European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00057.19H.0913.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 609,67 EUR (darin 101,61 EUR USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 418,78 EUR (darin 69,80 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
H***** wurde am 2. 6. 2018 geboren. Er wurde am 6. 6. 2018 an die Klägerin und ihren Ehegatten als Krisenpflegekind übergeben. Seither wohnt er in deren Haushalt und ist dort auch gemeldet. Es handelt sich um eine vorübergehende Pflege, es ist jedoch nicht absehbar, wie lange sie noch andauern wird. Die Klägerin bezieht Familienbeihilfe für das Kind.
Die Klägerin beantragte am 13. 8. 2018 das pauschale Kinderbetreuungsgeld als Konto für das Krisenpflegekind für den Zeitraum 2. 6. 2018 bis 1. 6. 2019.
Mit Bescheid vom 6. 9. 2018 wies die beklagte Gebietskrankenkasse diesen Antrag ab.
Mit ihrer gegen diesen Bescheid gerichteten Klage begehrt die Klägerin die Zuerkennung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld in der gesetzlichen Höhe von zumindest 33,88 EUR pro Tag für den Zeitraum 2. 6. 2018 bis 1. 6. 2019.
Die Beklagte wandte dagegen ein, dass Krisenpflegeeltern keine Pflegeeltern im Sinn des § 184 ABGB seien, sodass die Klägerin nicht anspruchsberechtigt sei. Sei wie hier die Aufnahme eines Krisenpflegekindes nur vorübergehend vorgesehen, fehle es an der Anspruchsvoraussetzung einer dauerhaften Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft und damit an einem gemeinsamen Haushalt iSd § 2 Abs 1 Z 2 KBGG iVm § 2 Abs 6 KBGG.
Das Erstgericht sprach der Klägerin Kinderbetreuungsgeld von 33,88 EUR pro Tag von 6. 6. 2018 bis 1. 6. 2019 für die Dauer der Pflege von H***** zu. Werde im Rahmen einer Gefährdungssituation das Kind bei einer Krisenpflegeperson untergebracht, begründe dies ab dem ersten Tag der Unterbringung einen gemeinsamen Haushalt. Dem Kriterium der Dauerhaftigkeit sei schon durch die Besonderheit der Situation der Krisenpflegeunterbringung per se entsprochen, dies müsse um so mehr bei mehrmonatigem Aufenthalt wie im vorliegenden Fall gelten.
Das Berufungsgericht änderte dieses Urteil infolge Berufung der Beklagten im klageabweisenden Sinn ab. Es gelangte in seinen ausführlich argumentierten Entscheidungsgründen zu dem Ergebnis, dass Krisenpflegeeltern mangels ausdrücklicher Anordnung des Gesetzgebers nicht zum Kreis der anspruchsberechtigten Eltern iSd § 2 Abs 1 KBGG aF gehören. Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage des Anspruchs von Krisenpflegeeltern auf Kinderbetreuungsgeld fehle.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Beklagten beantwortete Revision der Klägerin, mit der sie die Wiederherstellung des Urteils des Erstgerichts beantragt.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und berechtigt.
1. In der erst nach der Entscheidung des Berufungsgerichts ergangenen Entscheidung vom 30. 7. 2019, 10 ObS 65/19k, hat sich der Oberste Gerichtshof mit den auch hier zu behandelnden Fragen auseinandergesetzt. Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem zu 10 ObS 65/19k ua dadurch, dass der Anspruchszeitraum über den 1. 7. 2018 hinaus reicht, sodass es auch einer Auseinandersetzung mit der Rechtslage nach dem KBGG idF BGBl I 2019/24 bedarf.
2. Für die vor dem 1. 7. 2018 geltende Rechtslage nach dem KBGG idF BGBl I 2016/53 – in die auch im vorliegenden Fall der Beginn des Anspruchs fällt – hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 10 ObS 65/19k die Anspruchsberechtigung von Krisenpflegeeltern nach dem KBGG bejaht. Den von der Beklagten auch in diesem Verfahren für ihren Standpunkt ins Treffen geführten Entscheidungen 8 Ob 54/11s und 1 Ob 129/15z kommt nach dieser Entscheidung für die Auslegung des Begriffs „Pflegeelternteil“ in § 2 Abs 1 KBGG in der Fassung BGBl I 2016/53 nicht die in den Gesetzesmaterialien zur Novelle BGBl I 2019/24 (584/A 26. GP 3) zugebilligte Bedeutung zu. Krisenpflegeeltern gehörten nach der bisherigen Praxis der Versicherungsträger vielmehr bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung mit BGBl I 2019/24 zu den nach § 2 Abs 1 KBGG grundsätzlich anspruchsberechtigten Personen. Auch im vorliegenden Fall ist daher die Anspruchsberechtigung der Klägerin zu bejahen.
3.1 Nach § 2 Abs 6 KBGG idF BGBl I 2016/53 liegt ein gemeinsamer Haushalt im Sinn des KBGG nur dann vor, wenn der Elternteil und das Kind in einer dauerhaften Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse leben und beide an dieser Adresse auch hauptwohnsitzlich gemeldet sind. Der gemeinsame Haushalt gilt bei mehr als 91‑tägiger tatsächlicher voraussichtlicher Dauer einer Abwesenheit des Elternteils oder des Kindes jedenfalls als aufgelöst.
3.2 In der Entscheidung 10 ObS 65/19k führte der Oberste Gerichtshof aus, dass Krisenpflegeeltern, die sich bereit erklären, ein Kind für einen unbestimmten Zeitraum, solange es nötig ist, in ihrem Haushalt zu betreuen, mit dem ersten Tag der Übernahme einen gemeinsamen Haushalt iSd § 2 Abs 6 KBGG aF begründen. Eine Ex‑post‑Differenzierung danach, wie lange diese Betreuung tatsächlich dauerte, kommt nicht in Frage und würde überdies der vom Gesetzgeber mit der Neuregelung in BGBl I 2019/24 angestrebten Gleichstellung von Krisenpflegeeltern als wichtige Bezugspersonen für Kinder in Notsituationen mit Pflegeeltern widersprechen.
3.3 Angewandt auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass ein gemeinsamer Haushalt iSd § 2 Abs 1 Z 2 iVm Abs 6 KBGG aF mit der Übernahme des Krisenpflegekindes in den Haushalt der Klägerin am 6. 6. 2018 begründet wurde. Daran ändert nach den in 10 ObS 65/19k dargelegten Grundsätzen nichts, dass es sich dabei um eine „vorübergehende Pflege“ handelte.
4.1 Nach § 2 Abs 6 KBGG idgF BGBl I 2019/24 liegt ein gemeinsamer Haushalt im Sinn des KBGG ua nur dann vor, wenn der Elternteil und das Kind in einer dauerhaften „(mindestens 91 Tage durchgehend)“ Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft leben. Diese Bestimmung trat rückwirkend mit 1. 7. 2018 in Kraft (§ 50 Abs 23 KBGG).
4.2 Nach der Rechtsprechung können zwar die Wirkungen einer Gesetzesänderung nicht Tatbestände ergreifen, die vor dem Inkrafttreten eines neuen Gesetzes abschließend und endgültig verwirklicht wurden (RS0008694 [T4]). Dieser zeitliche Geltungsbereich ist aber nur für einmalige oder jene mehrgliedrigen oder dauernden Sachverhalte abgrenzbar, die zur Gänze in die Geltungszeit des alten oder des neuen Gesetzes fallen. Andernfalls gelten für einen Dauersachverhalt die Rechtsfolgen des neuen Gesetzes ab seinem Inkrafttreten (10 Ob 57/06i mwN; 10 ObS 6/10w SSV‑NF 24/9; RS0008715).
4.3 Das Vorliegen einer „dauerhaften Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft“ iSd § 2 Abs 6 KBGG ist ein Dauersachverhalt. Im vorliegenden Fall begann er am 6. 6. 2018, daher noch im Geltungsbereich des § 2 Abs 6 KBGG aF, reichte aber über den 1. 7. 2018 hinaus, und daher in den Geltungsbereich der geltenden Rechtslage. Auf die Frage, ob die angeordnete Rückwirkung des § 2 Abs 6 KBGG einen – allenfalls verfassungsrechtlich zu prüfenden – Eingriff in eine schon erworbene Vertrauensposition darstellen könnte (vgl zB VfGH G 364/96 VfSlg 14.861 mzwH), muss im vorliegenden Fall nicht näher eingegangen werden: Die Wohn‑ und Wirtschaftsgemeinschaft zwischen der Klägerin und dem Krisenpflegekind bestand auch über den 1. 7. 2018 hinaus aufrecht – und damit jedenfalls länger als mindestens 91 Tage – fort.
Der Revision war daher Folge zu geben und das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen. Höhe und Zeitraum des Zuspruchs liegen innerhalb des im Antrag begehrten Rahmens und wurden von der Beklagten im Verfahren inhaltlich nicht bestritten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
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