OGH 1Ob184/18t

OGH1Ob184/18t21.11.2018

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. S***** S*****, 2. S***** S*****, vertreten durch Dr. Clemens Lintschinger MSc, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur, Singerstraße 17–19, 1011 Wien, wegen 10.000 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 5. Juli 2018, GZ 14 R 81/18m‑20, mit dem das Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 26. März 2018, GZ 3 Cg 5/17v‑16, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0010OB00184.18T.1121.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagenden Parteien sind schuldig, der beklagten Partei die mit 788,66 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Die am 16. 2. 1999 geborene Tochter der Kläger verließ am 10. 4. 2014 ohne Wissen und Zustimmung ihrer Eltern gemeinsam mit einer etwa ein Jahr älteren Freundin über den Flughafen Wien-Schwechat das Bundesgebiet, um über Istanbul nach Adana zu fliegen. Sie führte ihren Reisepass sowie das Flugticket mit sich und verfügte über ein für die Türkei erforderliches Visum. Beide Mädchen reisten schließlich mit dem Auto nach Syrien, wo sich die Tochter der Kläger vermutlich heute noch aufhält.

Die Kläger begehren aus dem Titel der Amtshaftung 10.000 EUR sA als anteiligen Ersatz für die Aufwendungen, die ihnen bei Versuchen, den Aufenthaltsort ihrer Tochter zu ermitteln, Kontakt zu ihr herzustellen und ihr die Rückkehr zu ermöglichen, entstanden seien, sowie die Feststellung, dass die Beklagte ihnen für alle zukünftigen Schäden und Nachteile aus der Unterlassung der Einhaltung von Punkt 6. des Anhangs VII zur Verordnung VO (EG) Nr 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 (Schengener Grenzkodex) im Zusammenhang mit dem Grenzübertritt ihrer Tochter im Umfang von zwei Dritteln hafte. Nach der genannten Bestimmung wären die Grenzschutzbeamten in jedem Fall verpflichtet gewesen, nachzuprüfen, ob die Zustimmung der Obsorgeberechtigten zur Ausreise der Minderjährigen vorliegt, was sie unterlassen hätten, und so rechtswidrig und schuldhaft ermöglichten, dass die Minderjährige ohne ihre Zustimmung das Bundesgebiet verlassen habe können.

Das Berufungsgericht bestätigte das das Klagebegehren abweisende Urteil des Erstgerichts. Weder aus Punkt 6. Anhang VII der VO (EG) 562/2006 noch aus einer anderen Regelung könne abgeleitet werden, dass die Ausreise von Minderjährigen ohne Begleitung verboten wäre. Ohne Verdachtsmomente habe keine Verpflichtung bestanden, über eine eingehende Kontrolle der Reisedokumente und Reisebelege hinaus das Vorliegen der Zustimmung der/des Obsorgeberechtigten zur Ausreise nachzuprüfen. Anhaltspunkte für solche Verdachtsmomente hätte das Beweisverfahren nicht ergeben.

Die Revision erklärte das Berufungsgericht über Antrag gemäß § 508 ZPO für zulässig, weil die Frage, in welcher Form sich Grenzschutzbeamte im Fall von Minderjährigen ohne Begleitung zu vergewissern haben, dass diese das Staatsgebiet nicht gegen den Willen der Obsorgeberechtigten verlassen, unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten zugänglich sei.

Rechtliche Beurteilung

Die von der Beklagten beantwortete Revision der Kläger ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nach § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

1.1 Ein Amtshaftungsanspruch setzt gemäß § 1 Abs 1 AHG ein rechtswidriges und schuldhaftes Organverhalten voraus (1 Ob 85/18h mwN; zur Unterlassung RIS‑Justiz RS0081378). Er kann auch dadurch entstehen, dass ein inländisches Organ unmittelbar anzuwendendes Unionsrecht vorwerfbar nicht oder nicht richtig anwendet, etwa weil es die ständige Rechtsprechung des EuGH missachtet (RIS‑Justiz RS0114183).

1.2 Ganz allgemein kommt es für die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für einen Amtshaftungsanspruch aber nicht – wie in einem Rechtsmittelverfahren – darauf an, ob die in Betracht kommende Entscheidung oder das zu beurteilende Organverhalten richtig war, sondern ob die Entscheidung bzw das Verhalten auf einer bei pflichtgemäßer Überlegung vertretbaren Gesetzesauslegung oder Rechtsanwendung beruhte (RIS‑Justiz RS0049955 [T7; T9]; RS0050216 [T2; T7]). Sind gesetzliche Bestimmungen nicht vollkommen eindeutig, enthalten sie Unklarheiten über die Tragweite des Wortlauts und steht zudem eine höchstrichterliche Rechtsprechung als Entscheidungshilfe nicht zur Verfügung, kommt es darauf an, ob bei pflichtgemäßer Überlegung das Handeln als vertretbar bezeichnet werden kann (RIS‑Justiz RS0049951).

1.3 Zwar kann das Fehlen von Rechtsprechung des Höchstgerichts das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage begründen, allerdings nur dann, wenn im konkret zu beurteilenden Fall die Entscheidung auch von der Lösung dieser Rechtsfrage (des materiellen Rechts oder des Verfahrensrechts) abhängt. Die Beantwortung der vom Berufungsgericht als erheblich angesehenen Frage zielt auf die richtige Auslegung der Vorschriften Punkt 6. Anhang VII der VO (EG) 562/2006 ab, der für die Beurteilung des hier angestrebten Ersatzanspruchs nach dem AHG aber keine entscheidungswesentliche Bedeutung zukommt, wenn das Organhandeln auf vertretbarer Gesetzesanwendung, somit auf einer bei pflichtgemäßer Überlegung vertretbaren Rechtsauslegung beruhte (vgl RIS‑Justiz RS0049955 [T6]).

2.1 Indem die Vorinstanzen davon ausgegangen sind, dass den Klägern der Nachweis einer Verletzung der als Schutznorm qualifizierten Bestimmung des Punktes 6.3 Anhang VII der VO (EG) 562/2006 (gleichlautend nunmehr Anhang VII der VO (EU) 2016/399) nicht gelungen ist, haben sie eine Auslegung dieses Punktes dahin, dass nicht in jedem Fall eines allein reisenden Minderjährigen die Zustimmung des Obsorgeberechtigten zur Ausreise nachzuprüfen ist, sondern nur bei Verdachtsmomenten, und damit das auf einem solchen Normverständnis beruhende Handeln der Organe des Grenzschutzes für vertretbar erachtet.

Die Prüfung der Vertretbarkeit einer Rechtsauffassung als Verschuldenselement und damit auch die Beurteilung, ob ein vorwerfbarer Verstoß gegen das Unionsrecht vorliegt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und entzieht sich deshalb regelmäßig einer Beurteilung als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (1 Ob 43/17f mwN; RIS‑Justiz RS0110837).

2.2 Nach dem Wortlaut des Punktes 6.3 des Anhangs VII der VO (EG) 562/2006 haben sich die Grenzschutzbeamten bei Minderjährigen ohne Begleitung durch „eingehende Kontrolle der Reisedokumente und Reisebelege“ vor allem darüber zu vergewissern, dass die Minderjährigen das Staatsgebiet nicht gegen den Willen des/der Sorgeberechtigten verlassen. Das „Vergewissern“ hat demnach zunächst durch eine eingehende Prüfung der Reiseunterlagen zu erfolgen. Dazu ergänzt Punkt 6.5 des Anhangs VII, dass bei Zweifeln über die (unter anderem) in Punkt 6.3 genannten Umstände Grenzschutzbeamte die Liste der (in Punkt 6.4 normierten) nationalen Kontaktstellen zu Minderjährigen konsultieren können. Die Punkte 6.4 und 6.5 wurden mit Verordnung (EU) Nr 610/2013 dem Anhang VII des Schengener Grenzkodex angefügt, sind seit 19. 7. 2013 in Kraft und wurden gleichlautend in Anhang VII der VO (EU) 2016/399 übernommen. Weitergehendes Behördenhandeln wurde damit – soweit hier von Interesse – an (begründete) Zweifel, ob der Minderjährige mit dem Einverständnis des Obsorgeberechtigten ausreist, geknüpft. Damit gibt die Verordnung selbst einen deutlichen Hinweis, dass nicht schon der bloße Umstand, dass die Minderjährige unbegleitet ausreiste, über die eingehende Kontrolle der im Anhang der Verordnung genannten Dokumente hinausgehende Schritte erforderte. Dass die Organe des Grenzschutzes, ohne Verdachtsmomente, keine Verständigung der zweiten Kontrolllinie („Kontrolle in der zweiten Kontrolllinie“; Art 2 lit 12 VO (EG) 562/2006) vornahmen, beruht daher auf einer vertretbaren Rechtsauffassung. Eine im Interesse der Rechtssicherheit auch im Einzellfall korrekturbedürftige Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts (dazu RIS‑Justiz RS0044088), das seiner Entscheidung ein solches Normverständnis durch die Organe des Grenzschutzes zugrunde legte, liegt nicht vor.

3. Der Geschädigte muss im

Amtshaftungsprozess die Rechtsverletzung durch das Organ und deren Kausalität für den eingetretenen Schaden behaupten und beweisen (vgl RIS‑Justiz RS0022469). Inwieweit in diesem Zusammenhang eine Verkennung der Beweislast durch das Berufungsgericht gegeben sein soll, weil es seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde legte, dass den Klägern der Nachweis einer Rechtsverletzung nicht gelungen sei, kann nicht nachvollzogen werden. Soweit sie den Standpunkt vertreten, sie hätten positiv den Nachweis erbracht, dass Organe der Beklagten gegen Punkt 6. Anhang VII der Verordnung verstoßen hätten, gehen sie erkennbar davon aus, diese Bestimmung würde die Ausreise eines allein reisenden Minderjährigen nur bei Vorlage einer schriftlichen Zustimmungserklärung des Obsorgeberechtigten oder nach telefonischer Rückfrage erlauben. Ein solches Verständnis findet im Wortlaut des Punkts 6. Anhang VII der Verordnung aber keine Deckung. Welche Verdachtsmomente für ein Ausreisen ohne Zustimmung der Eltern bestanden haben sollten, legten die Kläger nie konkret dar. Dass die Tochter über ihren Reisepass und das erforderliche Visum verfügte, konnte vielmehr in Richtung ihres Einverständnisses gewürdigt werden.

4. Nach § 162 Abs 1 ABGB hat (soweit die Pflege und Erziehung es erfordern) der hierzu berechtigte Elternteil auch das Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen. Diese Bestimmung regelt das Aufenthaltsbestimmungsrecht des obsorgeberechtigten Elternteils (dazu näher Hopf in KBB5 § 162 Rz 3), dem auch die Disposition über die Reisedokumente des Kindes zukommt (8 Ob 146/15a = RIS‑Justiz RS0130737). Ein Verbot der (unbegleiteten) Ausreise eines Minderjährigen wird durch diese Bestimmung entgegen der Ansicht der Kläger nicht normiert. Nicht nachvollziehbar ist daher, warum es einen Verstoß von Organen der Beklagten gegen diese Bestimmung begründen soll, weil die Tochter der Kläger unter Verwendung des Reisepasses das Staatsgebiet gegen den Willen ihrer Eltern verlassen hat.

5. Einer weiteren Begründung bedarf es nicht (§ 510 Abs 3 ZPO).

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 ZPO iVm § 50 ZPO. Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass die

Revision nicht zulässig ist, weshalb ihr die

Kosten der Revisionsbeantwortung als zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig, zuzuerkennen sind.

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