European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0140OS00099.16I.1025.000
Spruch:
Die Grundrechtsbeschwerde wird abgewiesen.
Aus deren Anlass wird festgestellt, dass Mohamed A***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.
Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.
Gründe:
Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Wien der Beschwerde des Beschuldigten Mohamed A***** gegen den Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt vom 31. August 2016, GZ 6 HR 79/16f‑149, mit welchem die über ihn am 17. Juli 2016 verhängte Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO fortgesetzt worden war, nicht Folge und ordnete die Fortsetzung aus demselben Haftgrund an.
Dabei ging es vom dringenden Verdacht aus, Mohamed A***** habe im einverständlichen Zusammenwirken mit drei namentlich genannten und weiteren unbekannten Mittätern „als Mitglied einer kriminellen Vereinigung“ die rechtswidrige Ein- oder Durchreise „in Bezug auf mindestens drei Fremde“ in oder durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder Nachbarstaat Österreichs, nämlich von Ungarn nach Österreich in unterschiedlichen Konstellationen, entweder als Organisator oder Lenker des Schlepper- oder Begleitfahrzeugs mit dem Vorsatz gefördert, sich oder einen Dritten durch ein dafür geleistetes Entgelt unrechtmäßig zu bereichern, und zwar
1. am 21. April 2016 von zumindest acht Fremden;
2. am 16. Mai 2016 von einer noch festzustellenden Anzahl an Fremden;
3. 17. Mai 2016 von zumindest neun Fremden;
4. am 3. Juni 2016 von einer noch festzustellenden Anzahl an Fremden;
5. am 12. Juni 2016 von zumindest acht Fremden;
6. am 13. Juni 2016 von einer noch festzustellenden Anzahl an Fremden;
7. am 14. Juni 2016 von einer noch festzustellenden Anzahl an Fremden;
8. am 15. Juni 2016 von einer noch festzustellenden Anzahl an Fremden;
9. am 18. Juni 2016 von einer noch festzustellenden Anzahl an Fremden;
10. am 19. Juni 2016 von einer noch festzustellenden Anzahl an Fremden;
11. am 21. Juni 2016 von einer noch festzustellenden Anzahl an Fremden;
12. am 22. Juni 2016 von einer noch festzustellenden Anzahl an Fremden;
13. am 27. Juni 2016 von zumindest fünf Fremden;
14. am 28. Juni 2016 von zumindest acht Fremden;
15. am 8. Juli 2016 von zumindest sieben Fremden.
Diese für sehr wahrscheinlich gehaltenen Taten subsumierte das Beschwerdegericht einem Verbrechen der Schlepperei nach § 114 Abs 1 und 3 Z 2 und Abs 4 erster Fall FPG (zur bloß im Fall [hier auf der Sachverhaltsebene nicht geklärter] tatbestandlicher Handlungseinheit zulässigen Zusammenfassung mehrerer eigenständiger Personentransporte zu einem Verbrechen der Schlepperei vgl RIS‑Justiz RS0130603).
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen vom Beschuldigten Mohamed A***** erhobenen Grundrechtsbeschwerde kommt keine Berechtigung zu.
Soweit die Beschwerde die Dringlichkeit des Tatverdachts kritisiert, scheitert sie an der Unterlassung einer entsprechenden Bekämpfung in der gegen den erstinstanzlichen Beschluss gerichteten Beschwerde (RIS‑Justiz RS0114487).
Die rechtliche Annahme einer der von § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren wird vom Obersten Gerichtshof im Grundrechtsbeschwerdeverfahren nur dahin überprüft, ob sie aus den in der angefochtenen Entscheidung angeführten bestimmten Tatsachen ohne Willkür abgeleitet werden durfte (RIS‑Justiz RS0117806).
Indem die Beschwerde zum (Nicht‑)Vorliegen des vom Beschwerdegericht angenommenen Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO bloß eigene Erwägungen zu den Beweisergebnissen anstellt, entspricht sie diesen Anfechtungskriterien nicht.
Mit dem Einwand, bei dieser Prognose seien einzelne aus Sicht des Beschwerdeführers erörterungsbedürftige Umstände – wie hier eine von ihm (unter Übergehung der diesbezüglichen Ausführungen des Oberlandesgerichts [BS 5 f]) behauptete Änderung der Verhältnisse gemäß § 173 Abs 3 letzter Satz StPO – nicht in der von ihm gewünschten Weise gewichtet worden, wird keine Grundrechtsverletzung dargetan (vgl erneut RIS‑Justiz RS0117806 [insbesondere T11]).
Die Grundrechtsbeschwerde war daher ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen (Kier in WK2 GRBG § 9 Rz 1).
Aus ihrem Anlass war jedoch – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – zu Gunsten des Angeklagten gemäß § 10 GRBG iVm §§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall, 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO der Umstand aufzugreifen, dass die Entscheidung des Beschwerdegerichts in subjektiver Hinsicht keine ausreichenden Sachverhaltsannahmen zur Subsumtion des als dringend beurteilten Tatverdachts nach § 114 Abs 1, Abs 3 Z 2 und Abs 4 erster Fall FPG enthält. Nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hat der Fortsetzungsbeschluss des Oberlandesgerichts die erstinstanzliche Entscheidung nicht bloß zu beurteilen, sondern zu ersetzen und stellt solcherart eine neue – reformatorische – Entscheidung dar (§ 174 Abs 4 zweiter Satz StPO). Das bedeutet, dass mit Bestimmtheit anzugeben ist, welcher – in Hinsicht auf die mit hoher Wahrscheinlichkeit als begründet angesehenen strafbaren Handlungen (rechtliche Kategorien; vgl § 260 Abs 1 Z 2 StPO) entscheidende – Sachverhalt auf der objektiven wie auf der subjektiven Tatseite angenommen wurde (Feststellungsebene) und klarzustellen ist, auf welchen ganz bestimmten Tatumständen (Beweisergebnissen) diese Sachverhaltsannahmen beruhen (Begründungsebene; RIS‑Justiz RS0120817).
Vorliegend enthält der angefochtene Beschluss zwar Verdachtsannahmen zum erweiterten Vorsatz des Beschwerdeführers auf unrechtmäßige Bereicherung (BS 2 [vgl § 114 Abs 1 FPG]). Darüber hinaus lässt er jedoch jegliche Sachverhaltsgrundlage zur subjektiven Tatseite des Beschwerdeführers in Bezug auf sämtliche objektiven Tatbestandsmerkmale des § 114 Abs 1, Abs 3 Z 2 und Abs 4 erster Fall FPG vermissen. Die Begründungspassage, „der dringende Verdacht zur subjektiven Tatseite lässt sich aus dem objektiven Geschehen ableiten“ (BS 4), vermag die geforderten (solcherart gerade nicht konkretisierten) Verdachtsannahmen nicht zu ersetzen. Die zusätzliche Übernahme der Ausführungen des Erstgerichts zum Gegenstand eigener Überzeugung des Beschwerdegerichts (BS 2) ist zwar grundsätzlich zulässig (Kirchbacher/Rami, WK‑StPO § 174 Rz 12 f mwN), vorliegend jedoch ebenso wenig ausreichend, weil auch der Beschluss des Landesgerichts Eisenstadt keine Sachverhaltsannahmen zur subjektiven Tatseite des Beschwerdeführers in Bezug auf sämtliche objektiven Tatbestandsmerkmale enthält.
Schon dieses Feststellungsdefizit – durch welches übrigens auch der darauf gestützten Annahme des Haftgrundes nach § 173 Abs 2 Z 3 lit a und b StPO der Boden entzogen ist (vgl 13 Os 181/08d) – stellt eine Grundrechtsverletzung dar, die dem Obersten Gerichtshof eine abschließende rechtliche Beurteilung verwehrt, weshalb er sich zur Aufhebung des Haftfortsetzungsbeschlusses nicht veranlasst sah (§ 7 Abs 1 GRBG). Die Haftvoraussetzungen sind aber unverzüglich im Rahmen einer Haftverhandlung (§ 7 Abs 2 GRBG) zu klären (RIS‑Justiz RS0119858 [T1]).
Bleibt der Vollständigkeit halber anzumerken, dass die Subsumtion nach § 114 Abs 4 erster Fall FPG (hier ebenfalls nicht ausreichend getroffene) Sachverhaltsannahmen zu sämtlichen Merkmalen einer kriminellen Vereinigung, nämlich zu einem auf längere Zeit angelegten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, der darauf ausgerichtet ist, dass von einem oder mehreren Mitgliedern der Vereinigung ein oder mehrere Verbrechen oder (hier von Bedeutung) Vergehen nach § 114 Abs 1 FPG ausgeführt werden, vorausgesetzt hätte (vgl 12 Os 87/15h; 13 Os 9/14v; 14 Os 81/12m).
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