European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:0140OS00077.19H.0903.000
Spruch:
Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 14. November 2018, AZ 9 Bl 6/18x, verletzt § 195 Abs 1 Z 2 und Abs 2 vierter Satz StPO.
Dieser Beschluss wird aufgehoben und dem Landesgericht für Strafsachen Graz wird aufgetragen, neuerlich über den Antrag der Julia T***** auf Fortführung des Ermittlungsverfahrens, AZ 27 St 43/18y der Staatsanwaltschaft Graz, zu entscheiden.
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Graz stellte am 17. Juli 2018 ein gegen Michael O***** wegen des Verdachts der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung nach § 205a Abs 1 StGB geführtes Ermittlungsverfahren gemäß § 190 Z 2 StPO ein (ON 1 S 5). Dem Verfahren lag der Vorwurf zugrunde, O***** habe in der Nacht vom 23. auf den 24. Jänner 2018 in seiner Wohnung in G***** mit Julia T***** „gegen deren mehrfach geäußerten Willen vorerst eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung in Form von Einführen eines Fingers in ihren Anus und anschließend“ zweimal „den vaginalen Beischlaf vorgenommen“ (ON 2 S 3 f). Die Einstellung begründete die Staatsanwaltschaft nach § 194 Abs 2 zweiter Satz StPO damit, dass „der Beschuldigte den Tatvorwurf in Abrede stellt, somit Aussage gegen Aussage steht und keinem der Beteiligten eine höhere Glaubwürdigkeit zuerkannt werden kann“.
Mit am 30. Juli 2018 bei der Staatsanwaltschaft eingebrachtem Schriftsatz beantragte T*****, das Verfahren „von Amts wegen wiederaufzunehmen“, „in eventu“ (fristgerecht) die Fortführung des Ermittlungsverfahrens. Sie verwies auf die – ihrer Ansicht nach durch andere Beweisergebnisse gestützte – Glaubhaftigkeit ihrer eigenen Angaben. Die Einstellung des Verfahrens „in dubio pro reo“ sei „bei einer Pattstellung“ infolge „Aussage gegen Aussage nicht rechtskonform gewesen“; es hätte eine „kontradiktorische Einvernahme des Opfers“ durchgeführt werden müssen (ON 13).
In ihrer nach § 195 Abs 3 zweiter Satz StPO übermittelten Stellungnahme führte die Staatsanwaltschaft nach dem Verweis auf mehrere Beweisergebnisse und teilweiser Wiedergabe deren Inhalts (insbesondere der Aussagen des Opfers, zweier Zeuginnen denen das Opfer das Geschehen nachträglich geschildert hatte und des Beschuldigten) aus, es stehe „Aussage gegen Aussage“. Die Schilderungen der Zeugin T*****, dass O***** „zweimal gegen ihren ausdrücklich erklärten Willen den Geschlechtsverkehr an ihr vollzogen und sie ihn dazwischen aus Angst auch noch oral befriedigt habe“, seien „schon für sich allein betrachtet absolut unglaubwürdig und lebensfremd“. Im Übrigen bestünden auf Grund der von der Zeugin „nach dem Vorfall an O***** gesendeten Whats‑App Nachrichten sowie ihren anderslautenden Schilderungen gegenüber ihren beiden Freundinnen in Zusammenhalt damit, dass sie das LKH H***** erst einen Tag nach dem Vorfall aufgesucht und sie diesen schließlich erst mehr als ein Monat später zur Anzeige gebracht“ habe, ernsthafte Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit (ON 14).
Die Fortführungswerberin verwies in ihrer dazu erstatteten Äußerung (§ 196 Abs 1 zweiter Satz StPO) zunächst auf mehrere, ihre Glaubwürdigkeit stützende Umstände, forderte ihre kontradiktorische Vernehmung und eine ergänzende Vernehmung des Beschuldigten und behauptete schließlich einen Widerspruch in den Angaben des Beschuldigten. Es lägen daher „erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der Feststellungen“ vor und es seien „Ermittlungsschritte nicht in entsprechender Weise abgeschlossen“ worden (ON 16).
Mit Beschluss vom 14. November 2018, AZ 9 Bl 6/18x (ON 15), gab das Landesgericht für Strafsachen Graz dem Fortführungsantrag statt. Begründend führte es aus, die Staatsanwaltschaft habe den von der Fortführungswerberin aufgezeigten Widerspruch „innerhalb genau bezeichneter Aussagen des Beschuldigten in seiner Vernehmung“ nicht gewürdigt, „womit ein Begründungsmangel nach den Kriterien des § 281 Abs 1 Z 5 zweiter Fall StPO vorliegt“. Zudem stelle die Einschätzung der Staatsanwaltschaft vom Fehlen der Glaubwürdigkeit des Opfers, weil dieses das Krankenhaus erst einen Tag nach dem Vorfall aufgesucht und diesen erst mehr als einen Monat später zur Anzeige gebracht“ habe, „eine unerträgliche Fehlbeurteilung“ dar, weil „dies nach allgemeiner und facheinschlägiger Erfahrung ein für Opfer von strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität durchaus typisches Verhalten“ sei. Es bestünden daher neben einem Begründungsmangel auch „erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der von der Staatsanwaltschaft vorgenommenen Beweiswürdigung“.
Rechtliche Beurteilung
Dieser Beschluss steht – wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt – mit dem Gesetz nicht in Einklang.
Aus dem – am Standard für Nichtigkeitsbeschwerden orientierten – Erfordernis, die Gründe einzeln und bestimmt zu bezeichnen, aus denen die Verletzung oder unrichtige Anwendung des Gesetzes oder die erheblichen Bedenken abzuleiten sind (§ 195 Abs 2 vierter Satz StPO), folgt eine Antragsbindung des Gerichts, das nicht befugt ist, vom Fortführungswerber (allenfalls auch in der gemäß § 196 Abs 1 zweiter Satz StPO erstatteten Äußerung) nicht (gesetzmäßig) geltend gemachte Argumente gegen die Einstellung, die sich (nach Ansicht des Gerichts) etwa aus dem Akt ergeben, aufzugreifen (RIS‑Justiz RS0126210 T1). Bei Einstellungen aus – wie vorliegend – tatsächlichen Gründen (§ 190 Z 2 StPO) unterscheidet das Gesetz zwischen gesetzesverletzendem Ermessensmissbrauch (§ 195 Abs 1 Z 1 StPO), der sich aus einer willkürlichen (also nach den Kriterien des § 281 Abs 1 Z 5 StPO mangelhaft begründeten) Beurteilung ergeben kann, und erheblich bedenklichem Ermessensgebrauch (§ 195 Abs 1 Z 2 StPO), somit einer (nach den Kriterien des § 281 Abs 1 Z 5a StPO) unerträglichen Lösung der Beweisfrage (13 Os 69/14t, 70/14i; RIS‑Justiz RS0126211 T2 und T4; zum Ganzen Nordmeyer, WK‑StPO § 195 Rz 14 ff und 29 f sowie § 196 Rz 13 und 16 ff).
Der angefochtene Beschluss stützt sich einerseits auf – von der Fortführungswerberin nicht geltend gemachte – Unvollständigkeit (vgl § 281 Abs 1 Z 5 zweiter Fall StPO) und missachtet so die Antragsbindung. Davon abgesehen liegt – wie in der Nichtigkeitsbeschwerde richtig aufgezeigt – ein erörterungsbedürftiger Widerspruch in der Aussage des Beschuldigten nicht vor.
Indem das Gericht darüber hinaus bloß aus einzelnen von der Staatsanwaltschaft angeführten Prämissen (zu den späten Zeitpunkten des Krankenhausbesuchs und der Anzeigeerstattung) ohne Bezugnahme auf aktenkundige Beweisergebnisse lediglich auf Grund eigener allgemeiner Erwägungen zu typischem Verhalten von Opfern „von strafbaren Handlungen gegen die sexuelle Integrität“ die Glaubwürdigkeit der Zeugin T***** bejaht und darauf gestützt nachteilige Schlüsse für den Beschuldigten zieht, überschreitet es die von § 195 Abs 1 Z 2 StPO gezogenen Grenzen zulässiger Korrektur der Beweiswürdigung (vgl RIS‑Justiz RS0119424 und RS0099674 [jeweils zu § 281 Abs 1 Z 5a StPO]).
Der angefochtene Beschluss verletzt daher § 195 Abs 1 Z 2 und Abs 2 vierter Satz StPO. Da sich die Gesetzesverletzung zum Nachteil des Beschuldigten auswirkte, war der Beschluss aufzuheben.
Bleibt zu den weiteren Ausführungen der Generalprokuratur anzumerken, dass der Fortführungsgrund des § 195 Abs 1 Z 1 StPO grundsätzlich auch mit dem Einwand unrichtiger Beurteilung der Einstellungsvoraussetzungen nach § 190 Z 2 StPO infolge Unterbleibens einer Aufnahme aktenkundiger Beweise, die zu einer Klärung des Sachverhalts und Intensivierung des Tatverdachts hätten führen können, geltend gemacht werden könnte (erneut 13 Os 69/14t, 70/14i; Nordmeyer, WK‑StPO § 195 Rz 15 und § 196 Rz 12 und 21). Dies bringt die Fortführungswerberin jedoch mit der bloßen Argumentation, es wäre ihre kontradiktorische Vernehmung durchzuführen gewesen (vgl zu deren Voraussetzungen Kirchbacher, WK‑StPO § 165 Rz 8 ff), weil es der Staatsanwaltschaft verwehrt sei, Fragen der Glaubwürdigkeit ohne eine solche Beweisaufnahme selbst zu beurteilen, nicht ausreichend vor. Dass sie eine solche Vernehmung vor der Verfahrenseinstellung beantragt hätte (vgl § 165 Abs 4 iVm § 66a Abs 1 Z 1 und Abs 2 Z 3 StPO), behauptete sie – zu Recht (vgl ON 3) – nicht. Ebenso wenig legte sie dar, inwieweit die begehrte ergänzende Befragung des Beschuldigten (dem die Angaben des Opfers bei seiner polizeilichen Vernehmung übrigens ausführlich vorgehalten wurden [vgl ON 10 S 15 ff]), weitere Klärung gebracht hätte.
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