OGH 7Ob157/16p

OGH7Ob157/16p28.9.2016

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofräte Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und Dr. Singer als weitere Richter in der Rechtssache der gefährdeten Partei I* R* N* H*, vertreten durch Dr. Josef Maier und Dr. Longin Kempf, Rechtsanwälte in Peuerbach, gegen den Gegner der gefährdeten Partei M* H*, vertreten durch Dr. Gerhard Schatzlmayr, Rechtsanwalt in Schwanenstadt, wegen Erlassung einer einstweiligen Verfügung gemäß § 382b EO, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der gefährdeten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Rekursgericht vom 6. Juli 2016, GZ 21 R 180/16v‑9, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Wels vom 27. Mai 2016, GZ 4 C 22/16w‑4, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E115870

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Rekursgerichts wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Der Gegner der gefährdeten Partei ist schuldig, der gefährdeten Partei jeweils binnen 14 Tagen die mit 695,64 EUR (darin 115,94 EUR an Umsatzsteuer) bestimmten Kosten ihrer Rekursbeantwortung und die mit 833,80 EUR (darin 138,98 EUR an Umsatzsteuer) bestimmten Kosten ihres Revisionsrekurses zu ersetzen.

 

Begründung:

Die gefährdete Partei (folgend: Antragstellerin) und der Gegner der gefährdeten Partei (folgend: Antragsgegner) sind seit * 2012 verheiratet. Der Ehe entstammen die beiden Söhne E*, geboren am * 2013, und J*, geboren am * 2015.

Gegen den Antragsgegner wurde am 6. 5. 2016 ein sicherheitspolizeiliches Betretungsverbot betreffend die Ehewohnung und den von den Söhnen besuchten Kindergarten angeordnet sowie ein vorläufiges Waffenverbot verhängt.

Die Antragstellerin beantragte die Erlassung einer einstweiligen Verfügung gemäß § 382b Abs 1 Z 1 und 2 EO betreffend die Ehewohnung und verwies zu deren Begründung auf näher beschriebene Verbalattacken sowie Wut- und Gewaltausbrüche des Antragsgegners.

Das Erstgericht erließ die einstweilige Verfügung, mit der dem Antragsgegner nach dessen zwischenzeitigem Auszug die Rückkehr in die Ehewohnung für die Dauer von sechs Monaten verboten wurde. Es nahm folgenden zusammengefassten Sachverhalt als bescheinigt an:

Die Antragstellerin ist mit ihrem dritten Kind im sechsten Monat schwanger. Sie bewohnt die Ehewohnung mit den beiden Söhnen. Die Wohnung kann nicht in zwei separate Wohnbereiche getrennt werden.

Die Antragstellerin hegt schon längere Zeit Scheidungsgedanken, weil der Antragsgegner ihr gegenüber immer wieder aggressiv ist und sie überdies permanent dessen Verbalattacken „auf tiefstem Niveau“ ausgesetzt ist. Der Antragsgegner scheut vor solchen aggressiven Ausbrüchen auch in Anwesenheit der Kinder nicht zurück. Bei vorangegangenen Aggressionsausbrüchen ist es vorgekommen, dass der Antragsgegner den Wäscheständer auf die Antragstellerin warf, eine Küchenlade beschädigte und den Helm des Sohnes E* gegen die Haustüre warf, wodurch dieser „total beschädigt“ wurde. Die Wutausbrüche intensivierten sich immer mehr.

Am 5. 5. 2016 gegen 21:30 Uhr war die Antragstellerin bereits im Schlafzimmer und surfte mit ihrem Handy im Internet. Der Antragsgegner kam ins Schlafzimmer und forderte die Antragstellerin auf, seine drei Lohnzettel sofort herauszugeben. Die Antragstellerin erklärte ihm, dass ihr diese nicht zur Verfügung stünden, woraufhin sie der Antragsgegner an der Hand fasste, in der sie ihr Handy hielt, und diese mit voller Kraft zusammendrückte, wodurch sich kleine Glassplitter des Handys in die Hand der Antragstellerin bohrten und diese verletzt wurde. Die Splitter in der Hand konnte die Antragstellerin selbst entfernen. Weiters riss er die Antragstellerin dabei derart nach vorne, wodurch sie einen plötzlichen Ruck im Bereich des Bauchs und im Bereich der Hüfte verspürte, sodass sie Angst wegen ihrer Schwangerschaft hatte. Der Antragsgegner ging sodann mit dem Handy der Antragstellerin ins Wohnzimmer. Die Antragstellerin ging ihm nach, weil sie Angst hatte, sonst keine Möglichkeit zu haben, um Hilfe zu rufen. Dem Antragsgegner fiel das Handy in der Folge herunter, sodass es die Antragstellerin wieder an sich nehmen und ins Schlafzimmer zurückgehen konnte. Der Antragsgegner begann zu schreien. Der dreijährige E* kam ins Schlafzimmer und wollte bei der Antragstellerin schlafen, woraufhin diese den Antragsgegner darauf hinwies, dass er sich allein schon wegen des Sohnes beruhigen möge und er sonst den im Nebenzimmer schlafenden zweiten Sohn aufwecke. Damit ließ sich der Antragsgegner beruhigen. Er ging aus dem Schlafzimmer und die Antragstellerin konnte die Schlafzimmertüre versperren. Der Antragsgegner hat danach nicht mehr versucht, ins Schlafzimmer zu gelangen. Als die Antragstellerin einer Freundin vom Vorfall erzählte, riet ihr diese, zur Polizei zu gehen. Dies tat die Antragstellerin am nächsten Morgen, weil sie sich weiterhin vor dem Antragsgegner fürchtete. Vom Vorhaben der Antragstellerin, sich scheiden lassen zu wollen, weiß der Antragsgegner schon längere Zeit.

Zum Sex zwischen den Eheleuten ist es immer wieder deswegen gekommen, weil die Antragstellerin Angst vor dem Antragsgegner hatte. Sie glaubte, in der Folge Ruhe zu haben, wenn sie sich auf seine Forderungen einlässt.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, dass die Antragstellerin ein gerechtfertigtes Interesse am Verbot einer Rückkehr des Antragsgegners habe und ein solches auf Grund seiner Verhaltensweisen auch gerechtfertigt sei.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Antragsgegners Folge und wies den Sicherungsantrag ab. Es vertrat die Rechtsansicht, dass die Wegweisung keine unangemessene Reaktion auf das Verhalten des Antragsgegners sein und daher nicht wegen einer ganz geringfügigen Misshandlung im Zuge einer von der Antragstellerin selbst ausgelösten Auseinandersetzung erlassen werden dürfe. Der Antragsgegner sei erzürnt darüber gewesen, dass er seine Lohnzettel, die die Antragstellerin nach ihrem Vorbringen ihrem Rechtsanwalt zur Berechnung des Unterhalts übergeben hatte, nicht bekommen habe. Die Antragstellerin sei bei diesem Vorfall nur ganz leicht verletzt worden. Im Übrigen sei unbekannt, wann und mit welchem Hintergrund sich die weiteren von der Antragstellerin geschilderten Vorfälle ereignet hätten. Weitere körperliche Angriffe oder Drohungen mit solchen habe die Antragstellerin weder behauptet noch seien solche den erstgerichtlichen Feststellungen zu entnehmen und es sei ohnedies ein vorläufiges Waffenverbot verhängt worden. Die einmalige Misshandlung der Antragstellerin lasse noch kein erhöhtes Gewaltpotential des Antragsgegners erkennen.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei, weil keine Rechtsfrage erheblicher Bedeutung vorgelegen habe, sondern die Umstände des Einzelfalls entscheidend gewesen seien.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Antragstellerin mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Wiederherstellung des erstinstanzlichen Beschlusses. Hilfsweise stellt die Antragstellerin auch einen Aufhebungsantrag.

Der Antragsgegner erstattete eine ihm freigestellte Revisionsrekursbeantwortung mit dem Antrag, dem Revisionsrekurs der Antragstellerin nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und berechtigt, weil das Rekursgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 382b Abs 1 EO betreffend die Ehewohnung nicht mehr vertretbar verneint hat.

1. Nach § 382b Abs 1 EO hat das Gericht einer Person, die einer anderen Person durch einen körperlichen Angriff, eine Drohung mit einem solchen oder ein die psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigendes Verhalten das weitere Zusammenleben unzumutbar macht, auf deren Antrag 1. das Verlassen der Wohnung und deren unmittelbarer Umgebung aufzutragen und 2. die Rückkehr in die Wohnung und deren unmittelbare Umgebung zu verbieten, wenn die Wohnung der Befriedigung des dringenden Wohnbedürfnisses des Antragstellers dient.

2. Dass die Ehewohnung der Befriedigung des dringenden Wohnbedürfnisses der Antragstellerin dient, ist im Revisionsrekursverfahren nicht strittig. Strittig ist nur mehr, ob der Antragsgegner der Antragstellerin das weitere Zusammenleben unzumutbar gemacht hat. Maßgeblich für die Beurteilung der Unzumutbarkeit eines weiteren Zusammenlebens nach § 382b EO sind Ausmaß, Häufigkeit und Intensität der angedrohten oder gar verwirklichten Angriffe und bei (ernst gemeinten oder als solche verstandenen) Drohungen die Wahrscheinlichkeit deren Ausführung. Grundsätzlich entspricht aber jeder körperliche Angriff und jede ernsthafte und substanzielle Drohung mit einem solchen dem Unzumutbarkeitserfordernis. Als Verfügungsgrund reicht daher bereits eine einmalige und ihrer Art nach nicht völlig unbedeutende tätliche Entgleisung, weil das persönliche Recht auf Wahrung der körperlichen Integrität absolut wirkt (7 Ob 150/15g; 7 Ob 233/15p; RIS‑Justiz RS0110446 [T5]). Der Antragsgegner hat die Antragstellerin beim zugrundeliegenden Vorfall tätlich angegriffen und deren körperliche Integrität nicht mehr völlig unbedeutend verletzt (7 Ob 233/15p). Auch die weiteren als bescheinigt angenommenen Verhaltensweisen des Antragsgegners hat das Rekursgericht nicht (ausreichend) berücksichtigt; sie erweisen den Antragsgegner als latent unbeherrscht und aggressiv und lassen – ohne das Rückkehrverbot – auch künftige Aggressionshandlungen befürchten.

3. Da jegliche Gewalt in Ehe und Familie prinzipiell verpönt ist, kann grundsätzlich gewalttätiges Verhalten eines Ehegatten nicht als „Entgleisung“ entschuldigt (vgl RIS‑Justiz RS0118055) oder mit einer Provokation des anderen Ehegatten gerechtfertigt werden. Davon könnte nur dann eine Ausnahme gemacht werden, wenn es sich, etwa im Zusammenhang mit der Verletzung, die der Antragsgegner der Antragstellerin zufügte, um einen bloß singulären Vorfall handelte, der durch eine erhebliche Provokation der Antragstellerin mitverursacht wurde (1 Ob 90/98m; 3 Ob 235/09v EF‑Z 2010/162 [Beck]). Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor, weil von der Antragstellerin keine Provokation ausging und es auch schon früher Aggressionsausbrüche des Antragsgegners gegeben hat.

4.1. Infolge Vorliegens der Voraussetzungen des § 382b Abs 1 EO war in Stattgebung des Revisionsrekurses der Beschluss des Erstgerichts wiederherzustellen.

4.2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 393 Abs 2 EO iVm §§ 41, 50 ZPO.

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