden (vgl 2 Ob 5/90). Kann die Fahrbahn der bevorrangten Verkehrsfläche nicht in jenem Ausmaß überblickt werden, das erforderlich ist, um mit Sicherheit beurteilen zu können, dass durch das Einfahren in die bevorrangte Verkehrsfläche keine Fahrzeuge, die dort herankommen könnten, behindert werden, darf ein wartepflichtiger Kraftfahrer in eine bevorrangte Verkehrsfläche bei Sichtbehinderung nur äußerst vorsichtig, erforderlichenfalls „vortastend“ einfahren (2 Ob 110/01t; RS0074932 [T4]). Entscheidend ist nicht nur der Beginn des Einbiegemanövers, sondern, ob der Vorrangberechtigte durch das gesamte Einbiegemanöver des im Nachrang Befindlichen behindert wurde (2 Ob 110/01t; RS0074800 [T1]). Ob ein Fahrzeuglenker dieser Verpflichtung ausreichend nachgekommen ist, hängt von den konkreten Umständen der Verkehrssituation im Einzelfall ab. Zwar setzen die Vorrangbestimmungen die – objektive – Wahrnehmbarkeit des anderen Verkehrsteilnehmers grundsätzlich voraus (RS0074843). Dies gilt aber nur für den Fall, dass es dem Wartepflichtigen auch bei gehöriger Vorsicht und Aufmerksamkeit nicht möglich ist, das andere Fahrzeug wahrzunehmen und dann nicht, wenn das Nichtwahrnehmen auf ein Fehlverhalten des Wartepflichtigen zurückzuführen ist (2 Ob 110/01t; vgl RS0074873 [T2]).

Nach den Feststellungen des Erstgerichts hätte der Erstbeklagte den Unfall vermeiden können, wenn er sich im Rahmen des Abbiegevorgangs schrittweise unter mehrmaligem Anhalten vorgetastet hätte. Davon kann aber keine Rede sein, weil er das Beklagtenfahrzeug von der ersten Halteposition bis zur Kollisionsposition durchgehend ca 8 m vorwärts bewegte. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Erstbeklagte habe mit seiner Fahrweise den Vorrang des Klägers verletzt, steht daher im Einklang mit der dargelegten Rechtsprechung.

6. Mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision daher zurückzuweisen.

7. Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 50 iVm § 41 Abs 1 ZPO. Der Kläger hat auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.

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