European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0010OB00020.17Y.0227.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.
Begründung:
Die Antragsgegnerin ist die Mutter des 1994 geborenen Antragstellers. Bei ihrem Sohn besteht eine psychiatrische Symptomatik im Sinn einer Intelligenzminderung leichter Ausprägung und einer unreifen Persönlichkeitsstruktur sowie anamnestisch eine Zwangsstörung. Für den Antragsteller ist seit 2013 ein Sachwalter mit den Wirkungskreisen finanzielle Angelegenheiten sowie Vertretung vor Ämtern und Behörden, Gerichten und Sozialversicherungsträgern und gegenüber privaten Vertragspartnern bestellt.
Der volljährige Antragsteller geht keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung nach, er ist einkommens‑ und vermögenslos und befindet sich „in Eigenpflege“. Er kann aufgrund der bei ihm bestehenden Einschränkungen am allgemeinen Arbeitsmarkt weder einer Voll‑, noch einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen. Möglich ist ihm eine Vollzeitbeschäftigung im „geschützten Rahmen“. Die Ursache der aktuellen „Arbeitsverweigerung“ liegt in der „psychiatrischen“ Störung des Sohnes, Krankheits‑ und Behandlungseinsicht fehlen. Es steht nicht fest, dass der Sohn seine noch nicht eingetretene „Selbsterhaltungsfähigkeit“ verschuldete.
Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens über den Unterhaltsfestsetzungsantrag des Sohnes ist nur noch die Frage, ob die (teilweise) Selbsterhaltungsfähigkeit des Sohnes tatsächlich oder zumindest im Rahmen der Anspannung fiktiv eingetreten ist oder nicht.
Das Erstgericht verpflichtete die Antragsgegnerin, zum Unterhalt des Antragstellers ab 1. 4. 2016 einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 420 EUR zu leisten und ihm an rückständigem Unterhalt für den Zeitraum 1. 3. 2013 bis 29. 2. 2016 14.460 EUR zuzüglich (näher aufgeschlüsselter) Verzugszinsenbeträge zu zahlen. Ein Mehrbegehren des Antragstellers wies es – von ihm unangefochten – ab. Rechtlich führte es – soweit für das Revisionsrekursverfahren von Bedeutung – aus, dass seine Erwerbsunfähigkeit krankheitsbedingt sei. Ihm sei nicht vorwerfbar, dass er nicht selbsterhaltungsfähig sei, sodass auch keine fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit im Rahmen der Anspannung anzunehmen sei.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter, mit dem sie die ihr auferlegte Unterhaltsverpflichtung bekämpfte, nicht Folge. Rechtlich argumentierte es, dass Kinder, die dem Pflichtschulalter entwachsen, aber dennoch objektiv nicht selbsterhaltungsfähig seien, den Unterhaltsanspruch (nur) dann wegen fiktiver Selbsterhaltungsfähigkeit verlören, wenn sie arbeits‑ oder ausbildungsunwillig seien. Dem Sohn sei aber nur eine Tätigkeit im geschützten Bereich möglich, die aktuelle Arbeitsverweigerung habe ihre Ursache in der „psychiatrischen“ Störung des Sohnes. Eine Anspannung setze nur ein, wenn schuldhaft (pflichtwidrig) zumutbare Bemühungen, ein Einkommen zu erwirtschaften, unterlassen würden. Den Sohn treffe aber kein Verschulden an der bislang noch nicht eingetretenen Selbsterhaltungsfähigkeit. Er sei nicht in der Lage, am allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten. Im geschützten Bereich könne er, was gerichtsbekannt sei, nur ein Taschengeld verdienen. Dieses sei ihm, wie ein Vergleich mit einer intakten Familie ergebe, zu belassen.
Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, weil zur Frage der Anspannung einer besachwalteten Person auf ein (Vollzeit‑)Einkommen im geschützten Bereich (geschützten Arbeitsmarkt) höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der vom Sohn nicht beantwortete Revisionsrekurs der Mutter, mit dem sie die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung anstrebt.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist – wie schon das Rechtsmittel des Vaters des Antragstellers zu 10 Ob 73/16g – zulässig, weil die Begründung des Rekursgerichts korrekturbedürftig ist. Der Revisionsrekurs ist jedoch im Ergebnis nicht berechtigt.
1.1. Zutreffend zeigt die Revisionsrekurswerberin auf, dass entgegen der Rechtsansicht des Rekursgerichts nicht davon ausgegangen werden kann, dass das aus einer Tätigkeit im „geschützten Bereich“ erzielbare Einkommen notorisch (§ 33 Abs 1 AußStrG) immer derart gering sei, dass es in einer intakten Familie als Taschengeld belassen wird. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus der vom Rekursgericht zitierten Entscheidung 1 Ob 88/08k, weil damals feststand, dass die Unterhaltsberechtigte für ihre Tätigkeit in einer geschützten Werkstätte ein Taschengeld von 50 EUR monatlich erhielt (ähnlich 9 Ob 31/14w).
1.2. Nach der Rechtsprechung erfolgt die Arbeit in einer sogenannten geschützten Werkstätte primär im Eigeninteresse der tätigen Person, weshalb kein Arbeitsvertrag vorliegt, auf den kollektivvertragliche Entgeltbestimmungen anzuwenden wären (RIS‑Justiz RS0125599). Dies ändert jedoch nichts daran, dass ein Entgelt (etwa im Sinn eines Taschengeldes) für eine solche Tätigkeit in jedem einzelnen Fall je nach den bestehenden Regelungen in unterschiedlicher Höhe gebühren oder allenfalls auch vereinbart werden kann. Darüber hinaus ergibt sich aus mehreren Normen der Rechtsordnung, dass es auf dem „geschützten Arbeitsmarkt“ – insbesondere im Zusammenhang mit Förderungen – Tätigkeiten mit einer höheren Entlohnung gibt (§ 9 Abs 2 und 7 AlVG [„angemessene Entlohnung“]; § 11 Abs 4 lit a BEinstG [Integrative Betriebe, kollektivvertragliche Entlohnung]; § 34 Abs 2 Z 3, § 34a AMSG [Kombilohn für Personen mit verminderten Eingliederungschancen]). Von einer Notorietät der Höhe der Entlohnung einer Tätigkeit im geschützten Arbeitsbereich kann vor diesem Hintergrund nicht ausgegangen werden (so bereits 10 Ob 73/16g).
2.1. Dies führt jedoch entgegen der Rechtsansicht der Revisionsrekurswerberin im konkreten Fall nicht dazu, dass das Verfahren ergänzungsbedürftig wäre.
2.2. Selbsterhaltungsfähig ist ein Kind dann, wenn es die zur Deckung seines Unterhalts erforderlichen Mittel selbst erwirbt oder aufgrund zumutbarer Beschäftigung zu erwerben imstande ist (RIS‑Justiz RS0047567 [T4]). Bezieht ein Kind eigene Einkünfte, die zur Befriedigung seiner konkreten Lebensbedürfnisse hinreichen, fehlt es – unabhängig von der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen – an einem durch Unterhaltsleistungen sicherzustellenden Bedarf. Gleiches gilt auch dann, wenn das Kind zwar tatsächlich keine eigenen Einkünfte bezieht, dazu aber unter Einsatz seiner Fähigkeiten und Kräfte in der Lage wäre und daher als selbsterhaltungsfähig anzusehen ist (§ 231 Abs 3 ABGB; 10 Ob 73/16g mwN).
2.3. Fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit liegt vor, wenn das unterhaltsberechtigte Kind nach Ende des Pflichtschulalters weder eine weitere zielstrebige Schulausbildung oder sonstige Berufsausbildung absolviert, noch eine mögliche Erwerbstätigkeit ausübt, also arbeits‑ und ausbildungsunwillig ist, ohne dass ihm krankheits‑ oder entwicklungsbedingt die Fähigkeiten fehlten, für sich selbst aufzukommen (RIS‑Justiz RS0114658; Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht8 [2016] 170). Voraussetzung der fiktiven Selbsterhaltungsfähigkeit ist, dass das Kind am Scheitern einer angemessenen Ausbildung oder Berufsausübung ein Verschulden trifft (10 Ob 73/16g = RIS‑Justiz RS0047605 [T11]).
3.1. Zutreffend haben die Vorinstanzen ein solches Verschulden des Sohnes auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen verneint.
3.2. Die Revisionsrekurswerberin stellt nicht in Frage, dass er krankheitsbedingt – und daher nicht vorwerfbar – nicht in der Lage ist, einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen.
3.3. Ob der Sohn, der beruflich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr integrierbar ist, überhaupt noch – wie von der Mutter behauptet – auf dem sogenannten „Zweiten Arbeitsmarkt“, auf dem Beschäftigungsverhältnisse mit beruflich schwer integrierbaren Personen gefördert werden (positive Wiedereingliederungsprognose), eine Tätigkeit aufnehmen könnte, oder ihm dies nur mehr auf dem sogenannten „Dritten Arbeitsmarkt“, auf dem das Gleiche mit beruflich nicht integrierbaren Personen geschieht (negative Wiedereingliederungsprognose), möglich wäre, kann – ebenso wie zu 10 Ob 73/16g – dahingestellt bleiben. Denn eine Anspannung im dargestellten Sinn setzt voraus, dass dem Sohn das von der Mutter behauptete Unterlassen von Anstrengungen, auf dem geschützten Arbeitsmarkt einer Tätigkeit nachzugehen, vorwerfbar wäre.
3.4. Zur Frage des Vorliegens der (fiktiven) Selbsterhaltungsfähigkeit ist das Erstgericht – wie auch das Rekursgericht – von den oben wiedergegebenen Feststellungen ausgegangen, die auf dem Gutachten eines vom Gericht beigezogenen Sachverständigen für Psychiatrie und Neurologie beruhen. Danach ist dem Sohn zwar noch eine Tätigkeit im geschützten Arbeitsmarkt möglich. Seine Weigerung, in diesem Rahmen eine Tätigkeit aufzunehmen („Die aktuelle Arbeitsverweigerung“) ist ihm jedoch nach den Feststellungen nicht vorwerfbar, weil sie ihre Ursache in seiner „psychiatrischen“ Erkrankung („Störung“) hat. Die von der Revisionsrekurswerberin behauptete Aktenwidrigkeit dieser Feststellung ist nicht gegeben, beruht diese doch auf dem Gutachten des Sachverständigen (vgl RIS‑Justiz RS0043298 [T3]). Auch der von ihr behauptete sekundäre Feststellungsmangel liegt – wovon bereits das Rekursgericht zutreffend ausging – vor dem Hintergrund dieser Feststellung nicht vor.
Da der Sohn objektiv nicht selbsterhaltungsfähig ist und ihm Arbeitsunwilligkeit nicht vorgeworfen werden kann, kommt dem Revisionsrekurs der Mutter keine Berechtigung zu.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf dem mangelnden Erfolg der Revisionsrekurswerberin (§ 78 Abs 2 Satz 1 AußStrG e contrario).
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