OGH 15Os110/17s

OGH15Os110/17s19.9.2017

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. September 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Wetter als Schriftführer in der Strafsache gegen Shafiqullah N***** und andere Angeklagte wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs 1 StGB, AZ 24 Hv 4/16v des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die Grundrechtsbeschwerde des Shafiqullah N***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 8. März 2017, AZ 10 Bs 65/17k (ON 107 der Hv‑Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0150OS00110.17S.0919.000

 

Spruch:

 

Shafiqullah N***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.

 

Gründe:

Mit auch unbekämpfte Schuldsprüche anderer Angeklagter enthaltendem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 14. Februar 2017, GZ 24 Hv 4/16v‑90, wurde Shafiqullah N***** des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs 1 StGB schuldig erkannt und – unter Anrechnung von Vorhaftzeiten vom 5. September 2016 bis zum Urteilszeitpunkt – zu einer Freiheitsstrafe von vierundzwanzig Monaten verurteilt, wobei gemäß § 43a Abs 3 StGB ein Teil der Freiheitsstrafe von sechzehn Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

Weiters fasste das erkennende Gericht auf Grundlage des § 265 StPO den Beschluss, für den Fall der Rechtskraft des Urteils die bedingte Entlassung des Genannten nach Verbüßung von mehr als der Hälfte der Freiheitsstrafe (erkennbar gemeint: des unbedingten Strafteils) abzulehnen.

Gegen diese Entscheidungen des Erstgerichts meldete ausschließlich der Angeklagte Rechtsmittel an (ON 94).

Aus Anlass eines vom Angeklagten am 17. Februar 2017 eingebrachten Antrags auf Aufhebung der Untersuchungshaft (ON 95) setzte das Landesgericht für Strafsachen Graz mit Beschluss vom 23. Februar 2017 die am 7. September 2016 verhängte (ON 11) – und danach wiederholt prolongierte (ON 32, 71) – Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht‑ und der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 und Z 3 lit a StPO fort (ON 100).

Der dagegen gerichteten Beschwerde des Angeklagten (ON 99) gab das Oberlandesgericht Graz mit Beschluss vom 8. März 2017, AZ 10 Bs 65/17k (ON 107), nicht Folge und setzte die Untersuchungshaft aus den vom Erstgericht angenommenen Haftgründen fort.

Hinsichtlich des dringenden Tatverdachts verwies das Beschwerdegericht auf den in erster Instanz ergangenen Schuldspruch, wonach Shafiqullah N***** im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit Sohrab P***** als Mittäter am 5. September 2016 in G***** Ahmad B***** absichtlich eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs 1 StGB) zuzufügen versuchte, indem P***** diesem einen Tritt versetzte und mit einer Glasbierflasche auf den Kopf schlug, wodurch B***** stürzte, und N***** und P***** anschließend mehrmals mit den Fäusten und Füßen heftig gegen dessen Kopf und Körper schlugen und traten, wobei es mangels Eintritts einer schweren Körperverletzung (Schädel‑Hirn‑Trauma 1. Grades, Rissquetschwunden am Kopf, Wunde an der Oberlippe, Prellungen) beim Versuch blieb (ON 90; BS 2).

Im Hinblick auf das Maß des vom Erstgericht (damals noch nicht rechtskräftig) verhängten unbedingten Teils der Freiheitsstrafe von acht Monaten sah es die Dauer der Untersuchungshaft im Zeitpunkt seiner Beschlussfassung als verhältnismäßig an (BS 5).

Unmittelbar nach Zurückziehung der gegen das Urteil und den damit verbundenen Beschluss gerichteten Rechtsmittel (ON 94) durch Shafiqullah N***** am 3. April 2017 wurde dieser noch vor Übernahme in den Strafvollzug von der Vorsitzenden des Schöffengerichts in analoger Anwendung des § 265 StPO aus dem unbedingten Strafteil der (nunmehr rechtskräftigen) teilbedingten Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt entlassen und umgehend enthaftet (ON 116 S 3; ON 118).

Rechtliche Beurteilung

Gegen den noch vor seiner Enthaftung ergangenen Beschluss des Oberlandesgerichts vom 8. März 2017 richtet sich die rechtzeitige, dem Obersten Gerichtshof erst im August 2017 vorgelegte Grundrechtsbeschwerde des Angeklagten (ON 114), der keine Berechtigung zukommt:

Die rechtliche Annahme der von § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren kann im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens nur dahin überprüft werden, ob sie aus den vom Beschwerdegericht angeführten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durften, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich angesehen werden müsste (RIS‑Justiz RS0117806).

In der (auch aktenmäßig belegten) Annahme, aufgrund einer erst mäßigen sozialen Integration des Angeklagten, eines seit zwei Jahren als Asylwerber in Österreich aufhältigen afghanischen Staatsangehörigen, und seiner durch das Nachtatverhalten zum Ausdruck gebrachten Fluchtbereitschaft (BS 3) bestehe im Zusammenhalt mit dem ihm drohenden Vollzug der (restlichen) Freiheitsstrafe die Gefahr, er werde flüchten oder sich verborgen halten, ist keine willkürlich begründete Prognose zu erblicken (RIS‑Justiz RS0117806 [T8]). Die bei dieser Prognose unterbliebene Erwägung von aus Sicht des Beschwerdeführers erörterungsbedürftigen Umständen kann nicht als Grundrechtsverletzung vorgeworfen werden (RIS‑Justiz RS0117806 [T11 und T28], RS0120458).

Mit Blick auf die nicht mit Erfolg in Frage gestellte Annahme der Fluchtgefahr erübrigt sich ein Eingehen auf das gegen die Annahme der Tatbegehungsgefahr (§ 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO) gerichtete Vorbringen (RIS‑Justiz RS0061196).

Angemerkt sei dazu jedoch, dass das Oberlandesgericht die Anlasstat ungeachtet des Umstands, dass diese beim Versuch geblieben ist und nur eine leichte Körperverletzung des Tatopfers bewirkte, zu Recht als solche mit schweren Folgen (§ 173 Abs 2 Z 3 lit a StPO) beurteilt hat (RIS‑Justiz RS0106663; Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 173 Rz 43).

Entgegen der Beschwerdeauffassung ist die allfällige Möglichkeit einer bedingten Entlassung für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft ohne Bedeutung, sondern ist allein auf die Bedeutung der Sache und die zu erwartende Strafe abzustellen (RIS‑Justiz RS0118876, RS0123343; Jerabek in WK2 StGB § 46 Rz 28; Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 173 Rz 14). Dass die bis zum Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung knapp über sechs Monate währende Untersuchungshaft – wie vom Beschwerdegericht dargelegt (BS 5) – angesichts der im Urteil erster Instanz verhängten Freiheitsstrafe von vierundzwanzig Monaten (davon acht Monate unbedingt) und der Bedeutung der dem Beschwerdeführer konkret zur Last liegenden strafbaren Handlung nicht unangemessen sei, ist vertretbar (RIS‑Justiz RS0120790).

Die in der Grundrechtsbeschwerde der Sache nach vorgebrachte Kritik am Unterbleiben einer bedingten Entlassung des Beschwerdeführers vor Rechtskraft des ausschließlich von ihm bekämpften Urteils erster Instanz bleibt ohne Bezug zur angefochtenen Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Fortsetzung der Untersuchungshaft.

Im Übrigen ist zur Vermeidung einer Benachteiligung von Angeklagten, die das gegen sie ergangene Urteil bekämpfen, gegenüber solchen, die auf Urteilsanfechtung verzichten, zwar in analoger Anwendung des § 265 StPO die bedingte Entlassung durch das Erkenntnisgericht (mit Wirkung für den Fall der Rechtskraft des Urteils) auch vor Rechtskraft des Strafausspruchs (§ 260 Abs 1 Z 3 StPO) zulässig (RIS‑Justiz RS0116527; EvBl 2006/39; Mayerhofer StPO5 Anm 2 zu § 265; Jerabek in WK2 StGB § 46 Rz 26; Schwingenschuh in Schmölzer/Mühlbacher StPO2 § 265 Rz 11 ff; aM Nimmervoll, Jst 2011, 55 ff). Allfällige (amtswegig oder über Antrag getroffene) Entscheidungen, die über die Frage (vorzeitiger) bedingter Entlassung absprechen, sind jedoch von vornherein nicht Gegenstand des Verfahrens über Grundrechtsbeschwerden, weil sie der Sache nach die Dauer des Vollzugs von Freiheitsstrafen betreffen (§ 1 Abs 2 GRBG; RIS‑Justiz RS0061089; 15 Os 78/12b).

Dass zwischen 14. Februar 2017 (ON 90) und 3. April 2017 (ON 116) eine Beschlussfassung über die Frage (vorzeitiger) bedingter Entlassung gemäß § 265 StPO (analog) verabsäumt worden wäre, wurde vom Beschwerdeführer, der ausschließlich die Fortsetzung der Untersuchungshaft bekämpfte (vgl ON 95, 98, 99, 100), im Übrigen nicht zum Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung gemacht (§ 91 GOG).

Soweit er unter Berufung auf eine „verspätete“ Ausfertigung des Haftfortsetzungsbeschlusses (Zustellung erst nach Ablauf der Beschwerdefrist) durch das Erstgericht eine Verletzung von Art 6 Abs 1 (iVm Art 5 [vgl 11 Os 9/13b]) MRK behauptet, weil ihm eine (allerdings nicht näher konkretisierte) „entsprechende Rechtsmittelausführung“ nicht möglich gewesen sei, genügt schon der Hinweis darauf, dass dieser Umstand im Beschwerdeverfahren (ON 99) nicht gerügt, der erforderliche Instanzenzug somit nicht ausgeschöpft wurde (Kirchbacher/Rami, WK‑StPO Vor §§ 170–189 Rz 24, 24/1, 24/2 und § 176 Rz 10 jeweils mwN).

Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen (§§ 9 Abs 2, 177 Abs 1 StPO) durch eine strafgerichtliche Entscheidung oder Verfügung (§ 1 Abs 1 GRBG) wird mit der bloßen Kritik an der Nichtaufnahme von Beweisen (durch die Kriminalpolizei) im – von der Staatsanwaltschaft geleiteten (§ 101 Abs 1 erster Satz StPO) – Ermittlungsverfahren nicht geltend gemacht. Dass es das Oberlandesgericht verabsäumt hätte, in seiner nach dem Urteil erster Instanz ergangenen Haftentscheidung ihm mögliche Abhilfe (vgl dazu BS 5) gegen die angeblichen Verzögerungen zu schaffen (RIS‑Justiz RS0124006 [T7], RS0121792; vgl Kier, WK‑StPO § 9 Rz 54 f; Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 177 Rz 6), wird nicht einmal behauptet.

Der Beschwerdeführer wurde durch den angefochtenen Beschluss daher nicht im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Die Grundrechtsbeschwerde war somit ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.

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