European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0030OB00050.17Z.0329.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
Im Herbst 2015 regte zunächst das Bezirksgericht Klosterneuburg aus Anlass eines dort anhängigen Zivilverfahrens (ON 51) und in der Folge auch der im beim Bezirksgericht Tulln anhängigen Verlassenschaftsverfahren nach dem Vater des Betroffenen bestellte Verlassenschaftskurator (ON 63) die Einleitung eines Sachwalterschaftsverfahrens an. Nach Übertragung der Zuständigkeit zur Führung dieses Verfahrens gemäß § 111 JN an das Bezirksgericht Tulln lud die dort zuständige Richterin den Betroffenen für den 14. Jänner 2016 zur Erstanhörung. Als der Betroffene am 7. Jänner 2016 zu Gericht kam, um in den Verlassenschaftsakt Einsicht zu nehmen, führte sie die Erstanhörung jedoch sogleich durch (ON 67). In der Folge übertrug das Bezirksgericht Tulln die Zuständigkeit für das Verfahren infolge neuerlichen Wohnsitzwechsels des Betroffenen an das Erstgericht (ON 2).
Am 11. Februar 2016 erhielt die Erstrichterin von für das Verlassenschaftsverfahren zuständigen Richterin des Bezirksgerichts Tulln die telefonische Information, dass der Betroffene in jenem Verfahren zahllose widersprüchliche Eingaben mache und sich weigere, einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung zu beauftragen, weshalb die Abwicklung des Verlassenschaftsverfahrens nicht möglich sei. Es sei deshalb erforderlich, dass für ihn ein Rechtsanwalt zum Sachwalter insbesondere zur Vertretung im Verlassenschaftsverfahren bestellt werde (ON 79). Die Erstrichterin widerrief daraufhin den von ihr bereits erteilten Clearingauftrag und versuchte noch am selben Tag, mit dem Betroffenen telefonisch den 16. Februar 2016 als Termin für die Erstanhörung zu vereinbaren. Dies gelang ihr jedoch nicht, weil der Betroffene darauf bestand, zuvor Einsicht in den Akt zu erhalten und außerdem im Vorhinein über die Fragen informiert zu werden, welche die Erstrichterin ihm im Rahmen der Erstanhörung stellen wolle (ON 81). Bei einem weiteren Telefonat mit dem Betroffenen am 12. Februar 2016 wies ihn die Erstrichterin darauf hin, dass er Akteneinsicht nehmen könne, allerdings nicht, wie von ihm gewünscht, irgendwann während der Amtsstunden, sondern nur während der Parteienverkehrszeiten. Sie sei gesetzlich verpflichtet, eine Erstanhörung durchzuführen. Der Betroffene kündigte damals an, er werde sich zwecks Terminvereinbarung wieder melden. Dazu kam es jedoch nicht. Vielmehr teilte er der Erstrichterin mit Schreiben vom 13. Februar 2016 mit, dass er derzeit einschneidende existenzielle Probleme habe, die eine „Verfahrensflut“ absehbar machten, und sich dem Sachwalterschaftsverfahren deshalb „nur am Rande zuwenden“ könne (ON 83).
Die Erstrichterin teilte dem Betroffenen daraufhin mit Note vom 15. Februar 2016 mit, dass sie ihn bereits zweimal erfolglos aufgefordert habe, zu einem persönlichen Gespräch zu Gericht zu kommen. Da bereits vor dem Bezirksgericht Tulln eine Erstanhörung stattgefunden habe und eine weitere vom Gesetz nicht verpflichtend vorgesehen sei, beabsichtige sie, ihm unter Abstandnahme von einem persönlichen Gespräch einen Verfahrenssachwalter für die Fortsetzung des Verfahrens zu bestellen. Sofern er nicht binnen fünf Tagen eine selbst gewählte geeignete Person namhaft mache, werde ein vom Gericht bestimmter Rechtsanwalt zum Verfahrenssachwalter bestellt werden (ON 84). Auf diese Aufforderung reagierte der Betroffene nicht.
Das Erstgericht setzte daraufhin das Verfahren zur Prüfung der Notwendigkeit der Bestellung eines Sachwalters fort, bestellte einen Notar zum Verfahrenssachwalter und beauftragte einen psychiatrischen Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens zu den Voraussetzungen für die Sachwalterbestellung. Nach den Ergebnissen des bisherigen Verfahrens sei nicht auszuschließen, dass der Betroffene seine Angelegenheiten nicht ohne Nachteil für sich selbst besorgen könne.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Betroffenen gegen die Fortsetzung des Verfahrens und die Bestellung des Verfahrenssachwalters nicht Folge; den gegen die Bestellung des Sachverständigen erhobenen Rekurs wies es als unzulässig zurück. Nach der Aktenlage lägen begründete Anhaltspunkte für die Notwendigkeit der Einleitung eines Sachwalterschaftsverfahrens vor. Die von der Richterin des Bezirksgerichts Tulln vorgenommene Erstanhörung sei durch die Bestimmung des § 118 Abs 3 AußStrG gedeckt.
Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zu.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs des Betroffenen, mit dem er in erster Linie geltend macht, dass durch das Unterbleiben einer Erstanhörung durch die Erstrichterin sein rechtliches Gehör verletzt worden sei, ist wegen einer vom Obersten Gerichtshof aufzugreifenden Fehlbeurteilung der Vorinstanzen zulässig und berechtigt.
1. Die Verneinung der Verletzung des rechtlichen Gehörs des Betroffenen durch das Rekursgericht macht die neuerliche Geltendmachung dieses Verfahrensmangels in dritter Instanz nicht unzulässig (RIS‑Justiz RS0121265).
2. Gemäß § 118 Abs 1 AußStrG hat sich der Richter einen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu verschaffen. Das Sachwalterschaftsbestellungsverfahren ist von den Grundsätzen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit beherrscht; es ist wichtig, dass sich der Richter, der die Entscheidung zu treffen hat, ein persönliches Bild vom Betroffenen macht (1 Ob 305/98d, 10 Ob 102/08k und 7 Ob 118/09t, je mwN; vgl auch 7 Nc 5/07f; RIS‑Justiz RS0124580; Schauer in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG § 118 Rz 12 mwN). Die Erstanhörung hat deshalb ausschließlich durch den nach der Geschäftsverteilung für die Entscheidung zuständigen Richter zu erfolgen und nicht etwa durch Rechtspraktikanten, Richteramtsanwärter, Rechts-pfleger, Sachverständige oder eine Verwaltungsbehörde (1 Ob 305/98d mwN = RIS‑Justiz RS0111131). Auch im vorliegenden Fall ist deshalb die Vornahme der (neuerlichen) Erstanhörung durch die nun zuständige Erstrichterin unabdingbar.
3. Der Auffassung des Rekursgerichts, die von der seinerzeit zuständigen Richterin vorgenommene Erstanhörung sei „durch § 118 Abs 3 AußStrG gedeckt“, ist nicht zu folgen.
3.1. Nach dieser Bestimmung darf die Erstanhörung unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich (nur) dann, wenn sich das Gericht wegen unverhältnismäßiger Schwierigkeiten oder Kosten keinen persönlichen Eindruck von der betroffenen Person verschaffen kann, im Weg der Rechtshilfe erfolgen.
3.2. Wie der Revisionsrekurswerber zutreffend aufzeigt, scheitert eine unmittelbare Anwendung dieser Bestimmung bereits daran, dass die Erstanhörung durch die seinerzeit zuständige Richterin schon begrifflich keinen Akt der Rechtshilfe für die erst später zuständig gewordene Erstrichterin darstellen kann.
3.3. Aber auch eine – abstrakt denkbare – analoge Heranziehung dieser Norm scheidet (jedenfalls derzeit) aus, weil keine Rede davon sein kann, dass einer Erstanhörung des Betroffenen durch die Erstrichterin unverhältnismäßige Schwierigkeiten oder Kosten entgegen stünden; hat sie ihn doch bisher noch nicht einmal förmlich (schriftlich) geladen.
4. Das Erstgericht wird deshalb im fortgesetzten Verfahren eine Erstanhörung des Betroffenen durchzuführen und anschließend neuerlich zu entscheiden haben.
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