OGH 12Os85/18v

OGH12Os85/18v13.9.2018

Der Oberste Gerichtshof hat am 13. September 2018 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Ertl, LL.M., als Schriftführer in der Strafsache gegen Heidelinde T***** und einen Angeklagten wegen des Vergehens der grob fahrlässigen Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen nach § 159 Abs 2 (Abs 5 Z 4 und Z 5) iVm § 161 Abs 1 zweiter Satz StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts St. Pölten als Schöffengericht vom 4. Dezember 2017, GZ 36 Hv 123/17w‑119, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin MMag. Jenichl, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2018:0120OS00085.18V.0913.000

 

Spruch:

 

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird dem Erstgericht aufgetragen, sich der Verhandlung und Urteilsfällung über den unerledigt gebliebenen Anklagepunkt IV./ zu unterziehen.

Der Angeklagten Heidelinde T***** fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde – soweit hier von Bedeutung – Heidelinde T***** des Vergehens der grob fahrlässigen Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen nach § 159 Abs 2 (Abs 5 Z 4 und Z 5) iVm § 161 Abs 1 (zu ergänzen) zweiter Satz StGB (I./) und des Vergehens der Urkundenfälschung nach § 223 Abs 1 StGB (III./) schuldig erkannt.

Danach hat sie in S***** und andernorts

I./ im Zeitraum vom 1. Jänner 2011 bis zum 17. September 2012 als leitende Angestellte des Einzelunternehmens R***** in fahrlässiger Unkenntnis der Zahlungsunfähigkeit des genannten Unternehmens grob fahrlässig (§ 6 Abs 3 StGB) die Befriedigung wenigstens eines seiner Gläubiger dadurch geschmälert, dass sie kridaträchtig nach § 159 Abs 5 Z 4 und Z 5 StGB handelte, indem sie entgegen Grundsätzen ordentlichen Wirtschaftens

a./ Geschäftsbücher und geschäftliche Aufzeichnungen so führte, dass ein zeitnaher Überblick über die wahre Vermögens-, Finanz- und Ertragslage erheblich erschwert wurde, indem sie betriebliche Vorgänge im Rechnungswesen nicht oder nicht zeitnah erfasste;

b./ Jahresabschlüsse, zu deren Erstellung sie verpflichtet gewesen wäre, zu erstellen unterließ;

III./1./ eine falsche Urkunde mit dem Vorsatz hergestellt, dass sie im Rechtsverkehr zum Beweis eines Rechts, eines Rechtsverhältnisses oder einer Tatsache gebraucht werde, indem sie die Unterschrift des R***** auf folgenden Dokumenten fälschte:

a./ am 20. Dezember 2010 auf einem Schreiben an das Finanzamt St. Pölten (US 7);

b./ Anfang Jänner 2010 auf einem Ansuchen um Zahlungserleichterung an das Finanzamt Lilienfeld‑St. Pölten (US 7).

Der auf § 281 Abs 1 Z 7 StPO gestützten Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft kommt – wie auch die Generalprokuratur zutreffend ausführt – Berechtigung zu.

Mit Anklageschrift vom 17. August 2017 (ON 104) wurde Heidelinde T***** zu III./1./ zur Last gelegt, sie habe „zumindest am 3. 10. 2011 eine falsche Urkunde im Rechtsverkehr zum Beweis eines Rechtes, eines Rechtsverhältnisses oder einer Tatsache gebraucht, indem sie ihrem Bankbetreuer H***** den mit einer gefälschten Unterschrift des R***** versehenen Kontokorrentkreditvertrag übergab“ (ON 104 S 3), „und dadurch das Vergehen der Urkundenfälschung nach § 223 Abs 2 StGB begangen“ (ON 104 S 5).

Nach Vernehmung des Zeugen Andreas H***** (ON 118 S 14 ff) wurde die Anklageschrift von der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung am 4. Dezember 2017 unter gleichzeitigem „Entfall“ des Anklagefaktums III./1./ dahingehend „modifiziert und ausgedehnt“, die Angeklagte habe „IV./“ „am 3. 10. 2011 mit dem Vorsatz, durch das Verhalten Verfügungsberechtigter der Ra***** sich oder einen Dritten unrechtmäßig zu bereichern, durch Täuschung über Tatsachen und unter Verwendung einer gefälschten Urkunde zu einer Handlung verleitet [...], die diese in einem noch festzustellenden Betrag am Vermögen schädigte, indem sie einen Kontokorrentkreditvertrag mit einer gefälschten Unterschrift des R***** ihrem Bankbetreuer gegenüber vorlegte, wodurch es zur Lukrierung weiterer Mittel kam“, und dieser Sachverhalt dem „Verbrechen des schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 2 StGB“ subsumiert (ON 118 S 21).

Hinsichtlich dieses „ausgedehnten“ Faktums wurde der Staatsanwaltschaft die selbstständige Verfolgung gemäß „§ 263 StPO“ vorbehalten (ON 118 S 25).

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Ein Vorbehalt der selbständigen Verfolgung gemäß § 263 Abs 2 StPO kommt nur dann in Betracht, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung einer weiteren Tat im prozessualen Sinn, also einer von der verhandelten Anklage nicht erfassten Tat beschuldigt wird (Lewisch, WK‑StPO § 263 Rz 10, 23 f).

Die Tat im prozessualen Sinn bezeichnet den in der Anklage umschriebenen Lebenssachverhalt. Für die Abgrenzung dieses historischen Geschehens ist dessen materiell-rechtliche Kategorisierung oder gar Subsumtion grundsätzlich unbeachtlich (RIS‑Justiz RS0098487, RS0102147; Lewisch, WK‑StPO § 262 Rz 22; vgl auch Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 502).

Ob Anklage und Urteil dieselbe Tat im prozessualen Sinn (§ 267 StPO) betreffen, ergibt sich aus einer wertungsmäßigen Gesamtschau der (typologischen) Einzelkriterien Zeit, Ort und Objekt der Tat, Modalität der Ausführung und vom Täter ins Auge gefasster strafgesetzwidriger Erfolg (RIS‑Justiz RS0124106; 11 Os 5/16v; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 8.138; Lewisch, WK‑StPO § 262 Rz 32 ff; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 512).

Wie die Beschwerdeführerin zutreffend aufzeigt, betrifft das in der Anklageschrift enthaltene Faktum III./1./– unter Anlegung der dargelegten Kriterien – dieselbe Tat im prozessualen Sinn wie das in der Hauptverhandlung am 4. Dezember 2017 „modifizierte und ausgedehnte“ Faktum IV./. Indem die Staatsanwaltschaft die unter Anklage gestellte Tat lediglich rechtlich anders qualifizierte, nahm sie eine bloße (prozessual nicht erforderliche) Modifikation der Anklage vor (vgl Danek/Mann, WK‑StPO § 227 Rz 8).

Mangels Vorliegens einer Anklageausdehnung im Sinn des § 263 StPO waren die Voraussetzungen für den Ausspruch eines Verfolgungsvorbehalts nicht gegeben (vgl Lewisch, WK‑StPO § 263 Rz 98), sodass die Anklage im Punkt IV./, der denselben Lebenssachverhalt umfasst wie das ursprüngliche Anklagefaktum III./1./, unerledigt blieb.

Anzumerken bleibt, dass die Einstellung des Verfahrens gegen Heidelinde T***** „wegen §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 2 StGB (Teileinstellung V*****) gemäß § 190 Z 2 StPO“ (ON 1 S 27) bei gleichzeitiger Anklage der Tat unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt (§ 223 Abs 1 StGB; ON 1 S 27 iVm ON 104 S 3) keine Wirkung entfaltete und solcherart kein Verfolgungshindernis darstellt (Schroll/Schillhammer, Rechtsmittel im Strafverfahren Rz 253). Gleiches gilt für die unter gleichzeitiger Modifikation „und Ausdehnung“ der Anklageschrift hinsichtlich IV./ abgegebene Erklärung der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft, wonach „Punkt III./1./ entfällt“ (ON 118 S 21). Denn dieses (rechtlich verfehlte) Vorgehen der Staatsanwaltschaft zieht deren grundsätzlichen Verfolgungswillen nicht in Zweifel (RIS‑Justiz RS0097010; Nordmeyer, WK‑StPO § 190 Rz 18 f; Lewisch, WK‑StPO § 262 Rz 10 f).

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde war daher dem Erstgericht gemäß § 288 Abs 2 Z 2 StPO der Auftrag zu erteilen, sich der Verhandlung und Entscheidung über den unerledigt gebliebenen Anklagepunkt zu unterziehen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

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