OGH 7Ob86/17y

OGH7Ob86/17y5.7.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofräte und Hofrätinnen Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J***** H*****, vertreten durch Dr. Gerhard Rößler, Rechtsanwalt in Zwettl, gegen die beklagte Partei W*****‑AG, *****, vertreten durch Musey rechtsanwalt gmbh in Salzburg, wegen 23.000 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 17. Februar 2017, GZ 1 R 196/16z‑33, womit das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau vom 31. August 2016, GZ 33 Cg 7/16m‑29, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0070OB00086.17Y.0705.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 833,88 EUR (darin enthalten 138,98 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

Zwischen den Streitteilen besteht ein Unfallversicherungsvertrag, dem die „Bedingungen für die Unfallversicherung“ (UVB 2009) zugrunde liegen, deren wesentliche Bedingungen wie folgt lauten:

Abschnitt A: Versicherungsschutz

Artikel A.1

Gegenstand der Versicherung

Der Versicherer bietet Versicherungsschutz, wenn dem Versicherten ein Unfall (Art A.6) zustößt.

[...]

Artikel A.6

Begriff des Unfalles

1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine körperliche Gesundheitsschädigung oder den Tod erleidet.

[...]

Abschnitt C: Begrenzungen des Versicherungsschutzes

[…]

Artikel C.2

Sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes

[...]

5. Für Bandscheibenvorfälle wird eine Leistung nur erbracht, wenn sie durch direkte mechanische Einwirkung auf die Wirbelsäule entstanden sind und es sich nicht um eine Verschlimmerung von vor dem Unfall bestandenen Krankheitserscheinungen handelt.

Der Kläger rutschte am 10. 8. 2014 während eines Arbeitsvorgangs, bei dem er zwei schwere Gewichte trug, beim Umdrehen aus und fiel auf den Rücken. Am 24. 11. 2014 rutschte er im Zuge von Waldarbeiten trotz festen Schuhwerks auf dem nassen Waldboden beim Anheben eines Baumstamms aus und kam dabei zu Sturz.

Der Kläger litt bereits vor den Unfällen an einer degenerativen Vorschädigung der Bandscheiben. Er hatte immer wieder und zeitweise auftretende Rückenbeschwerden. Der Bandscheibenraum L5/S1 war verschmälert. Die Bandscheibe war bereits schwer abnützungsbedingt verändert, verursachte jedoch bis dahin keine wesentlichen Beschwerden. Diese Vorschädigung geht über eine rein altersbedingte Abnützungserscheinung weit hinaus.

Aufgrund des Vorfalls am 10. 8. 2014 erlitt der Kläger eine Zerrung der Lendenwirbelsäule. Bei diesem Vorfall wurde erstmalig der schwere Vorschaden an der Bandscheibe L5/S1 manifest. Beim Unfall am 24. 11. 2014 kam es zum endgültigen Bandscheibenvorfall mit Bedrängung der Nervenwurzel L5/S1 links mit entsprechenden neurologischen Symptomen. Die Unfälle haben die schwerstens degenerativ vorgeschädigte Bandscheibe L5/S1 verschoben und zu den Beschwerden des Klägers geführt. Nach einer Operation am 28. 11. 2014 sowie Rehabilitation hat der Kläger noch ausstrahlende Beschwerden in die linke untere Extremität. Er hat neurologische Ausfälle an der Wirbelsäule in Form von Gefühlsstörungen im Ober‑ und Unterschenkelbereich. Die Beschwerden des Klägers sind auf Degeneration zurückzuführen.

Der Kläger begehrte die Zahlung von 23.000 EUR sA (18.000 EUR an Invaliditätsentschädigung, 1.800 EUR Spitalstagegeld, 1.200 EUR Unfalltagegeld, 2.000 EUR Unfallpauschale). Vor den beiden Unfällen habe er keine Beschwerden gehabt. Nunmehr bestehe eine Invalidität von 20 %, die allein auf die beiden Unfälle zurückzuführen sei. Die Bestimmung des Art C.2.5 UVB 2009 sei überraschend und gröblich benachteiligend. Die gröbliche Benachteiligung ergebe sich daraus, dass eine sachlich nicht gerechtfertigte Einschränkung der Leistungspflicht der Unfallversicherung vereinbart worden sei. Im Bereich der privaten Unfallversicherung sei grundsätzlich jeder Unfall mit seinen konkreten Folgen getrennt zu beurteilen und abzurechnen. Ob die Vorinvalidität auch bereits auf einem leistungspflichtigen Unfall beruht habe oder auf einer sonstigen Krankheit, sei unerheblich. Es sei keine sachliche Rechtfertigung zu erkennen, warum bei Erkrankungen der Wirbelsäule bei Vorschädigungen generell keine Leistung durch den Versicherer erfolgen solle.

Die Beklagte beantragte die Klagsabweisung. Es liege kein Versicherungsfall vor. Für Bandscheibenvorfälle sei es nach den vereinbarten UVB 2009 erforderlich, dass sie durch eine direkte mechanische Einwirkung von außen entstanden seien und es dürfe sich nicht um eine Verschlimmerung von vorbestehenden Krankheits-erscheinungen handeln. Die beiden Vorfälle seien für die Probleme des Klägers nicht kausal, vielmehr seien sie Ausdruck einer fortgeschrittenen degenerativen Bandscheibenerkrankung; jedenfalls handle es sich um eine Verschlimmerung von vorbestehenden Krankheiten, nämlich einer anlagebedingten Bandscheibenschädigung.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Artikel C.2.5 UVB 2009 sei weder gröblich benachteiligend noch überraschend.

Das Berufungsgericht gab der gegen die Abweisung des Klagebegehrens im Umfang von 9.500 EUR sA gerichteten Berufung des Klägers keine Folge. Bei beiden Vorfällen habe der Kläger schwere Gegenstände gehoben. Es liege auf der Hand, dass sich die (potentielle) Energie der Gegenstände auf den Rücken und damit die Bandscheiben des Klägers übertragen habe. Die Schädigung der Wirbelsäule des Klägers sei daher durch eine direkte mechanische Einwirkung auf die Wirbelsäule entstanden. Bei den durch die beiden Unfälle hervorgerufenen Beschwerden des Klägers handle es sich aber um eine „Verschlimmerung“ von vor dem Unfall bestandenen Krankheitserscheinungen, weshalb nach Art C.2.5 UVB 2009 die Leistungspflicht der Beklagten ausgeschlossen sei. Die Klausel sei nicht überraschend nach § 864a ABGB, sie sei auch nicht gröblich benachteiligend iSd § 879 Abs 3 ABGB. Da der Zweck der Klausel die Sicherstellung der Verbindung zwischen Unfallereignis und „reiner Unfallfolge“ sei, könne ihr die sachliche Rechtfertigung nicht aberkannt werden.

Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil es an höchstgerichtlicher Rechtsprechung zur – als solche typischen – Klausel des Art C.2.5 UVB 2009 aus der Sicht der Vorschriften der §§ 864a und 879 Abs 3 ABGB mangle.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Klägers mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte begehrt, die Revision zurückzuweisen; hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, sie ist aber nicht berechtigt.

1.1 Der Oberste Gerichtshof hatte nahezu wortgleiche Versicherungsbedingungen bereits zu beurteilen: So legte er den Begriff „direkte mechanische Einwirkung auf die Wirbelsäule“ dahin aus, dass damit jedes Ereignis zu verstehen sei, das plötzlich von außen unmittelbar die Wirbelsäule beeinflusst, wobei ein Direktkontakt der Wirbelsäule mit einem festen Körper nicht vorausgesetzt ist (7 Ob 4/93 [Art 18 AUVB 1988]). In der Entscheidung 7 Ob 135/09t [Art 21 U500] führte der Oberste Gerichtshof aus, dass ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer unter dem Begriff „Krankheitserscheinungen“ zwanglos jedenfalls (auch) die degenerativen Veränderungen der Bandscheiben verstehe, die über das normale altersbedingte Ausmaß hinausgehen. Es bestehe dadurch ein von der Norm abweichender Zustand, der grundsätzlich Beschwerden verursache und damit im Alltag als krankhaft bezeichnet werde. Ob der Einzelne die degenerativen Veränderungen auch tatsächlich schmerzhaft wahrnehme und für behandlungsbedürftig halte, sei dabei nicht von Bedeutung (vgl auch 7 Ob 150/11a [Art 18.5 AUVB 1999]; RIS‑Justiz RS0125367).

1.2 Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung und dem festgestellten Sachverhalt bejahte das Berufungsgericht zutreffend eine direkte mechanische Einwirkung auf die Wirbelsäule, aber auch die Verschlimmerung der bereits vor dem Unfall bestehenden Krankheitserscheinungen. Folgerichtig verneinte es – ausgehend von der Bedingungslage – die Deckungspflicht der Beklagten, wogegen sich die Revision des Klägers nicht wendet.

2. Der Kläger hält aber seine Argumentation aufrecht, dass die Bedingung überraschend nach § 864a ABGB und gröblich benachteiligend nach § 879 Abs 3 ABGB sei.

2.1 Nach der der Inhaltskontrolle vorangehenden (RIS‑Justiz RS0037089) Geltungskontrolle nach § 864a ABGB werden Bestimmungen ungewöhnlichen Inhalts in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder in Vertragsformblättern, die ein Vertragsteil verwendet, nicht Vertragsbestandteil, wenn sie für den anderen Teil nachteilig sind und er mit ihnen nach den Umständen, vor allem nach dem äußeren Erscheinungsbild der Urkunde nicht zu rechnen brauchte, es sei denn, der eine Vertragsteil hätte den anderen besonders darauf hingewiesen. Verstößt eine Vertragsbestimmung gegen diese Vorschrift, so gilt der Vertrag ohne sie.

Objektiv ungewöhnlich ist nur eine Klausel, die von den Erwartungen des Vertragspartners deutlich abweicht, mit der sie also nach den Umständen vernünftigerweise nicht zu rechnen brauchte. Der Klausel muss ein Überraschungs‑ und Übertölpelungseffekt innewohnen. Insbesondere dann, wenn nur ein beschränkter Adressatenkreis angesprochen wird, kommt es auf die Branchenüblichkeit und den Erwartungshorizont der angesprochenen Kreise an (RIS‑Justiz RS0014646). Die Ungewöhnlichkeit eines Inhalts ist nach dem Gesetzestext objektiv zu verstehen. Die Subsumtion hat sich an der Verkehrsüblichkeit beim betreffenden Geschäftstyp zu orientieren. Ein Abstellen auf subjektive Erwartungen gerade für den anderen Teil ist daher ausgeschlossen (RIS‑Justiz RS0014627).

2.2 Jedem Versicherungsnehmer muss das Wissen zugemutet werden, dass gewisse Begrenzungsnormen einem Unfallversicherungsvertrag zugrunde liegen. Dem Versicherer steht es frei, bestimmte Risiken vom Versicherungsschutz auszunehmen. Voraussetzung ist, dass dies für den Versicherungsnehmer klar erkennbar geschieht (7 Ob 63/07a; vgl RIS‑Justiz RS0016777). Der durchschnittliche Versicherungsnehmer hat daher grundsätzlich mit Risikoausschlüssen und -einschränkungen zu rechnen (7 Ob 63/07a).

2.3 Bandscheibenschädigungen als Gesundheits-schädigungen sind grundsätzlich dem Krankheitsbereich und damit der Krankenversicherung zuzurechnen. Sie entstehen auch ohne äußere Einwirkung aufgrund schicksalhafter oder anlagebedingter Abnützungserscheinungen oder degenerativer Vorgänge im Körper ( Grimm , Unfallversicherung AUB 2010 [2013] Rn 65). Zahlreiche Unfallversicherungsbedingungen – wie auch die Musterbedingungen – schließen deshalb bestimmte Bandscheibenschäden vom Versicherungsschutz aus.

Dass der Unfallversicherer gegenüber degenerativen Veränderungen Abgrenzungen des Deckungsschutzes vornimmt, ist für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer nicht unerwartet. Die gegenständliche Begrenzung ist daher weder objektiv ungewöhnlich noch ist sie im Text „versteckt“. Ein durchschnittlich sorgfältiger Leser kann sie schon im Hinblick auf die Überschrift zu Art C.2 „Sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes“ dort finden, wo sie zu vermuten ist.

2.4 Nach § 879 Abs 3 ABGB ist eine in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder Vertragsformblättern enthaltene Vertragsbestimmung, die nicht eine der beiderseitigen Hauptleistungen festlegt, jedenfalls nichtig, wenn sie unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls einen Teil gröblich benachteiligt. § 879 Abs 3 ABGB geht von einem sehr engen Begriff der „Hauptleistung“ aus. Für Versicherungsverträge gibt es den Kernbereich der Leistungsumschreibung, der kontrollfrei ist. Kontrollfrei ist in Allgemeinen Versicherungsbedingungen jedenfalls die Festlegung der Versicherungsart und die Prämienhöhe. Im Übrigen ist die Leistungsbeschreibung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Inhaltskontrolle zugänglich, ohne dass es darauf ankäme, ob es sich um die Stufe der primären Umschreibung der versicherten Gefahr oder um Risikoausschlüsse handelt. Kontrollmaßstab für die Leistungsbeschreibung außerhalb des Kernbereichs sind die berechtigten Deckungserwartungen des Versicherungsnehmers (RIS‑Justiz RS0128209).

Bei der Beurteilung, ob eine in Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder in einem Vertragsformblatt enthaltene Bestimmung eine „gröbliche“ Benachteiligung eines Vertragspartners bewirkt, hat sich der Rechtsanwender am dispositiven Recht als Leitbild eines ausgewogenen und gerechten Interessenausgleichs zu orientieren (RIS‑Justiz RS0014676 [T7, T43]). Nach ständiger Rechtsprechung können Abweichungen vom dispositiven Recht unter Umständen schon dann eine gröbliche Benachteiligung sein, wenn sich dafür keine sachliche Rechtfertigung ins Treffen führen lässt. Das ist jedenfalls dann anzunehmen, wenn die dem Vertragspartner zugedachte Rechtsposition in einem auffallenden Missverhältnis zur vergleichbaren Rechtsposition des anderen steht (RIS‑Justiz RS0014676 [T21]; RS0016914 [T2, T4, T6, T32]). Bei der Angemessenheitsprüfung nach § 879 Abs 3 ABGB ist objektiv auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzustellen. Für diesen Zeitpunkt ist eine umfassende, die Umstände des Einzelfalls berücksichtigende Interessenprüfung vorzunehmen (RIS‑Justiz RS0016913 [T7, T8]).

Entgegen der vom Kläger vertretenen Ansicht liegt im hier zu beurteilenden Fall keine gröbliche Benachteiligung iSd § 879 Abs 3 ABGB vor. Zum einen besteht keine dispositive Regelung, an der man sich in dieser Hinsicht orientieren könnte. Zum anderen erfolgt der Ausschluss von Bandscheibenschäden vom Versicherungsschutz, um in diesem Bereich typischerweise auftretenden Abgrenzungsproblemen von Unfallfolgen zu degenerativen und anlagebedingten Vorschädigungen von vornherein zu begegnen (vgl Palten , Unfall oder nicht Unfall – das ist hier die Frage! Unfallbegriff und Unfallbeweis im [Zerr‑]Spiegel der österreichischen Judikatur VersRdSch 2012, 32 [34] vgl zur deutschen Bedingungslage Jacob , Unfallversicherung AUB 2010 Ziff 5.2.1 Rn 1). Vor diesem Hintergrund führt es auch nicht zu einer unsachlichen Benachteiligung des Versicherungsnehmers, dass der Unfallversicherer Bandscheibenvorfälle, die eine Verschlimmerung schon bestehender Krankheitserscheinungen – und somit einer der Krankenversicherung zuzuordnenden Gesundheitsschädigung – darstellen, vom Versicherungsschutz ausnimmt.

3. Der Revision war der Erfolg zu versagen. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.

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