European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2019:E125144
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
Das derzeit 9-jährige Kind lebte bis 2013 im gemeinsamen Haushalt der Eltern. Nach dem Scheitern der Lebensgemeinschaft der Eltern vereinbarten sie 2013 die Beibehaltung der gemeinsamen Obsorge und die Hauptbetreuung am Wohnsitz der Mutter.
Derzeit sind ein Antrag des Vaters vom 25. 8. 2016 auf Änderung der Hauptbetreuung zu seinen Gunsten sowie ein Antrag der Mutter vom 31. 1. 2017 auf Zuteilung der alleinigen Obsorge und Einschränkung des vereinbarten Kontaktrechts des Vaters offen anhängig.
Am 27. 3. 2018 beantragte der Vater, wegen Gefährdung des Kindes durch die Mutter die vorläufige Hauptbetreuung an ihn zu übertragen, den Wechsel des Kindes an die örtliche Volksschule anzuordnen und die erforderliche Zustimmung der Mutter dazu durch Gerichtsbeschluss zu ersetzen.
Das Erstgericht ordnete mit sofort verbindlichem und vollstreckbarem Beschluss vom 30. 3. 2018, nach Durchführung von Erhebungen der Jugendgerichtshilfe und Einvernahme von beteiligten Personen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die widerstreitenden Anträge der Eltern
1. die hauptsächliche Betreuung des Kindes im Haushalt des Vaters an,
2. entzog es der Mutter vorläufig die Obsorge für den Bereich Pflege und Erziehung und betraute damit vorläufig den Vater,
3. ersetzte es die Zustimmung der Mutter zum Volksschulwechsel des Kindes.
Die Mutter weise nach den Ergebnissen des Beweisverfahrens, insbesondere der Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe, eine temporär eingeschränkte Erziehungsfähigkeit auf und sei derzeit nicht in der Lage, die Bedürfnisse ihrer Tochter umfassend wahrzunehmen und danach zu handeln. Sie zeige keine Kooperationsbereitschaft mit dem Vater und dem Kinderbeistand sowie nur eine eingeschränkte mit der Familiengerichtshilfe. Es sei zu befürchten, dass sich die bestehenden Loyalitätskonflikte und Schuldgefühle des Kindes durch das Verhalten der Mutter verstärken würden und bei weiterem Verbleib in ihrer Betreuung das Kindeswohl akut gefährdet wäre.
Das Rekursgericht gab dem gegen diese Entscheidung erhobenen Rechtsmittel der Mutter nicht Folge und erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für nicht zulässig.
Der behauptete Verfahrensmangel sei nicht gegeben. Das Gericht habe nach § 107 Abs 2 AußStrG die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls auch vorläufig einzuräumen oder zu entziehen. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten damit die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen in dem Sinn reduziert werden, dass diese nicht mehr erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen. Nach § 181 Abs 1 ABGB habe das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des Kindes gefährden, die zu dessen Sicherung nötigen Verfügungen zu treffen, insbesondere dürfe es die Obsorge ganz oder teilweise entziehen. Es genüge, dass die elterlichen Pflichten objektiv nicht erfüllt oder subjektiv gröblich vernachlässigt wurden, oder die Eltern durch ihr Gesamtverhalten das Kindeswohl gefährden.
Nach den erstgerichtlichen Feststellungen, die im Rekurs der Mutter gar nicht konkret angegriffen würden, sei das Kind aufgrund eines Loyalitätskonflikts und eines psychosomatischen Leidens psychisch und physisch in einem schlechten Zustand. Die Mutter sei derzeit nicht in der Lage, seine Bedürfnisse nach Ruhe, Sicherheit, Stabilität und Kontakt auch zum Vater umfassend wahrzunehmen. Der Vater sei dagegen erziehungsfähig, kooperativ, bindungstolerant und erkenne die Bedürfnisse der Tochter ausgeprägter als die Mutter. Angesichts der festgestellten Ausgangslage sei die Veränderung der Betreuungssituation alternativlos. Es habe eine akute Gefährdung bei der Mutter und eine bessere Prognose beim Vater bestanden.
Auch die während des Rechtsmittelverfahrens neu eingetretenen, im Obsorgeverfahren ebenfalls zu berücksichtigenden weiteren Entwicklungen rechtfertigten keine Abänderung der angefochtenen Entscheidung.
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter zeigt keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 62 Abs 1 AußStrG auf. Die Zurückweisung des Revisionsrekurses kann sich auf die kurze Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 71 Abs 3 Satz 4 AußStrG).
1. Nach § 181 Abs 1 ABGB hat das Gericht, von wem immer es angerufen wird, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes gefährden. Besonders darf das Gericht die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise, auch gesetzlich vorgesehene Einwilligungs- und Zustimmungsrechte, entziehen. Im Einzelfall kann das Gericht auch eine gesetzlich erforderliche Einwilligung oder Zustimmung ersetzen, wenn keine gerechtfertigten Gründe für die Weigerung vorliegen.
Das Gericht hat die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte nach Maßgabe des Kindeswohls, insbesondere zur Aufrechterhaltung der verlässlichen Kontakte und zur Schaffung von Rechtsklarheit, auch vorläufig einzuräumen oder zu entziehen (§ 107 Abs 2 AußStrG). Als ultima ratio kann auch die vorläufige Obsorgeentziehung angeordnet werden (RIS‑Justiz RS0121416; vgl auch RS0007035). Diese einstweiligen Verfügungen können auch von Amts wegen getroffen werden (RIS‑Justiz RS0045931 [T1, T2]; Deixler-Hübner in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.06 § 182 [Stand 1. 10. 2018] Rz 21; § 378a EO). Mit dieser Rechtslage steht der angefochtene Beschluss entgegen den Ausführungen der Mutter im Einklang.
2. Die Beurteilung, welche Beweisaufnahmen im Einzelfall erforderlich sind, um eine hinreichende Entscheidungsgrundlage zu gewinnen, stellt eine vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbare Frage der Beweiswürdigung dar und ist (auch im Verfahren außer Streitsachen) den Tatsacheninstanzen vorbehalten (RIS‑Justiz RS0108449 [T2; T4]; 10 Ob 74/18g ua). Das Rekursgericht hat sich mit der auf eine unzureichende Stoffsammlung abzielenden Mängelrüge der Mutter befasst und einen Verfahrensmangel verneint. Dabei hat es den Grundsatz beachtet, dass das Gericht von zeitaufwändigen umfassenderen Erhebungen dann abzusehen hat, wenn vorläufige Maßnahmen dringend geboten sind.
3. Die im Revisionsrekurs enthaltenen Ausführungen zu den Voraussetzungen und der zeitlichen Beschränkung einer – hier nicht getroffenen – Anordnung der vorläufigen elterlichen Verantwortung gemäß § 180 ABGB sind nicht entscheidungsrelevant.
4. Von einer Anhörung des Kindes durch das Gericht kann unter anderem abgesehen werden, wenn durch sie oder durch einen damit verbundenen Aufschub der Verfügung das Wohl des Minderjährigen gefährdet wäre oder im Hinblick auf die Verständnisfähigkeit des Minderjährigen offenbar eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten ist (§ 105 Abs 2 AußStrG; Deixler‑Hübner in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.06 § 182 Rz 12).
Auch die Entscheidung, ob – insbesondere bei Vorliegen umfangreicher Erhebungsergebnisse der Jugendgerichtshilfe und des Trägers der Jugendwohlfahrt – das Verfahren ohne gerichtliche Anhörung des Kindes mangelhaft war, begründet schon wegen der Einzelfallbezogenheit regelmäßig keine revisible Rechtsfrage.
5. Der Wunsch des Minderjährigen spielt zwar bei der Entscheidungsfindung eine Rolle, doch hat sich das Gericht stets am Kindeswohl zu orientieren (Deixler‑Hübner, aaO Rz 12; RIS‑Justiz RS0048820 [T11] = 7 Ob 63/14m).
Soweit die Rekursausführungen unterstellen, dass sich im Verfahren eine eindeutige Präferenz des Kindes für die Hauptbetreuung im Haushalt der Mutter gezeigt habe, stehen sie zum Akteninhalt und zu den Feststellungen im Widerspruch. Die Minderjährige leidet vielmehr aufgrund des elterlichen Hin- und Herzerrens an einem schwerwiegenden Loyalitätskonflikt. Es wäre gerade in dieser Situation mit dem Wohl eines noch nicht zehnjährigen Kindes unvereinbar, ihm zuzumuten, einen Elternteil vorziehen und damit den anderen kränken zu müssen. Überhaupt sind die Vorinstanzen ohne aufzugreifenden Rechtsirrtum davon ausgegangen, dass es nicht angeht, einem so jungen Kind Verantwortung für die Auflösung einer Situation zuzuweisen, die den Eltern nicht gelingt.
6. Die im Revisionsrekurs geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die gesetzliche Regelung der Familiengerichtshilfe, insbesondere der behaupteten mangelnden Determinierung der Qualifikation der eingesetzten Personen, können schon deshalb dahingestellt bleiben, weil eine konkrete Relevanz dieser Überlegungen für die im Anlassfall maßgeblichen Rechtsfragen nicht zu erkennen ist.
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