OGH 7Ob20/17t

OGH7Ob20/17t29.3.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei DI K***** H*****, vertreten durch Dr. Wolfgang Leitner und andere, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei A***** SE *****, vertreten durch Themmer, Toth & Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Feststellung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 29. April 2016, GZ 1 R 245/15y‑20, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 3. November 2015, GZ 17 C 630/14t‑16, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0070OB00020.17T.0329.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 831,36 EUR (darin enthalten 138,56 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

1. Der Oberste Gerichtshof ist bei der Prüfung der Zulässigkeit der Revision an den Ausspruch des Berufungsgerichts nach § 500 Abs 2 Z 3 ZPO nicht gebunden (§ 508a Abs 1 ZPO). Die Revision ist nur dann zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer erheblichen, in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinausgehenden Rechtsfrage des materiellen oder des Verfahrensrechts abhängt. Dies ist hier nicht der Fall. Die Entscheidung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).

2. Dem zwischen den Streitteilen bestehenden Rechtsschutzversicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB) 2000 zugrunde. Diese lauten auszugsweise:

„Art 2

Was gilt als Versicherungsfall und wann gilt er als eingetreten

...

2.3 In den übrigen Fällen gilt als Versicherungsfall der tatsächliche oder behauptete Verstoß des Versicherungsnehmers, Gegners oder eines Dritten gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften; der Versicherungsfall gilt in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem eine der genannten Personen begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften zu verstoßen.

Bei mehreren Verstößen ist der erste, adäquat ursächliche Verstoß maßgebend, wobei Verstöße, die länger als ein Jahr vor Versicherungsbeginn zurückliegen, für die Feststellung des Versicherungsfalls außer Betracht bleiben.

Art 8

Welche Pflichten hat der Versicherungsnehmer zur Sicherung seines Deckungsanspruchs zu beachten (Obliegenheiten)

1. Verlangt der Versicherungsnehmer Ver-sicherungsschutz, ist er verpflichtet,

1.1. den Versicherer unverzüglich, vollständig und wahrheitsgemäß über die jeweilige Sachlage aufzuklären und ihm alle erforderlichen Unterlagen auf Verlangen vorzulegen;

...“

3.1 Wenn das Berufungsgericht ohne Vornahme einer Beweiswiederholung bzw Beweisergänzung unter Beurteilung der in erster Instanz aufgenommenen Beweise zum Ergebnis gelangte, eine Feststellung könne nach dem Akteninhalt nicht getroffen werden, ist dies ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz und damit eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (vgl RIS‑Justiz RS0043057 [T8]). Damit ist allerdings für die Beklagte nichts gewonnen. Die vom Berufungsgericht nicht übernommene „Feststellung“, ob eine Aufklärung „mangelhaft“ erfolgte, ist nicht dem Tatsachenbereich zuzuordnen, vielmehr stellt ihre Klärung rechtliche Beurteilung dar.

3.2 Davon ausgehend bedurfte es auch keines Vorgehens des Berufungsgerichts nach § 473a ZPO. Zu einem solchen ist das Berufungsgericht nämlich nur dann verpflichtet, wenn es eine Entscheidung auf eine in der Beweiswürdigung oder in der rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts „verborgene“ Feststellung gründet (RIS‑Justiz RS0112020 [T6]).

4. Der Kläger veranlagte jeweils im April 2002, im Juli und im September 2004 nach Beratung durch Mitarbeiter der I***** GmbH (in Folge: Beraterin) in drei Finanzprodukte, und zwar in Kommanditbeteiligungen an verschiedenen Schifffahrtsgesellschaften. Mit der Behauptung, er sei in allen drei Fällen fehlerhaft beraten worden, begehrt er die Rückzahlung der für den Erwerb der beiden Beteiligungen im Jahr 2004 investierten Beträge – abzüglich Ausschüttungen – und die Feststellung der Haftung der Beraterin. Die vorliegende Klage ist darauf gerichtet, den beklagten Rechtsschutzversicherer schuldig zu erkennen, ihm in dem gegen seine Beraterin anhängigen Gerichtsverfahren Deckung zu gewähren.

4.1 Im Revisionsverfahren strittig ist die Frage der Vorvertraglichkeit (ob die vom Kläger geltend gemachten Versicherungsfälle vor oder nach Beginn des Versicherungsschutzes am 10. 10. 2002 eingetreten waren).

Die Beklagte argumentiert, in den behaupteten Fehlberatungen liege ein einheitlicher Verstoß, der erste und damit relevante sei schon im April 2002 und damit vor Beginn des Versicherungsschutzes gesetzt worden.

4.2 Die Ansprüche des Klägers fallen unter den allgemeinen Vertragsrechtsschutz; daher ist für den Eintritt des Versicherungsfalls Art 2.3 ARB 2000 maßgeblich. Nach dieser Bestimmung liegt der Versicherungsfall in der Rechtsschutzversicherung vor, wenn einer der Beteiligten begonnen hat oder begonnen haben soll, gegen Rechtspflichten oder Rechtsvorschriften zu verstoßen. Es bedarf daher eines gesetzwidrigen oder vertragswidrigen Verhaltens eines Beteiligten, das als solches nicht sofort oder nicht ohne weiteres nach außen zu dringen braucht. Ein Verstoß ist ein tatsächlich objektiv feststellbarer Vorgang, der immer dann, wenn er wirklich vorliegt oder ernsthaft behauptet wird, den Keim eines Rechtskonflikts in sich trägt, der zur Aufwendung von Rechtskosten führen kann. Damit beginnt sich die vom Rechtsschutzversicherer übernommene Gefahr konkret zu verwirklichen. Es kommt nicht darauf an, ob der Handelnde sich des Verstoßes bewusst oder infolge von Fahrlässigkeit oder auch unverschuldet nicht bewusst war, es soll sich um einen möglichst eindeutig bestimmbaren Vorgang handeln, der in seiner konfliktauslösenden Bedeutung für alle Beteiligten, wenn auch erst nachträglich, erkennbar ist. Es kommt weder auf den Zeitpunkt an, zu dem die Beteiligten von dem Verstoß Kenntnis erlangten, noch darauf, wann aufgrund des Verstoßes Ansprüche geltend gemacht oder abgewehrt werden (RIS‑Justiz RS0114001).

Bei mehreren Verstößen gegen gesetzliche oder vertragliche Pflichten ist der Versicherungsschutz zu verneinen, wenn der erste Verstoß schon für sich allein betrachtet nach der Lebenserfahrung geeignet war, den Rechtskonflikt auszulösen, oder zumindest noch erkennbar nachwirkte und den endgültigen Ausbruch der Streitigkeiten nach dem Vorliegen eines oder mehrerer weiterer Verstöße noch mit auslöste, sohin „adäquat kausal“ war (7 Ob 155/06d). War nach der Sachlage schon beim ersten Verstoß mit weiteren Verstößen zu rechnen, so ist eine Mehrheit solcher Verstöße als Einheit zu qualifizieren. Ist dagegen kein einheitliches Verstoßverhalten erkennbar, dann handelt es sich bei jedem weiteren Verstoß um einen rechtlich neuen Verstoß. Dies kann sowohl bei vorsätzlichen Verstößen der Fall sein, bei denen der Wille des Handelnden von vornherein den Erfolg umfasst und auf dessen „stoßweise Verwirklichung“ durch mehrere gleichartige Einzelhandlungen gerichtet ist, wie auch bei Fällen gleichartiger fahrlässiger Verstöße, die unter wiederholter Außerachtlassung derselben Pflichtenlage begangen werden (RIS‑Justiz RS0111811). Die Zusammenfassung mehrerer zeitlich und ursächlich zusammenhängender Versicherungsfälle zu einem einheitlichen „Versicherungsfall“ ist nur dann gerechtfertigt, wenn mehrere Versicherungsfälle iSd Art 2.3 ARB einem Geschehensablauf entspringen, der nach der Verkehrsauffassung als ein einheitlicher Lebensvorgang aufzufassen ist (7 Ob 122/10g zu Art 2.3 ARB 1994 = RIS‑Justiz RS0111811 [T5]).

4.3 Die einzelfallbezogene Beurteilung (7 Ob 155/06d) des Berufungsgerichts, auch wenn der Kläger im April 2002 bereits in ein vergleichbares Produkt veranlagte, so habe es sich doch bei den späteren Geschäftsfällen um Beteiligungen an verschiedenen Kommanditgesellschaften aufgrund gesonderter Beratungsgespräche gehandelt, sodass die einzelnen Veranlagungen keinem als einheitlichen Lebensvorgang aufzufassenden Geschehensablauf entspringen würden, weshalb auch ein einheitliches Verstoßverhalten und damit die Vorvertraglichkeit zu verneinen sei, hält sich im Rahmen der dargestellten oberstgerichtlichen Judikatur.

Das von der Beklagten angesprochene „einheitliche Gesamtkonzept“ wurde nicht festgestellt. Die Folgeveranlagungen wurden vielmehr erst zwei Jahre nach der Erstveranlagung im April 2002 – und zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht absehbar – getätigt. Grund dafür war lediglich, dass die Abwicklung der ersten Veranlagung schadensfrei erfolgt war. Weder war ein Zusammenhang zwischen den Verträgen durch eine Art Rahmenvertrag gegeben, noch bestand eine laufend beauftragte Vermögensverwaltung. Die jeweils vor den späteren Veranlagungen durchgeführten Beratungen waren damit Ausfluss der vor jedem gesonderten Abschluss bestehenden Beratungspflicht. Davon ausgehend hält es sich im Rahmen der Judikatur, keinen einheitlichen Lebensvorgang anzunehmen.

5.1 Offensichtlicher Zweck der Auskunfts‑ und Belegobliegenheit, dem auch Art 8.1.1 ARB 2000 dient, ist es, das Informationsdefizit des Versicherers gegenüber dem Versicherungsnehmer auszugleichen. Naturgemäß ist der Versicherungsnehmer über die ihn betreffenden Lebenssachverhalte umfassender informiert als der Versicherer. Er soll daher dem Versicherer alle ihm bekannten Informationen erteilen und ihm zur Verfügung stehende Unterlagen ausfolgen (7 Ob 210/14d).

Der Versicherungsnehmer hat dem Versicherer zunächst den Eintritt des Versicherungsfalls anzuzeigen (§ 33 VersVG) und dann über Aufforderung dem Versicherer weitere Auskünfte und/oder Belege zur Prüfung seiner Leistungspflicht im Sinn des § 34 VersVG zu geben. Das ist eine Obliegenheit des Versicherungsnehmers (7 Ob 210/14d). Der Versicherer kann diejenigen Auskünfte verlangen, die er für notwendig hält, sofern sie für Grund und Umfang seiner Leistung bedeutsam sein können (RIS‑Justiz RS0080185). Die Beweislast dafür, dass der Versicherungsnehmer eine Aufklärungs‑ und/oder Belegobliegenheit verletzt hat, trifft den Versicherer (RIS‑Justiz RS0081313, RS0043510, RS0043728). Erteilt der Versicherungsnehmer Auskünfte, die dem Versicherer aber nicht genau genug sind, so hat der Versicherer konkret zu sagen, worauf es ihm ankommt (RIS‑Justiz RS0105784 [T3]).

5.2 Der Kläger hat in der seiner – hier interessierenden – Deckungsanfrage beigelegten Klage des Haftpflichtprozesses ausdrücklich die den dort klagsgegenständlichen Veranlagungen (2004) vorangegangene Veranlagung genannt, lediglich ohne diese zeitlich zuzuordnen. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, diese Unterlassung sei ihm aber im Hinblick darauf, dass dieses Investment weder Gegenstand des Haftpflichtprozesses, noch des Deckungsprozesses sei, ebenso wenig anzulasten, wie jene der Darlegung des – im Haftpflichtprozess zu erwartenden – Vorbringens der dort Beklagten, vor sämtlichen Veranlagungen (so auch vor jener im Jahr 2002) vollständig und richtig aufgeklärt zu haben, zumal es der Beklagten auch freigestanden wäre, nähere Auskünfte über die in der Klage angesprochene weitere Veranlagung einzufordern, ist jedenfalls vertretbar.

6. Den Ausführungen der Beklagten im Zusammenhang mit der Verjährung könnte für die Frage der Aussichtslosigkeit der vom Kläger angestrebten Rechtsverfolgung Relevanz zukommen.

In der Rechtsschutzversicherung ist bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten kein strenger Maßstab anzulegen (RIS‑Justiz RS0081929). Im Deckungsprozess sind Feststellungen über Tatfragen, die Gegenstand des Haftpflichtprozesses sind, für den Haftpflichtprozess nicht bindend, daher überflüssig und soweit sie getroffen wurden, für die Frage der Deckungspflicht unbeachtlich. Im Deckungsprozess kommt eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung und des Ergebnisses des Haftpflichtprozesses bei Beurteilung der Erfolgsaussichten grundsätzlich nicht in Betracht (RIS‑Justiz RS0081927). Dabei kann das Gericht die zur Verfahrenshilfe entwickelten Grundsätze anwenden (RIS‑Justiz RS0116448). Eine nicht ganz entfernte Möglichkeit des Erfolgs genügt, um die Rechtsverfolgung nicht als offenbar aussichtslos erscheinen zu lassen (RIS‑Justiz RS0117144; RS0036090).

Der Kläger gründet seinen Ersatzanspruch im Haftpflichtprozess auf die Unkenntnis mehrerer Faktoren, über die er nicht oder falsch aufgeklärt worden sei. Ob und welche dieser Faktoren allenfalls eine gesonderte Verjährungsfrist in Gang setzen könnten, hängt ebenso wie auch die Frage des Zeitpunkts der Kenntnis des Klägers vom Schaden vom Ergebnis des Beweisverfahrens im Haftpflichtprozess über die dort widerstreitenden Vorbringen ab, sodass auch die Verneinung der Aussichtslosigkeit durch das Berufungsgericht keine aufzugreifende Fehlbeurteilung darstellt.

7. Die Revision war daher zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO, wobei der Kläger auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen hat.

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