OGH 1Ob163/16a

OGH1Ob163/16a27.2.2017

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Sailer als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.‑Prof. Dr. Bydlinski, Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätin Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei P***** L*****, Deutschland, vertreten durch die LIKAR Rechtsanwälte GmbH, Graz, und der Nebenintervenientin auf Seite der klagenden Partei R***** reg. GenmbH, vertreten durch die Brandl & Talos Rechtsanwälte GmbH, Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, und die Nebenintervenienten auf Seite der beklagten Partei 1. E*****gesellschaft mbH, 2. Prof. MMag. Dr. D***** W*****, und 3. Mag. E***** W*****, vertreten durch die Ruggenthaler, Rest & Borsky Rechtsanwälte OG, Wien, wegen 29.665,90 EUR sA, über die Revisionen der klagenden Partei und der Nebenintervenientin auf Seite der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 20. Juni 2016, GZ 14 R 79/16i‑82, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 18. März 2016, GZ 30 Cg 16/11k‑73, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0010OB00163.16A.0227.000

 

Spruch:

Die Revisionen werden zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit insgesamt 3.138,60 EUR und den Nebenintervenienten auf Seite der beklagten Partei die mit insgesamt 4.330,52 EUR (darin 721,75 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortungen binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

Dr. W***** A*****‑W***** gründete ab 1990 mehrere Unternehmen unter der Bezeichnung „A*****“, mit denen er einen groß angelegten Anlagebetrug verübte. Dieser bestand – stark vereinfacht dargestellt – darin, dass die von ihm beherrschten Gesellschaften A***** I***** AG und später A***** G***** AG Genussscheine emittierten, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen (insbesondere des Bestehens einer 100%igen Kapitalgarantie und einer Rückkaufgarantie sowie der dafür erforderlichen Deckung) zu einem willkürlich festgesetzten, außer Verhältnis zur Unternehmenssubstanz und zu Angebot und Nachfrage stehenden Kurs vertrieben wurden und deren Verkaufserlös er zu einem erheblichen Teil selbst vereinnahmte. Mit dem Rest finanzierte er die Gesellschaften und die Rückkäufe von Genussscheinen. Als im Zuge der Wirtschaftskrise 2008 der Geldbedarf für die Rückkäufe die Einnahmen aus den Verkäufen überstieg, brach das System zusammen. Über das Vermögen der A***** I***** AG und der A***** G***** AG wurde im Mai 2010 der Konkurs eröffnet. Die Genussscheine sind mittlerweile wertlos.

Der Kläger erwarb im Jahr 2007 in mehreren Tranchen insgesamt elf solcher Genussscheine um 29.665,90 EUR. Er begehrt nun den Ersatz dieses Betrags aus dem Titel der Amtshaftung von der Beklagten, hilfsweise die Feststellung ihrer Haftung für die Schäden, die ihm aus seinen Genussscheinkäufen entstehen.

Das Erstgericht wies das Haupt‑ und Eventualbegehren ab.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung und erklärte die ordentliche Revision für zulässig, weil keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Frage bestehe, ob der Schutzzweck der behördlichen Anzeigepflicht des § 84 StPO aF auch bloße Vermögensschäden umfasse, die durch eine Straftat eingetreten seien oder einzutreten drohten.

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen erhobenen Revisionen des Klägers und der Nebenintervenientin auf Seite des Klägers sind entgegen dem nach § 508a Abs 1 ZPO nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

1. Das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage ist nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel durch den Obersten Gerichtshof zu beurteilen (RIS‑Justiz RS0112769 [T9, T11]; Zechner in Fasching/Konecny 2 § 502 ZPO Rz 32; E. Kodek in Rechberger 4 § 502 ZPO Rz 18, jeweils mwN). Eine im Zeitpunkt der Einbringung des Rechtsmittels tatsächlich aufgeworfene erhebliche Rechtsfrage fällt weg, wenn die bedeutsame Rechtsfrage durch eine andere Entscheidung des Obersten Gerichtshofs bereits vorher geklärt wurde (RIS‑Justiz RS0112769 [T12]; RS0112921 [T5]).

2. Das ist hier der Fall. Der erkennende Senat hat in der einen vergleichbaren Sachverhalt und ebenfalls die Beklagte betreffenden Entscheidung 1 Ob 73/16s vom 10. 2. 2017 ausführlich begründet, dass § 84 StPO aF über die Anzeigepflicht nicht den Zweck verfolgte, den Eintritt von nach dem Zeitpunkt der unterlassenen Strafanzeige eintretenden Vermögensschäden zu hindern. Potentiell künftig am Vermögen Geschädigte sind vom Schutzzweck dieser Bestimmung nicht erfasst, weshalb kein Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der der Beklagten angelasteten unterlassenen Anzeige wegen der den Organen der Bundeswertpapieraufsicht (BWA) bei der Vor‑Ort‑Prüfung bekannt gewordenen Umstände mit vom Kläger aus nachfolgenden Investitionen abgeleiteten Vermögensschäden besteht (dort I. 5.). Das gilt selbstverständlich auch für das Verhalten eines bestimmten Finanzamts.

Entgegen der Ansicht der Rechtsmittelwerber begnügte sich die Aufsichtsbehörde gerade nicht mit Erklärungen oder Beteuerungen der verantwortlichen Organe des beaufsichtigten Unternehmens. Ihr Einschreiten hatte vielmehr zur Folge, dass das bisherige System grundlegend verändert wurde. Grundlage für die Entscheidung nach Abschluss der Vor‑Ort‑Prüfung, von weiteren Schritten Abstand zu nehmen, waren aus damaliger Sicht nicht etwa bloße Ankündigungen oder Beschwichtigungen, sondern eine grundlegend geänderte Emissions‑ und Vertriebsstruktur. Damit durften die Organe der BWA letztlich vertretbar davon ausgehen, dass den Zielsetzungen des WAG auch ohne weitere Prüfschritte und/oder Maßnahmen gemäß § 70 Abs 4 BWG entsprochen war (dort II. 4.2).

Der im Mai 2000 festgestellte Interessenkonflikt, weil die A***** I***** AG zum damaligen Zeitpunkt nicht nur Wertpapierdienstleistungsunternehmen, sondern auch Emittentin war, war mit der noch während der Prüftätigkeit durch die Organe der BWA begonnenen Umstrukturierung durch Gründung der A***** G***** AG und dem Umtausch der Genussscheine in solche der neu gegründeten Aktiengesellschaft behoben, bevor die Aufsichtsbehörde eine der in § 70 Abs 4 Z 1 bis 3 BWG genannten Maßnahmen ergreifen musste (dort II. 5.1).

Mit der Zulassung der Genussscheine zum Handel an der Frankfurter Wertpapierbörse (FWB) war eine gänzlich andere Beurteilungsgrundlage gegeben, als sie sich für die Organe der BWA bei Aufnahme ihrer Prüftätigkeit zeigte. Mit der Aufnahme des Handels der Genussscheine im Freiverkehr der FWB war der von der BWA als gesetzwidrig erkannte Zustand beendet (vgl § 70 Abs 4 Z 1 BWG), ohne dass es eines ausdrücklichen Auftrags bedurft hätte. Ausgehend von der deutschen Rechtslage zum Handel im Freiverkehr an der FWB bestand ohne konkrete Anhaltspunkte für Auffälligkeiten im Zusammenhang mit der Kursbildung ex ante für die Organe der BWA auch keine Veranlassung für weitergehende Schritte gegenüber dem Wertpapier-dienstleistungsunternehmen. Dass den Organen der BWA die festgestellten und von den Revisionswerbern aufgegriffenen Umstände der Kursbildung bekannt geworden wären (arg aus § 2 Abs 1 WAG: „zukommenden Meldungen“) und damit ungeachtet der gesetzlichen Rahmenbedingungen allenfalls Anlass zu Zweifel im Zusammenhang mit der Kursbildung im Freiverkehr an der Börse bestanden haben könnte, kann den Feststellungen nicht entnommen werden und wird von den Revisionswerbern auch nicht konkret behauptet (bereits dort II. 6.3.5).

Die Rechtsmittel setzen sich mit der Argumentation der Vorinstanzen, wonach das „Sondervermögen“ im Zuge der Umstrukturierung in die neu gegründete A***** G***** AG eingebracht und damit wegen des Umtauschs der Genussscheine letztlich auch der (verbliebenen) Emittentin zugeführt worden sei, nicht auseinander, sondern monieren pauschal das Unterlassen von Maßnahmen gemäß § 70 Abs 4 BWA als unvertretbar. Aufgrund welcher tatsächlichen Umstände die Organe der BWA auch nach Abschluss der Umstrukturierung und Übertragung des Vermögens auf die A***** G***** AG in diesem Zusammenhang vom Vorliegen eines rechtswidrigen Zustands bei dem ihrer Aufsicht unterstehenden Wertpapierdienstleistungsunternehmen auszugehen gehabt und damit unvertretbar weitere Prüfschritte unterlassen hätten, ist nicht erkennbar (dort II. 6.4).

Nach den Feststellungen war die der Aufsicht der BWA unterstellte A***** I***** AG nach Abschluss der Umstrukturierungen von ihren Haftungen gegenüber den Genussscheinkunden befreit, sodass ein unvertretbares Unterlassen von Maßnahmen im Sinn des § 70 Abs 4 BWG zur Herstellung eines rechtskonformen Zustands daraus nicht abgeleitet werden kann. Ab diesem Zeitpunkt bedurfte es keiner Rückstellungen für Verpflichtungen gegenüber Genussscheinkunden (dort II. 7.1.2). Die vom Kläger in diesem Zusammenhang relevierten sekundären Feststellungsmängel liegen nicht vor.

Dass der Finanzmarktaufsicht (FMA) vor Ankauf der Genussscheine durch den Kläger Umstände bekannt geworden wären, die einen begründeten Verdacht im Sinn des § 4 Abs 6 KMG idF BGBl I 2005/78 erwecken hätten müssen, lässt sich weder den Feststellungen noch den Ausführungen in den Revisionen entnehmen. Letztlich lässt der Kläger die Frage unbeantwortet, inwiefern ein Einschreiten der FMA von Einfluss auf den Schadensverlauf gewesen wäre, besteht doch die Sanktion eines Verstoßes gegen die Vorschrift des § 4 KMG in der Verhängung einer Geldstrafe (§ 16 Z 3 KMG), nicht jedoch in der Untersagung oder Unterbindung von unzulässiger Werbung. Ebenso droht einem Anbieter, der nicht rechtzeitig den Prospekt oder die nach § 6 KMG ändernden oder ergänzenden Angaben nach diesem Bundesgesetz der Meldestelle übersendet, nur die Verhängung einer Geldstrafe (§ 16 Z 6 KMG). Auch insofern bleibt offen, wie ein Einschreiten der FMA wegen des in der Revision behaupteten Verstoßes gegen die Prospektpflicht geeignet gewesen wäre, den Schadenseintritt zu hindern (dort II. 7.2.3 und 7.2.4).

Die Organe der BWA – und nach ihr der FMA – durften sich zur Frage der Bilanzierung des Genussscheinkapitals als Eigenkapital (der A***** I***** AG) auf die von unabhängigen Wirtschaftsprüfern als Abschlussprüfer inhaltlich geprüften und durchgehend mit uneingeschränkten Bestätigungsvermerken versehenen Jahresabschlüsse samt den von den Wirtschaftsprüfern entsprechend der Vorschrift des § 23 Abs 2 und 4 WAG erstellten Prüfberichte (vertretbar) verlassen. Das nach dem Abschluss der Umstrukturierung der Aufsicht der BWA unterliegende Wertpapierdienstleistungsunternehmen war nicht mehr Emittentin von Genussscheinen, sodass sich Fragen der Bilanzierung von Eigenkapital in diesem Zusammenhang für die Zeit danach nicht stellten (dort II. 7.4).

Die FMA ist dem Verdacht einer Übertretung des § 98 Abs 1 iVm § 1 Abs 1 Z 7 lit e BWG, BGBl 1993/639, nachgegangen und hat diesen Verstoß mit einem Strafbescheid geahndet (vgl dazu VwGH 2007/17/0208). Zwar konnte die FMA unabhängig von der Einleitung eines Strafverfahrens bei einem Verdacht einer Übertretung unter anderem gemäß § 98 Abs 1 BWG mit Bescheid die zur Herstellung des der Rechtsordnung entsprechenden Zustands jeweils notwendigen Maßnahmen, wie die Schließung von Teilen des Betriebs oder die Schließung des gesamten Betriebs, verfügen, wenn die den verdächtigen Geschäftsbetrieb ausübenden Unternehmen der Aufforderung zur Herstellung eines der Rechtsordnung entsprechenden Zustands nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkamen. Diese Befugnis hat die FMA aber erst mit Inkrafttreten des § 22d FMABG (BGBl I 2006/48) am 31. 3. 2006 erhalten. Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 9. 9. 2013 (2009/17/0079) an der in der Entscheidung 2007/17/0201 vom 15. 4. 2010 (betrifft Dr. A*****‑W*****) geäußerten Rechtsansicht trotz der in der Literatur daran geäußerten Bedenken festgehalten. Losgelöst von der Feststellung des Erstgerichts, wonach der (banken‑)konzessionslose Wertpapierhandel, wie er dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs zugrunde lag, weder für die Aufrechterhaltung noch für den Zusammenbruch des Systems kausal gewesen ist, sodass schon nicht zu erkennen ist, inwieweit dieser Handel für die Schäden des Klägers ursächlich gewesen sein soll, lässt sich daraus nicht ableiten, die Organe der FMA hätten unvertretbar gehandelt, wenn sie vor erstmaliger Klärung der maßgeblichen Rechtsfragen durch den Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 15. 4. 2010 (also nicht schon während des laufenden Verwaltungsstrafverfahrens) nach dem 31. 3. 2006 nicht im Sinn des § 22d Abs 1 FMABG vorgegangen sind (dort II. 7.2.2).

Welche Rechtsakte angesichts der Feststellung des Erstgerichts, wonach der (banken‑)konzessionslose Wertpapierhandel für das Funktionieren des Systems nicht kausal war, konkret in Frage gekommen wären und inwieweit eine öffentliche Bekanntgabe überhaupt einen Einfluss auf den Schadensverlauf nehmen hätte können, kann den Ausführungen der Nebenintervenientin nicht entnommen werden. Im Fall einer Amtshandlung in einem laufenden Verfahren hatte die Behörde die Nennung der Namen betroffener Beteiligter grundsätzlich aber zu unterlassen (§ 22 Z 1 FMABG; dort II. 7.4).

Wenn der Kläger damit argumentiert, die A***** I***** AG und die A***** G***** AG hätten als Konzernbestandteile eine wirtschaftliche Einheit dargestellt, übergeht er, dass dieser Umstand nichts an der rechtlichen Selbständigkeit und getrennten Rechtssubjektivität der Gesellschaften änderte.

Die Ausführungen des Berufungsgerichts zum monierten fehlenden internen Kontrollsystem sind nicht zu beanstanden.

3. Die vom Berufungsgericht als erheblich erachtete Rechtsfrage ist somit bereits hinreichend beantwortet. Sonstige Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung zeigen die Revisionswerber nicht auf. Die Revisionen sind daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 41 Abs 1 und § 50 Abs 1 ZPO. Da die Beklagte und die Nebenintervenienten auf ihrer Seite in den jeweiligen Revisionsbeantwortungen auf die mangelnde Zulässigkeit der Rechtsmittel hingewiesen haben, dienten die Schriftsätze der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung (vgl RIS‑Justiz RS0035962; RS0035979). Der in erster Instanz ausgesprochene Kostenvorbehalt nach § 52 Abs 1 und 2 ZPO erfasst nur die vom Prozesserfolg in der Hauptsache abhängigen Kosten und steht der Kostenentscheidung im Zwischenstreit über die Zulässigkeit der Revisionen nicht entgegen (1 Ob 44/14y mwN; RIS‑Justiz RS0129365 [T1]). Den Nebenintervenienten auf Seite der Beklagten steht gemäß § 15 lit b RATG nur ein Streitgenossenzuschlag von 15 % (und nicht wie verzeichnet von 20 %) zu.

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