OGH 6Ob77/19w

OGH6Ob77/19w24.9.2019

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Gitschthaler, Univ.‑Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj S*****, geboren am ***** 2008, vertreten durch die Mutter E*****, beide *****, diese vertreten durch Dr. Peter Schaden, Mag. Werner Thurner, Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei S*****gesellschaft mbH, *****, vertreten durch Hochedlinger Luschin Marenzi Kapsch Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 331.406,30 EUR sA und Feststellung, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Teil- und Zwischenurteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 19. Februar 2019, GZ 3 R 127/18y‑57, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0060OB00077.19W.0924.000

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Gegenstand des Verfahrens sind auf die Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht gestützte Schadenersatzansprüche der durch einen Kaiserschnitt in der 31. Schwangerschaftswoche auf die Welt geholten, schwer behinderten Klägerin gegen die beklagte Spitalserhalterin. Die Entbindung zu diesem (frühen) Zeitpunkt war wegen des Auftritts einer Komplikation bei einer an der Mutter der Klägerin fehlerfrei durchgeführten Amniozentese (Fruchtwasseruntersuchung) erforderlich geworden. Die schwere Behinderung der Klägerin ist eine Folge der Frühgeburt und der stattgefundenen Komplikationen bei der Amniozentese.

2.1. Die ärztliche Aufklärung soll den Einwilligenden in die Lage versetzen, die Tragweite seiner Erklärung zu überschauen (RS0026413). Sie hat dem Patienten die für seine Entscheidung maßgebenden Kriterien zu liefern (RS0026413 [T3]). Stehen mehrere diagnostisch oder therapeutisch adäquate Verfahren zur Verfügung, sodass der Patient eine echte Wahlmöglichkeit hat, so muss der Arzt den Patienten über die zur Wahl stehenden Alternativverfahren informieren und das Für und Wider (insbesondere verschiedene Risken, verschieden starke Intensität der Eingriffe, differierende Folgen, Schmerzbelastungen und unterschiedliche Erfolgsaussichten) mit dem Patienten abwägen (RS0026426 [T1, T12]). Die ärztliche Aufklärung hat grundsätzlich so rechtzeitig zu erfolgen, dass dem Patienten noch eine angemessene Überlegungsfrist offenbleibt (RS0118651).

2.2. Sowohl der Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht (RS0026529) als auch die Dauer einer dem Patienten nach Aufklärung durch den Arzt einzuräumenden Überlegungsfrist (RS0118651 [T1]; RS0026529 [T22]) hängen von den Umständen des Einzelfalls ab und sind daher – von Fällen einer vom Obersten Gerichtshof aufzugreifenden Fehlbeurteilung abgesehen – nicht revisibel (RS0026529 [T18, T31]).

3.1. Das Berufungsgericht erkannte eine Verletzung der Aufklärungspflicht darin, dass die an Diabetes Typ II erkrankte Mutter der Klägerin, bei der anlässlich einer Routinekontrolle in der von der Beklagten betriebenen Krankenanstalt ein überhöhter Blutzuckerspiegel erkannt wurde, nicht ausreichend über die zur Verfügung stehenden alternativen Behandlungs- und Diagnosemöglichkeiten aufgeklärt worden und ihr keine ausreichende Überlegungsmöglichkeit hinsichtlich der Durchführung der Amniozentese eingeräumt worden sei.

3.2. Im Hinblick auf die Gegenüberstellung der Behandlungsalternativen einer stationären Aufnahme der Mutter zur Einstellung ihres Blutzuckerspiegels einerseits und der Durchführung einer invasiven Amniozentese zur Feststellung, ob die ungeborene Klägerin durch den erhöhten Blutzuckerspiegel der Mutter betroffen war oder nicht, maß das Berufungsgericht dem Umstand besonderes Gewicht zu, dass im Fall eines negativen Befundes hinsichtlich der Klägerin (keine Betroffenheit des kindlichen Stoffwechsels durch die erhöhten Blutzuckerwerte der Mutter) nach den Ausführungen des Sachverständigen eine Insulintherapie der Mutter dennoch weiterhin angezeigt gewesen wäre. Der behandelnde Arzt hatte der Mutter aber in Aussicht gestellt, das „Insulinspritzen“ im Fall eines durch die Amniozentese erlangten negativen Befundes hinsichtlich der Klägerin absetzen zu können. Dass das Berufungsgericht angesichts dieses Umstands davon ausging, dass die Mutter der Klägerin nicht umfassend und neutral über die Vor- und Nachteile der einander gegenüber stehenden Behandlungsalternativen aufgeklärt worden sei, bewegt sich im Rahmen des den Vorinstanzen eingeräumten Beurteilungsspielraums.

3.3. Dass die Mutter der Klägerin den vom behandelnden Arzt ursprünglich vorgeschlagenen stationären Aufenthalt spontan ablehnte, worauf dieser erst die Amniozentese zur verlässlicheren Abklärung der Gefährdung der ungeborenen Klägerin durch den erhöhten Blutzuckerspiegel der Mutter anregte, führt nicht dazu, dass die Anforderungen an die Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile beider Vorgangsweisen herabgesetzt wären. Auch die rechtswirksame Ablehnung einer Behandlung – hier: der stationären Aufnahme der Mutter zur Einstellung ihres Blutzuckerspiegels – setzt nämlich die Aufklärung über mögliche Gefahren oder schädliche Folgen ihrer Unterlassung (vgl RS0026578), im Fall einer Wahlmöglichkeit die Abwägung der Vor- und Nachteile der möglichen diagnostischen oder therapeutischen Verfahren voraus (vgl RS0026426 [T1, T12]).

3.4. Vertretbar ist auch die für den vorliegenden Einzelfall getroffene Beurteilung, dass die Mutter, die die Ambulanz nur zu einer Routinekontrolle aufgesucht hatte, angesichts des gravierenden – wenn auch nur mit einer geringen Wahrscheinlichkeit gegebenen – Risikos einer durch die Amniozentese ausgelösten Frühgeburt der Möglichkeit bedurft hätte, ihre Entscheidung einmal zu „überschlafen“.

4.1. Auf die von der Beklagten aufgeworfene Frage einer Aufklärungspflicht darüber, ob eine Krankenanstalt als „Spezialklinik“ bei Vorliegen einer bestimmten Symptomatik eine von anderen Krankenanstalten abweichende Vorgangsweise anwende, kommt es im vorliegenden Fall nicht an, weil das Berufungsgericht die Haftung der Beklagten nicht aus diesem Aspekt ableitete.

4.2. Die von der Beklagten behaupteten Mängel des Berufungsverfahrens (durch Abgehen von den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen) wurden geprüft, sie liegen jedoch nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO).

5. Insgesamt zeigt die Beklagte in ihrer außerordentlichen Revision keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf.

Stichworte